Nach dem Misserfolg seiner beiden letzten Romane befindet sich der Autor Torsten Klett wieder am Ausgangspunkt: Der kleinen Stadt, aus der er einst floh, um seine schwierige Kindheit und Jugend zu vergessen. Dort nimmt sein Schicksal eine Wende …
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Torsten Klett starrte auf den Bildschirm seines Computers. Sollte seine Zeit als Erfolgsautor vorbei sein? Seit er hier war, hatte er keine brauchbare Zeile geschrieben, und seine beiden letzten Abenteuerromane hatten sich schlecht verkauft. Etwas Geld blieb ihm noch, aber seine schöne Wohnung in München hatte er nicht halten können. Mit 34 Jahren war er in seiner kleinen Geburtstadt zurück, der er für immer den Rücken hatte kehren wollen. Er seufzte und beschloss, spazieren zu gehen …
Auf der Strasse drehten sich die Frauen nach dem gutaussehenden Mann um. Vor ihm trat eine kleine, zierliche Person aus dem Sportgeschäft. Sie sahen sich an – und erkannten sich fast gleichzeitig.
“Caro, wir geht es dir?” begrüsste er seine ehemalige Schulkamaradin.
Ein Grübchen erschien in ihrer linken Wange, als sie lächelte: “Danke gut, Torsten. Ich hab schon gehört, dass du zurückgekommen bist. Es heisst, dass du ein neues Buch schreibst?” Ihre braunen Augen leuchteten warm.
“Ich täte es, wenn ich nicht gerade eine totale Schreibblockade hätte.”
“Oh, das tut mir aber leid.”
“Hast du Lust auf eine Tasse Kaffee?” fragte er spontan.
Im Café erzählte er in komischem Ton von seinen letzten Misserfolgen. Schliesslich hob er fatalistisch die Schultern: “Alles, was mir bleibt, ist das kleine Haus, das ich von meiner Mutter geerbt habe.”
“Und das du ihr geschenkt hast”, meinte Caro warm.
“Ich begreife nicht, dass sie an einem Ort bleiben wollte, in dem alle mit dem Finger auf sie zeigten. Ich hätte sie so gern nach München geholt.”
“Wie kommst du darauf, dass alle mit dem Finger auf sie zeigten? Deine Mutter war grossartig!”
“Ja, aber sie hatte einen unehelichen Sohn. Mich.”
“Von einem Mann, den sie geliebt hat!”
“Und der noch vor meiner Geburt nach Amerika entschwunden ist. Keiner hat je wieder etwas von ihm gehört. Es war schwer für meine Mutter, uns beide durchzubringen.”
“Du weisst nichts vom Schicksal deines Vaters”, meinte sie versöhnlich. Nachdenklich fügte sie hinzu: “Ich gebe zu, dass du es nicht leicht hattest in der Schule. Kinder können grausam sein. Trotzdem hättest du dich nicht dauernd zu prügeln brauchen.”
“Ich ertrug es nicht, dass sie Bemerkungen über meine Mutter machten, selbst wenn sie nur das wiederholten, was sie von ihren Eltern gehört hatten.”
“Aber du warst grösser und stärker als sie!”
“Stärker, das bin ich geworden. Als ich erstmal Boxunterricht genommen hatte. Nur gingen sie dann zu zweit oder dritt auf mich los”, flachste er.
“Es tut mir leid, dass du den Eindruck hattest, dass niemand dich mochte. Es gab Jungs, die gern deine Freunde gewesen wären, zum Beispiel Norbert und Lothar.”
“Was ist aus ihnen geworden?”
“Lothar arbeitet im Gasthaus seiner Eltern, und Norbert unterrichtet Mathematik und Physik am hiesigen Gymnasium.”
“Und du?”
“Ich unterrichte Deutsch und Biologie.” Sie sah ihn prüfend an: “Mach’ dir keine Sorgen, ich bin sicher, dass du eines Tages wieder schreiben kannst.”
Er grinste sie an: “Was muss ich dafür tun?”
“Du hast schon damit angefangen. Zu dir selbst finden, entdecken, wer du wirklich bist, dich mit deiner Vergangenheit auseinandersetzen. Ich bin überzeugt, dass viel mehr in dir steckt, als aus deinen bisherigen Büchern ersichtlich war.”
“Danke, Frau Lehrerin.”
“Gern geschehen”, sie lachte nun ebenfalls. Dann fragte sie ihn, ob er Lust hätte, am nächsten Tag mit ihr den Waldberg zu besteigen, die höchste Erhebung der Gegend. Er sagte sofort zu, unter der Bedingung, dass sie ihn für das Picknick sorgen liess.
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Nun waren sie schon seit fast drei Stunden unterwegs, und Torsten fiel ein, dass er nicht einmal wusste, ob es einen Mann in ihrem Leben gab.
“Nein”, antwortete sie knapp auf seine Frage.
“War Norbert nicht verliebt in dich?”
“Er hat eine andere geheiratet.”
“Und wie kam das?”
“Also gut, er hat mir einen Heiratsantrag gemacht, aber ich konnte ihn nicht annehmen.”
“Und warum nicht?” Er liess nicht locker.
Zu seiner Verwunderung errötete sie: “Weil ich ihn nicht liebte, und, glaub’ mir, es hat mir leid getan. Seine Frau ist aber sehr nett, wir sind alle drei gut befreundet, und ich bin die Patin ihrer süssen kleinen Tochter.”
Sie hatten die letzten fünfzig Meter erklommen und liessen nun ihre Rucksäcke zu Boden gleiten. Tief unten schlängelte sich gleissend der Fluss durch ein buntes Mosaik von Wiesen und Feldern. Wie rote Tupfer lagen die kleinen Dörfer der Umgebung in der Miniaturlandschaft.
“Sag, Caro, erinnerst du dich an den Klassenausflug, den wir einmal hierher gemacht haben?”
Sie hatte sich auf einen Stein sinken lassen und zog ächzend ihren linken Schuh und dann die Socke aus: “Natürlich! Verdammt, ich habe diese Schuhe gestern neu gekauft und wie ein blutiger Anfänger schon heute getragen. Jetzt hab ich eine Blase.”
“Lass sehen.” Er kniete nieder und nahm ihren Fuss in die Hand. Plötzlich sah er ein anderes Bild vor sich. Es war auf jenem Klassenausflug gewesen. Während des Aufstiegs hatten zwei Jungen und er einen kurzen, aber heftigen Kampf ausgetragen. Torsten hatte einen schmerzhaften Tritt gegen das Knie erhalten, war aber mit stoischem Gesicht weitermarschiert. Caro war die ganze Zeit an seiner Seite geblieben. Und hatte geschimpft wie ein Rohrspatz, wie blöd er war, sich dauernd zu raufen.
Vorsichtig klebte er jetzt ein Pflaster auf die wunde Stelle und streifte behutsam die Socke wieder darüber. “Zieh den Schuh gleich wieder an, sonst passt du nicht mehr ‘rein.”
“Weiss ich, du Schlaumeier.” Carola verzog schmerzlich ihr Gesicht, als sie in den Schuh schlüpfte, dann trat sie versuchsweise auf: “Ah, es geht schon viel besser”, seufzte sie erleichtert.
Torsten zauberte ein weisses Tischtuch aus seinem Rucksack und breitete es auf dem Boden aus. Edle Bestecke, Servietten, Porzellanteller und zwei geschliffene Gläser folgten. Dann erschienen Brot, Butter, Schinken und Käse, Obst und eine Flasche Wein. Als alles fertig war, reichte er Carola die Hand: “Fertig. Wir können essen!”
Gerührt sagte sie: “Das hast du alles mitgeschleppt? Welch ein Luxus!”
“Wie damals, als ich das schlimme Knie hatte und du deine Tafel Schokolade mit mir teiltest.” Auf einmal überflutete ihn ein tiefes Gefühl der Zärtlichkeit und Liebe zu Carola. Nie hatte er etwas auch nur annähernd Vergleichbares bei seinen zahlreichen Eroberungen empfunden. Seine Stimme war rauh, als er bat: “Caro, würdest du mich bitte mal ansehen?”
Ihre Augen wirkten im Sonnenlicht wie pures Gold. Ernst fragte er: “Warum hast du die Schokolade mit mir geteilt? Nie hat damals irgend jemand von euch etwas mit mir geteilt.”
Ihr Grübchen erschien wieder: “Die anderen trauten sich nicht, weil du immer so finster aussahst.”
“Und warum trautest du dich?”
“Ich war eben mutiger. Und jetzt hör auf, dumme Fragen zu stellen.”
In genau diesem Moment wusste er, dass seine Schreibblockade zu Ende war. Und er wusste, dass es in seinem neuen Roman um Liebe gehen würde. Um tiefe, wahrhaftige Liebe. Vor Erleichterung und Freude lachte er auf. Dann wurde er wieder ernst: “Carola, ich liebe dich. Gib mir eine Chance. Gib mir ein Jahr, damit ich mein neues Buch schreibe.”
“Nein”, sagte sie.
Er empfand einen Schmerz, der um vieles weher tat als alle Beulen und Schrammen, die er sich bei seinen Raufereien geholt hatte: “Du … du willst mich nicht?”
Endlich lächelte sie: “Natürlich will ich dich, du Idiot, ich wollte dich immer. Aber ich will nicht noch ein Jahr warten müssen.” Als er immer noch wie erstarrt da stand, drohte sie: “Ich werde nie wieder eine Tafel Schokolade mit dir teilen, wenn du mich nicht endlich küsst!”
Er lachte und richtete sich zu seiner vollen Grösse auf. Dann hob er Carola hoch, wirbelte sie herum und küsste sie, bis ihnen beiden vor Glück der Atem fortblieb …
ENDE