Der folgende Artikel ist ursprünglich bei Hard Sensations erschienen
Die Welt ist ein Zimmer, in das wir durch Geburt und Umstände gesperrt werden. (Man kann versuchen auszubrechen, aber dann landet man doch nur wieder in einem anderen Raum eines schier endlosen Wohnkomplexes.)
Hände, die wir nicht kennen, zerren uns in ein Zimmer hinein, ein kleiner schreiender Blutlappen, der bereits schon einen Namen hat, und dies, obwohl er noch nicht einmal weiß, was Buchstaben sind. (Aber jedes Ding und jeder Mensch muss zu einem Begriff werden, damit man ihn einsortieren, ablegen und archivieren, wiederfinden, zuordnen, abstempeln kann.)
Wir wachsen, stehen starr wie Pflanzen in unseren Blumentöpfen, wir werden gegossen, gehegt und gepflegt. Manche verkümmern, vergessen in der besonders dunklen Ecke eines Kellers.
Wir können vielleicht durch die Fenster sehen, können eine andere Welt ahnen und nachahmen, aber Gefangene, auch wenn die Tapeten bunt und die Türgriffe golden schimmern, auch wenn wir uns für wunderschöne Zimmerpflanzen halten, sind (und bleiben) wir alle bis zu dem Tag, an dem das Mietverhältnis plötzlich nur noch ein Kündigungsschreiben ist.
Drei Männer, gefangen im “Zimmer” des Nordens von Italien, das sie nicht bezahlen können, weil die Mieten, um an diesem Leben teilzuhaben, zu hoch sind, entführen ein Mädchen. Man bringt sie in ein Bauernhaus, verschleppt sie in ein weiteres dieser an Zimmern so reichen Welt, dieses aber versinkt düster wie in den Gemälden der alten Meister, die man sich mit zusammengekniffenen Augen in einem Museum betrachtet, stets auf der Suche nach den kleinen unscheinbaren Handbewegungen dieser fernen toten Menschen, die im Nichts zu verschwinden drohen.
Dort wacht Michele über Alice, er wacht über sich und die Zeit, die wie in den alten Gemälden gefroren scheint.
Michele ist es, der, obwohl zum Wärter erklärt, seine Gefangenschaft in dieser Bauernzelle auszuschwitzen hat, die eben jenes Leben verkörpert, sein Zimmerleben, dem er nicht entkommen kann.
Alice wird zu seiner Leinwand, seiner Projektionsfläche, seinem Traumgebiet, seinem Land, in das er sich zu flüchten hofft. Sie wird zu seiner Wohnstatt der Lügen und des Selbstbetrugs. (Und kennen wir nicht alle diese Unterschlüpfe?)
Wenn seine Hände die betäubte Alice erkunden, dann sehe ich keine Vergewaltigung, keinen Missbrauch, sondern einzig die Wanderschaft von Fingernomaden durch die Dünen einer Körperwüste, die auf der Suche nach einer Oase sind, einem Ort der Hoffnung und der Schönheit, bis sie schließlich zwischen Alices Schenkeln inmitten einer Pracht aus sprießendem Schamhaarpalmen für einen kleinen Augenblick jene Rast (und jene Schatten) finden, die, man ahnt es, weil es keine Erlösung geben kann in dieser griechischen Italientragödie, nur eine Fata Morgana sein wird.
Es gibt aus dieser schwammfleckigen Hölle kein Entkommen, weil das für Michele hieße, seinem Körper zu entkommen. Er selbst ist dieses Bauernzimmer, in dem er verloren und verlassen von aller Welt hockt und darauf wartet, was kommen wird, kommen muss, nicht kommt.
Seine Komplizen werden einer nach dem anderen verhaftet, werden Opfer ihrer Zimmerfluchten, die mal in eine desaströse Beziehung hineinreichen, mal in Machenschaften, die so groß sind, dass sie sich dem Blick entziehen.
Ein Ganove schmuggelt Marlboro, die Alice wie nebenbei besitzt und Michele anbietet. Sie alle wohnen in ein und derselben Mietskaserne, und doch leben sie in verschiedenen Etagen, in verschieden gut oder schlecht eingerichteten Wohnungen. Unterwegs im Treppenhaus kann es passieren, dass sich die Blicke streifen, es kann zu einem Gruß kommen, einer unachtsamen Berührung, einer rasch (zu rasch?) zurückgezogenen Hand.
Michele muss sich in seinem Zimmer verlieren, muss sich verlaufen, weil es dort zu dunkel ist. Die Welt findet keinen Platz darin. Er hört sie, und wenn er die Tür öffnet, eine kleine Tür, als wäre die Welt aus dem Gleichgewicht geraten und man bei Alice im Wunderland gelandet, dann ist dem auch so, nur dass es hier die Realität ist, in die man durch ein Loch stürzt, tief und tiefer, darin Einsamkeit und Nöte der eigenen Existenz ein böses Spiel ausfechten.
Alice ist die Entführte, aber Michele ist der Gefangene, der weder sich noch seinen Gefühlen entkommen kann. Das Kammerspiel, das hier gezeigt wird, ist nicht nur ein Kammerspiel, sondern auch ein Zimmerspiel, ein Wohnungsspiel, ein Lebensspiel, ein Körperspiel, ein Spiel unter Einsatz der eigenen Hoffnungen und Träume. Die Kammer, das Zimmer, sie zeigen nur das, was ist. Sie zeigen uns!
Trauriger kann ein Film nicht sein. Alles endet in einem Zimmer. Das ist das Leben.
Und während ich dies schreibe, spüre ich die Wände, die mich umgeben.
Denn das ist das Leben, in dem wir wohnen. Wir sollten uns an Sisyphos erinnern und an Camus. Vielleicht kommt es gar nicht auf das Zimmer an, sondern darauf, wie wir die Zeit umbringen, während wir auf den Rauswurf warten.
Bis es soweit ist, werde ich hier sitzen und die Wände anmalen.
Italien 1976, Regie: Eriprando Visconti