Einerseits ist er ein kranker alter Mann. Andererseits aber ein ekelhafter, von sich selbst eingenommener Rechthaber. Und ein schlechter Verlierer obendrein. Ich rede natürlich von Ralph „Der Grand Prix bin ich“ Siegel. Die unglaubliche Ahnung, die dieses Musikfossil vom Pop-Geschäft des 21. Jahrhunderts hat, kulminiert an diesem Wochenende im Sieg der deutschen Lena Meyer-Landrut beim Eurovision Song Contest. Siegel in einem Interview: „Süßes Mädchen, das den Ton nicht trifft. Keine Chance im Vergleich mit den besten Künstlern anderer Länder. Vielleicht wählen ein paar Facebook-Kids sie. Gutschi. Gutschi. Guck, was ich für ein Riesenmikrophon in der Hose habe!“
Für den, für ihn völlig unwahrscheinlichen Fall, dass Lena doch gewinnen sollte, sicherte er sich natürlich gleich ab, indem er das Lied „Satellite“ eine amerikanisch-dänische Koproduktion nannte und er folglich der einzige deutsche Grand Prix Sieger bleiben würde. Ja, ne. Is klar.
Ähm … Moment. Skeltem schreibt über den Eurovisions-Spießer-Contest (ESC)? Ja. Und mit Recht! Nicht nur kann ich so diesem ekligen Macho einen reinwürgen. Ich befinde mich auch in der Konsens-Zone. Lena regiert. Wir sind Europa. Die Kanzlerin sendet Grüße! Die Miszellen können da nicht zurückstehen. Kann mir jemand sagen, wie das Lied ist?
Am Samstag beschlossen Lapis und ich spontan, es 15 Millionen Deutschen gleich zu tun und uns den ESC anzugucken. Als links-grüne intellektuelle Akademiker hatten wir natürlich einen gebührenden Vorrat von Ironie, Popcorn und flapsigen Bemerkungen. Das war allerdings auch nötig. Die „Weltmeisterschaft der Musik“ (Siegel) brachte so hervorragende Mannschaften wie Aserbaidschan, Armenien und Großbritannien auf die Bühne. Großbritannien? Stimmt, das ist unfair. Aserbaidschan und Armenien hatten wenigstens annehmbare Interpreten nach Oslo geschickt. Den englischen Beitrag nannte die SZ „an der Grenze der Menschenquälerei“.
Ich habe natürlich den großen Vorteil, dass ich mir die Musik (z.B. „Allez, Allez, Olle, olle“ aus Frankreich) nicht antun musste. Dafür durfte ich dank Videotext-Tafel 150 alle Texte lesen. Aua. Leider sangen von 25 Teilnehmern 22 in Sprachen, die ich verstehe. Deswegen hätte ich zum Beispiel meine Stimme sofort den Griechen gegeben, die erstens eine annehmbare Show ablieferten und zweitens auf griechisch sangen.
Als ich den Text des Siegerliedes las, fühlte ich mich aber schon ein bisschen verschaukelt. „Love, love, oooh, ohh“. Na ja. Der Vortrag von Lena Meyer-Landrut war auch irgendwie, umm, staksig. Keine Frage, das Mädchen hat Charisma. Aber für einen Moment hatte ich Zweifel, ob der Schlager-Dinosaurier nicht doch Recht hatte. Da waren wirklich Sängerinnen und Sänger, die es besser konnten. Lapis bestätigte dann aber, dass „Satellite“ wohl wirklich das beste Lied war. Und Bekannte aus anderen europäischen Ländern zeigten sich auf Nachfrage auch angetan.
Dazu kommt wohl auch, dass Lena sich wohltuend aus dem Einheitsbrei von Windmaschinen, Pyro-Effekten und 08/15 Pseudo-Breakdancern abhob. Süß, hübsch, natürlich, selbstbewusst, feminin. Wenn ich eine Tochter hätte, wollte ich, dass sie so ist, wie Lena Meyer-Landrut. Schwarzer Nagellack inklusive.
Bei der Bewertung, die durch die neuen Regeln zum Glück nicht mehr in eine Gähn-Orgie ausartet, ertappte ich mich dabei, wie ich plötzlich ganz unironisch „yeah“ rief, als es hieß: „Germany: twelve points. L’Allemagne: douze points.“
Was nervig war: Peter Urban, der das Spektakel seit der Entstehung der Erde kommentiert, war schon immer grottig. Aber an diesem Samstag hatte ich das Gefühl, dass er nochmal eins draufgelegt hat. Vor allem seine völlig überflüssigen Bemerkungen zu dem Abstimmungsverhalten der anderen Länder ließen die tief sitzende Verbitterung der Grand Prix-Veteranen über die „osteuropäischen Seilschaften“ durchblicken. Und dann die omnipräsenten deutschen Farben, als Lena gewonnen hat. Da bin ich vielleicht einfach noch zu sehr aus einer Generation, die bei jedem Funken Nationalstolz gleich Nazis riecht.
Auf jeden Fall hat dieser Samstag allen Ralph Siegels und Anhängern der anti-deutschen Musik-Verschwörungstheorie ins Gesicht gepfeffert: Wenn man mit guter Musik statt der immer gleichen Scheiße antritt klappt’s auch mit dem Grand Prix. Danke, Lena.