Zappelnervös am Flughafen Berlin-Schönefeld
Wieder einmal kann ich die Nacht vor dem Flug nicht schlafen. Fast vier Wochen ist es jetzt her, dass ich das letzte Mal meinen Fuß auf englischen Boden gesetzt habe. Und diesmal geht es raus aufs Land. Meine Gedanken drehen wilde Kreise und lassen mich kein Auge zu tun. Den Koffer habe ich schon am Vortag gepackt. Ganz entgegen meiner Gewohnheit, denn für gewöhnlich werfe ich meine Sachen am Morgen des Abflugs eilig ins Gepäck und hetze mit leerem Magen völlig entnervt zum Flughafengelände. Doch diesmal lasse ich es ruhiger angehen. Die mir immer wieder aufs Neue eingebläute Launenhaftigkeit des englischen Wetters lässt kaum Spielraum für eine kleidertechnisch pragmatische Auswahl. Also schmeiße ich alles in den Trolley, das mir tragbar erscheint, hänge das gewichtige Ding an meine neu erworbene Kofferwaage und freue mich über 16,5 Kilo. Gegen 4.45 Uhr reicht es mir. Ich warte gar nicht erst das Schrillen des Weckers ab, sondern stehe einfach auf. Nur blöd, dass ich jetzt wieder viel zu viel Luft habe. Also trödele ich herum und schlage die Zeit tot. Dann sitze ich auch schon in der so gut wie leeren S-Bahn Richtung Flughafen Schönefeld. Ich mag diesen Flughafen ungemein, muss ich zugeben. Der nie enden wollende, überdachte Fußweg ist mir inzwischen so vertraut wie eine oft durchfahrene Allee meiner Kindheit. Unausgeruht, aber irre aufgeregt, meinen Trolley im Schlepptau, wackele ich gedankenversunken zum Terminal von Easyjet. Doch die Gepäckaufgabe ist noch geschlossen. Das freundliche Personal lässt mich nicht durch. Also platziere ich mich an die Fensterfront neben eine Gruppe ausreisewilliger Jugendlicher. Mit Blick auf die digitalen Gepäckwaagen fürchte ich plötzlich, dass die Kofferwaage von Media Markt nur unzureichend geeicht worden sein könnte. Mir bricht der Schweiß aus, aber dann fange ich mich wieder und harre seelenruhig der Dinge, die da kommen würden. Und dann stehe ich in der Schlange, die eigentlich keine ist, da vor mir nur ein Passagier wartet. Als ich an der Reihe bin, wuchte ich mit Schwung meinen Koffer seitlings auf das Förderband. Dann wird es spannend. Die Waage schwankt eine Weile hin und her und pendelt sich dann bei ungefähr 22 Kilogramm ein. Ich habe es geahnt! Zwei Kilo zu viel! Doch die Schalterdame lächelt weiter, fordert keine horrende Summe von mir ein, sondern klebt seelenruhig den Beförderungsaufkleber um den Tragegriff und bittet mich zum Sicherheitscheck. Verwirrt, aber glücklich mache ich mich auf den Weg. An diesem Morgen herrscht eine ziemlich ausgelassene Stimmung auf dem gesamten Gelände, wie ich finde. Überall begegnen mir Angestellte mit zuckersüßem Lächeln. Der Mensch vor dem Security-Bereich checkt meine Bordkarte und zwinkert mir zu: „Sie haben aber ein nettes Lächeln.“ Was er scheinbar nicht weiß ist, dass es tausende Arten des Lächelns gibt und meines eher zur Eigenentspannung dient. Ich überlege, welcher Tag heute ist. Gute-Laune-Montag? Sehr merkwürdig. Ich bedanke mich schüchtern und begebe mich geradewegs zum Durchleuchtungskommando. Ich erinnere mich, wie sehr mich dieses Prozedere am Anfang meiner Flugkarriere aus der Bahn geworfen hatte. Immer wieder dieser unangenehm fiese Generalverdacht, die Angst vor verbotenen Dingen im Handgepäck, die schlotternden Knie. Heute nähere ich mich der Geschichte ziemlich lässig, schnappe mir zwei graue Boxen und lasse meine Habseligkeiten hineinplumpsen. Auch diesmal piept es, sobald ich die Schleuse passiere. Ich habe meinen Wohnungsschlüssel in der Hosentasche vergessen. Trotzdem wird alles abgetastet. Das Klappmesser im BH, das Bombenequipment zwischen den Käsemauken versteckt. Na klar, man hat ja nichts Besseres zu tun. Geduldig lasse ich die Grabscherei geschehen. Dann schnappe ich meine Sachen und verschwinde in den Wartebereich.
Ganoven und Sowjets zum Frühstück
Bis zur Öffnung des Gates ist es noch über eine Stunde hin. Also entscheide ich mich für ein maßlos überteuertes Frühstück bei Marché. Mit Milchkaffee und Nougatschnecke bewaffnet verpflanze ich meinen Hintern an einen der kleinen Bistrotische, die mitten im Raum stehen. Von hier aus habe ich die beste Sicht auf die Hereinströmenden. Zwei übel dreinblickende Gestalten haben sich direkt am Tisch unter der Anzeigetafel postiert und schmatzen verwegen an ihrem Frühstück herum. Ab und zu blicke ich hinüber, um zu sehen, ob das Gate schon bekannt gegeben wird. Natürlich denkt das Gangsterpaar jetzt, ich wäre in Flirtlaune. Also setze ich ebenfalls meinen griesgrämigsten Ganovenblick auf und hoffe auf meinen Frieden. Und der wird gewährt. Lange passiert einfach gar nichts und ich nippe an meinen Kaffee bis er kalt und nahezu ungenießbar ist. Ich beobachte die Reisenden um mich herum. Ein Typ an einem der Tische links neben mir ist geschäftlich nach Moskau unterwegs. Scheinbar hat er seinen Kollegen, der ebenfalls auf dem Weg in die russische Metropole ist, wachgeklingelt. Jedenfalls hält er sich für urkomisch und schüttelt noch ein paar Sowjetwitze aus dem Ärmel. Dann hallt plötzlich ein Aufruf durch die Lautsprecheranlagen, der mich schlagartig in Unruhe versetzt: „Passagier Riegel nach Manchester wird gebeten, sich umgehend zum Gepäckschalter zu begeben. Es gibt ein Problem mit den Sicherheitsbestimmungen.“ Unweigerlich muss ich an meinen selbstgebackenen Kuchen denken, den ich in acht Lagen Alupapier gehüllt tief zwischen T-Shirts, Schuhen und Shorts vergraben habe. Mit viel Phantasie ließen sich darin sicher ein paar nette Rauschmittel vermuten, denke ich. Gut, wäre noch der Name. Riegel. Na ja, aus meinem Nachnamen wurden schon immer die schärfsten Fehlschlüsse gezogen. Würde mich nicht wundern, wenn die Sicherheitsbeamten einfach mal stille Post gespielt und so aus Röfke durch verschiedene Funkgeräte genuschelt am Ende Riegel würde. Unwahrscheinlich war das nicht. Ich schaue mich verdutzt im Raum um. Doch niemand springt auf und hastet davon. Also bewege ich mich auch nicht. Und als ich die nächste halbe Stunde nichts mehr vernehme, bin ich beruhigt. Schließlich leuchtet das Gate auf dem Bildschirm auf. Die Ganoven schmatzen an ihrem Kuchen herum und fühlen sich scheinbar nicht weiter belästigt. Also schnappe ich meine sieben Sachen und rausche davon.
Bording Time oder Vom Los der Priority Class
Am Schalter angelangt, stehe ich am Ende einer Riesenschlange. Ich kettele mich an und warte geduldig. Vor mir starrt ein komödiantisch anmutender Engländer in pinkem Poloshirt verzückt auf sein ebenfalls pinkfarbenes Smartphone. Schließlich sitze ich umzingelt von britischen Männern mittleren Alters in der Wartehalle und lausche ihren lautstarken Geschichten aus der deutschen Hauptstadt. Sie klingen derart begeistert, dass ich mich frage, ob die Jungs eigentlich bei klarem Verstand sind oder die Nacht durchgezecht und demzufolge unzurechnungsfähig sind. Eigentlich weiß man bei englischen Touristengruppen nie: Sind die sturzbetrunken oder brüllen die immer so. Oftmals trifft beides zu. Hinter dem Absperrband warten die Priority Menschen auf ihre bevorzugte Abfertigung. Sie sitzen etwas peinlich berührt auf denselben unbequemen Plastikschemeln, wie der Rest der Veranstaltung. Auch serviert ihnen niemand einen Willkommensdrink. Was gewinnt man eigentlich, wenn man 4 Sekunden schneller im Flieger sitzt, frage ich mich, habe aber wenig Ahnung von den Bedürfnissen der Premiumkunden und kümmere mich nicht weiter darum. Dann öffnen sich die Glastüren und ich betrete gemeinsam mit dem Fußvolk das Rollfeld.
Sachsen im Flieger
Es ist immer wieder ein besonderer Moment, dieses Betreten des Flugzeugs, denn in genau diesem Moment legt man die Verantwortung für sein eigenes Leben in die Hände eines Piloten, den man für gewöhnlich nie zu Gesicht bekommt. Ein Wildfremder also. Natürlich hofft man in einem Restaurant auch nicht auf eine Vergiftung, aber das hier ist im Grunde ziemlich abgefahren. Obwohl ich jetzt schon öfter geflogen bin, empfinde ich immer noch Ehrfurcht vor dieser technischen Glanzleistung. Ich weigere mich, einen Flug durch den Himmel als etwas Selbstverständliches zu sehen, nur weil ich das Ticket mit Geld bezahlt habe. Nein, ein Flugzeug ist und bleibt ein wundersames, schier unglaublich raffiniertes Ding für mich. Trotz Zufallsauswahl habe ich einen Fensterplatz ergattert. Doch diesmal sitze ich auf der falschen Seite und werde die Pennines nicht sehen können. Dafür habe ich in der Reihe vor mir seltsame Reisebegleiter, die ich beobachten kann. Es ist ein stark sächselndes Pärchen um die fünfzig, verkleidet als punkig-gruftige Mancunians. Er stößt mit seinem Kopf fast an die Flugzeugdecke und sieht mit seinem weißblonden Stachelbeerenlook aus wie eine weniger ledrige Kopie von Billy Idol. Er trägt ein ärmelloses Hartrocker-Muskelshirt, dazu einen mit Nieten gespickten Gürtel und mit Sicherheit eine dunkle Lederhose (soweit habe ich keinen Einblick). Ich vermute, dass er die Klamotten kurzfristig seinem Sohn abgekauft hat, um in Manchester nicht als Tourist geoutet zu werden. Allerdings wird ihm sein Dialekt ordentlich die Show vermiesen, denke ich. Seine wenig trainierten Arme zieren klassische Tattoomotive und zahlreiche Warzen. Seine Begleiterin trägt ihre pechschwarzen Haare kleopatramäßig Kante auf Kante geschnitten.
Sonnige Landung in Manchester
Wie auch immer, circa anderthalb Stunden später setzen wir sanft auf englischem Asphalt auf. Wieder begrüßt mich Manchester mit strahlendem Sonnenschein. Langsam vermisse ich den englischen Regen wirklich, will aber nichts heraufbeschwören. Wenig später weiß ich, warum Sonnenschein im Moment gar nicht so übel ist. Und wieder rausche ich durch die langen Korridore bis ich zum blauen Absperrband gelange. Doch diesmal fehlt der grimmige Sicherheitsbeamte. Flachsig herumstehendes Personal wird eben auch in England irgendwann zu teuer. Nachdem ich den Passbildcheck vorbildlich überstanden habe, wuchte ich mein Köfferchen galant vom Rollband. Den schwarzen Trolley hinter mir herschleifend begebe ich mich in die Empfangshalle. Da ich zunächst kein mir bekanntes Gesicht erblicken kann, folge ich der Pragmatik des Augenblicks und tausche schnell noch meine Ersparnisse in die Landeswährung um. Der strahlende Inder hinter der Glasscheibe erläutert mir minutenlang ein besonderes Angebot. Ich lächle freundlich zurück, verstehe jedoch nur Bahnhof. Schließlich zählt er mir die Geldscheine in Zeitlupe aus. Immer wenn ich Euros in Pfund tausche habe ich den Eindruck, als werde ich mitleidig betrachtet. Ist ja auch umständlich und ganz by the way auch noch mit Verlusten verbunden, die kein Normalsterblicher überblicken kann. Während der weißzahnige Geldwechsler einen Schein nach dem anderen durch den Spalt stopft, blicke ich mich um. Und siehe da! Mein Engländer wartet ganz brav in meiner Nähe, den Blick stur auf die Ankunftstür gerichtet, hinter der er mich vermutet. Ich erschrecke ihn sanft von hinten und wir schlendern glücklich zum Car Park.
Vom Winde zerzaust
In der vorletzten Reihe steht, allein auf weiter Flur ein ultra cooles Cabriolet. Das wäre auch nicht schlecht denke ich mir und werde plötzlich schelmisch von der Seite angegrinst. „Here it is“, gluckst mein Engländer und deutet auf das schnieke, tiefergelegte Gefährt. Ich vermute einen Witz, lache höflich und gehe weiter. Dann holt mein Witzbold den Autoschlüssel raus und schließt tatsächlich den Wagen auf. Ich bin geplättet. Noch nie zuvor bin ich Cabrio gefahren. Wir stopfen meinen Koffer in den Kofferraum, der durch das abnehmbare Dach schon halb blockiert ist. Doch ein bisschen Rütteln da, und ein bisschen Schunkeln dort und alles passt hinein. Dann lasse ich mich auf meinen Sitz sinken und ich sinke wirklich, und zwar metertief. Jetzt kann ich kaum noch über die Motorhaube gucken und hoffe, meinem Engländer geht es nicht genauso.
Unterwegs zum Lake District
Dann taucht wie aus dem Nichts und von überallher eine smaragdgrün schimmernde Berglandschaft auf, die mir schlichtweg den Atem raubt: Die Grafschaft Cumbria im äußersten Nordwesten Englands. Die einst von keltischen Stämmen besiedelten Gebiete ziehen mich schlagartig in ihren Bann. Mit offenem Mund sauge ich alles in mich auf, was mein Auge nur erhaschen kann. Dann erfahre ich Überraschendes: Wir sind auf dem Weg zum Lake District, dem größten zusammenhängenden Seengebiet Englands und eines der beliebtesten Ferienregionen des Landes. Vom Wind kräftig durchgepustet und etwas fröstelnd, aber sonnigen Gemüts erreichen wir das kleine Örtchen Bowness on Windermere, dem größten natürlichen See Englands.
Bowness on Windermere
Als ich die kleinen Puppenhäuschen und die winzigen Gassen erblicke, bin ich hin und weg.
Ähnlich wie die Yorkshire Dales mit dem knuffigen Yorkshire Schaf hat auch der Lake District ein tierisches Maskottchen: das rothaarige europäische Eichhörnchen. Vom gemeinen Grauhörnchen weitgehend verdrängt, findet sich sein Antlitz auf zahlreichen Postkarten und Rettungsplakaten. Der Lake District bietet dem possierlichen Tierchen eines der letzten Refugien.
Unser lauschiges Hotel befindet sich mitten im Zentrum von Bowness, doch nach langer Odyssee finden wir einen Parkplatz weit außerhalb. Der Parkscheinautomat treibt uns zur Verzweiflung. Wegen eines defekten Telefonmasten akzeptiert er keine Kartenzahlung, aber wir haben eben nicht genug Münzen dabei. Doch in unseren modernen Zeiten genügt ein Anruf und das Parkticket kann bequem per Telefon bezahlt werden. Ich halte Zettel und Stift bereit, um den Ticketcode zu notieren, während mein Engländer die Geschäfte regelt. Doch ich verstehe plötzlich kein Wort, meine Sprachkenntnisse versacken im Nirgendwo und ich komme mir wieder wie ein unbeholfener Ausländer vor. Also halte ich schließlich das Telefon, während mein geduldiger Freund selbst notiert. Dann holen wir die Sachen aus dem Auto.
Im Stags Head
Die Rezeption ist gleichbedeutend mit dem Pubtresen. Das Interieur wirkt etwas altbacken und der dunkelrote, braun gemusterte Teppich versprüht einen antik-schmuddeligen Charme. Nachdem uns der Rezeptionist in die Gepflogenheiten eingewiesen und die Schlüssel übergeben hat, winden wir uns samt Gepäck durch die engen Türen, die schmalen Treppen hinauf. Mein Koffer ist unglaublich wuchtig, aber ich lasse mir keine Schwäche anmerken. Als emanzipierte Frauen müssen wir eben auch unser Gepäck selber tragen. Dann erreichen wir die Bowness-Suite. Als sich die Tür öffnet erinnert hier nichts mehr an den abgenutzten Charme der unteren Etage. Die Suite ist luxuriös und geschmackvoll eingerichtet. An der einen Seite des Zimmers prangt ein herrliches Himmelbett. Sofort fühle ich mich ins Schlafzimmer der Tudors versetzt und fühle mich wie eine Königsmätresse.
Ein Tag auf dem Windermere
Doch die eigentliche Attraktion liegt außerhalb des Hotels. Der See Windermere.
Die Philosophen von Windermere
Obwohl das Städtchen Windermere den gleichnamigen See nicht direkt berührt, trägt es, gleichsam verwachsen mit Bowness, den Namen doch irgendwie zu Recht. Mit seinen etwas mehr als 8000 Einwohnern ist es ein beschauliches Örtchen, das einen umwerfenden Charme versprüht, dem man sich schwer entziehen kann.
Am Quell des Lebens in Ullswater
Auf unserer Entdeckungstour durch die Lakes, wie der Engländer das Gebiet liebevoll nennt, halten wir an einem der wohl beeindruckendsten Gewässer des Distrikts. Ullswater ist nach Windermere der zweitgrößte See der Region und gehört landschaftlich zu den schönsten und sehenswertesten Attraktionen, die wir aufgesucht haben. Wir parken in einer schmalen Seitennische am Straßenrand und wandern einen gewundenen Waldweg entlang, der einen Abhang hinunter zu einem steinigen kleinen Ufer führt.