"Lady Bird" [USA 2017]

Erstellt am 27. April 2018 von Timo K.

Man kann erahnen, warum sich Christine McPherson (Saoirse Ronan) besserwisserisch Lady Bird nennt und Lady Bird genannt werden will. Sie ist ein schriller, frecher, exotischer Vogel, der unerlaubte Einfluggebiete passiert und an der Vernunft atmosphärischer Störungen abzustürzen droht. Den Repressalien adoleszenter Befühlung und Befüllung, den Fesselungen und Befreiungen des mündig werdenden Teenagers in einer rebellischen Endlosschleife – ihnen ist "Lady Bird" gewidmet. Hätte sich Lady Bird nicht ein Hörbuch eines Romans von John Steinbeck angehört, käme man wohl von selbst auf die Idee, Greta Gerwig schlüpfe in die Rolle eines Steinbeck-Aficionados. Sie demontiert das Lachen in ein Weinen und transformiert das Weinen in ein Lachen, während das Auto über ein verschlungen ahistorisches Land schaukelt, das – und mit ihm seine Bewohner wie Lady Bird – seine Beschaffenheit, sein Wesen, sein Sein erst erforscht, ehe der Zyklus von vorn beginnt. 
Dieses Land ist wunderlich und wunderschön zugleich. Lady Bird geht auf eine katholische Schule, deren ritualisierter Tagesablauf streng nach (gläubiger) Vorschrift getaktet wirkt. Zwischen Kierkegaard und Kitsch versucht Lady Bird, ihr Quäntchen Erlösung hedonistisch einzufordern – Glück womöglich, ein Überspringen einzwängender Forderungen, überhaupt einen Sprung zu wagen, einen Sprung ins ethische Stadium, sich in einer reflektierten, verantwortungsbewussten Beziehung zur Welt zu setzen. Phasenweise gelingt ihr dies, wenn Gerwig Religion ironisch trivialisiert und die Hostien als knuspriger Snack aus einer Plastikdose herhalten. Des Films Humor macht aber definitiv Halt vor dem Unerträglichkeitsmaß: Nahe Andrea Arnold, Alexander Payne und Richard Linklater, rauscht "Lady Bird" (wie Lady Bird) am Ungefähren des Bildrandes vorbei, bezaubert in der Andeutung impulsiven, überkandidelten Gefühls, das sich dennoch rückverwandelt in Zuneigung und Gefälligkeit. 
Auch wenn Lady Bird der Unterschicht oder eher einer wegbrechenden Mittelschicht zuzuordnen ist, verliert sich der Film nicht in Armutspornografie. Lady Birds Weggefährten, Dispute und Macken verströmen eine Duftnote erster Erfahrungen – mit der Liebe etwa, mehr noch: der sozialen Realität, wenn ihr Vater (Tracy Letts) überraschend seine Arbeit verliert (und fortan die Zeit findet, Solitaire zu spielen). Ohne derartige lakonische Einsprengsel dafür zu missbrauchen, weniger gut situierte Menschen zu entwürdigen, meint es Greta Gerwig gut mit ihnen, insbesondere mit uns: Einen fanatischeren Theaterregisseur, ehemals Football-Trainer (Bob Stephenson), ist, selbst auf einer Aufstellungstafel, kaum ausmalbar. Demgemäß treffen die humanistischen Lebensverknotungen direkt unsere Anteilnahme – Stephen Henderson verkörpert einen (weiteren) Theaterregisseur, der ein Spiel spielen will. Wer zuerst weint, gewinne. Er ist es, der zuerst weint. Ein in sich ruhender Felsbrocken, Buddha und Schmerzensfänger, wird einfach hinfort getragen. 
Was "Lady Bird" im Innersten auszeichnet, ähnelt einem Ausbruchsversuch, den Lady Bird tagtäglich provoziert und praktiziert. Ihr Streben befeuchtet einen Traum: den Traum vom besseren Leben. Beginnend bei zwei Handtüchern, die sie nach dem Duschen benutzt, über New Yorker Universitäten, bei denen sie sich einschreiben möchte, bis hin zu einer Klassenkameradin (Beanie Feldstein), dem Liebling der Klasse, bei der sie sich einschleimt, ist Lady Birds Traum nah, aber weich wie Wachs. Gerwig fragt dabei nach der Konstitution von Heimat, Flucht und Erwachen, im Engen dem Weiten nachzutrauern, aber dadurch zu vergessen, was man hat und durch wen man es fand. In einer kurzen, exemplarischen Szene erfreuen sich Lady Bird und ihre Mutter (Laurie Metcalf) am Besichtigen üppig ausgestatteter Traumhäuser, an deren Küchen, Zimmern, nahen Orten und fernen Nichtorten. Mit dem Überstreichen infantiler Tapete entledigt sich Lady Bird alsbald solchen Träumereien – sie übernimmt Verantwortung und fliegt überlegt, vorsichtig in die Fremde.
7 | 10