Die Kurzgeschichte des Monats kommt diesmal im Doppelpack. Autorin ist Anette Butzmann.
»Kaufst du mir Zuckerwatte?«
Es war die Stimme eines Mädchens. Hätte er die Augen geschlossen, wäre er aufein Alter zwischen zwölf und siebzehn gekommen. Doch ihr Gesicht, mit denbeginnenden Fältchen um den Mund, erzählte eine andere Geschichte. Ihm fielenihre schönen Zähne auf. Ebenmäßig, fast weiß. Keine Raucherin, dachte er.
»Hallo«, sagte er, starrte sie an. Er hätte gerne mehr von ihren Augen gesehen,doch die blieben weiterhin vom Schatten der Markise bedeckt. Dann besann ersich, lächelte und sagte: »Na klar, blau oder rosa?«
»Rosa«, sagte der Verkäufer, » sie will immer rosa.« Der Mann hinter dem Standnahm kurz angebunden das Geld entgegen. Sie griff nach der Zuckerwatte.
»Ich …«, fing er an, doch er verstummte, als sie seine Hand nahm und ihnwegführte.
Sie sprachen danach nicht mehr miteinander. Er ging neben ihr her. Sie aßgenussvoll zwei oder drei Häppchen von der Zuckerwatte. Dabei glitt ihre Zungeüber die dünnen Zuckerfäden und zog sie vorsichtig in den Mund hinein. DieNacht war warm, sie hatten das Oktoberfest verlassen. In der U-Bahn-Stationkonnte er sie besser sehen, auch wenn sie ihm nur den Blick von der Seitegestattete. Sie hatte tatsächlich blaue Augen. Darauf hatte er gehofft. Nunberührte er sie zum ersten Mal. Er strich mit dem Zeigefinger über ihreArmbeuge und beobachtete, wie sich ihre blonden Härchen aufstellten. SeineLippen, sein Atem strich über die Härchen wie der Wind über ein Gerstenfeld.
Als er versuchte ihr über den Kopf zu streichen, wich sie aus.
»Was ist?« Er war verunsichert.
»Komm«, sie zog ihn in die U-Bahn.
Später stieg er hinter ihr die Haustreppe hoch. Seine Hand berührte siezwischen den Pobacken und glitt dann den Oberschenkel hinunter. Sie schloss dieTür auf. Er trat ein, blickte den schmalen Gang entlang.
»Du fotografierst?«, fragte er und strich mit dem Finger über gerahmte Fotos.Alle hatten das gleiche Motiv. Es waren Aufnahmen von Bauchnabeln, nackte,gepiercte, schwarze und weiße Bauchnabel. »Manchmal«, sagte sie und begann ihre Bluse aufzuknöpfen.
»Oh, ich ...«, begann er und wurde rot. Sie lächelte.
»Du brauchst nicht zu bezahlen«, beantwortete sie die ungestellte Frage. Danndrehte sie sich um und ging in einen weiteren Raum. Er vermutete dort dasSchlafzimmer. »Ich, ich hole noch etwas zu trinken«, rief er und suchte dieKüche.
Als er sie fand, blieb er überrascht an der Tür stehen. Statt einerGaskochstelle oder eines Elektroherdes war eine tiefe Messingschüssel in dieEinbauplatte eingelassen. In der Mitte war ein kleiner Topf. Das Innere derSchüssel hatte ein Gitter, darin klebte Zuckerwatte, rosa Zuckerwatte.
ReflektionenI.Im Saal der achtundzwanzig Spiegel geht ein Paar Füßeschwervoran. Sie tragen ihre Last wie Kamele durch dielichtgepeitschteSchwärze. Ein Fuß stolpert gegen die erste Stufe derungleichmäßigen Treppe.Voran, voran und immer im Kreis, vorbei an denselbenSpiegeln,die achtundzwanzig Stufen hinauf. Schleppender Taktvon zwei Schuhen an Füßen, die gehen und gehen.Der Takt lockt die Harfe mit den achtundzwanzig Saitenherbei. Neue Töne, alte Töne, fremd und vertraut. DieMelodiebleibt schwebend ungewiss, schwingt um dieHalbtonlage,verdichtet sich, löst sich, umkreist die Füßeschmeichelnd.Hastig reiße ich die Türe auf. Mit den Kerzen dichtvor meinenAugen, in meinen Augen, betrete ich den Saal. DieflackerndenLichterleuchten grell auf, hartesWiderstrahlen, doch ich kann es nicht sehen.Basssaitenschlag überschlägt sich beim Hetzen seinesNachhalls,klingt weiter, klingt leiser. Kommt zur Ruhe in mir,verschluckt zum stummen Tod,bereit, eine neue Saite anzuschlagen.
II.
Eine formlose Masse entwächst den Schuhen, aus derMasseentstehe ich und sehe mich in der Tür stehen. »MachdieKerzen aus, bitte«, wimmere ich. Der Schein derFlammenbricht sich immer und immer wieder in den Spiegeln.»Ich kann nichts sehen. Wo bist du?« Die Hände suchenimFeuer nach mir. Ich sehe mich um. Es ist keine weitereTür imSaal auszumachen. Eine Hand findet meine Schulter.Die grässlich grellen Kerzen kommen meinem Gesichtganznah. Ich spüre die Hitze. Ich spüre das Knistern derFlammen.Die Hand drückt mich aufs Parkett.»Liebe«, flüstert es ganz leise, und ein Mundverschließt denmeinen. Süßer Atem stößt mir entgegen. Der Bannkreisschlägtmich. Zum Fliehen ist es nun zu spät.
Ich ertrage die Berührungen. Die Zunge fliegt feuchtübermeinen Körper. Die Flammen der Kerzen versengen feineHärchen, die sich schwarz kräuselnd in der Hitze winden.Die Hand sucht nach Neuem, ertastet, bis sich die HautderHand entgegenwölbt, bis die Lust siegt und ichkeuchend mein»Ja« entgegenbringe.Mein Atem hat die Kerzen gelöscht. Es dunkelt wieder,ich binerschrocken,erlöst, allein. Ich sehe mich um. In den Spiegelnglühennur meine Augen mit den Kerzen dahinter.
Entnommen aus:
Anette Butzmann Eisblutgeschichten
Erschienen im Seidler Verlag12,80 EUR / ISBN 978-3-931382-13-1 (Buch) 19,80 EUR / ISBN 978-3-931382-46-9 (Buch / CD) Mehr unter: www.eisblutgeschichten.de
Zuckerwatte
»Kaufst du mir Zuckerwatte?«
Es war die Stimme eines Mädchens. Hätte er die Augen geschlossen, wäre er aufein Alter zwischen zwölf und siebzehn gekommen. Doch ihr Gesicht, mit denbeginnenden Fältchen um den Mund, erzählte eine andere Geschichte. Ihm fielenihre schönen Zähne auf. Ebenmäßig, fast weiß. Keine Raucherin, dachte er.
»Hallo«, sagte er, starrte sie an. Er hätte gerne mehr von ihren Augen gesehen,doch die blieben weiterhin vom Schatten der Markise bedeckt. Dann besann ersich, lächelte und sagte: »Na klar, blau oder rosa?«
»Rosa«, sagte der Verkäufer, » sie will immer rosa.« Der Mann hinter dem Standnahm kurz angebunden das Geld entgegen. Sie griff nach der Zuckerwatte.
»Ich …«, fing er an, doch er verstummte, als sie seine Hand nahm und ihnwegführte.
Sie sprachen danach nicht mehr miteinander. Er ging neben ihr her. Sie aßgenussvoll zwei oder drei Häppchen von der Zuckerwatte. Dabei glitt ihre Zungeüber die dünnen Zuckerfäden und zog sie vorsichtig in den Mund hinein. DieNacht war warm, sie hatten das Oktoberfest verlassen. In der U-Bahn-Stationkonnte er sie besser sehen, auch wenn sie ihm nur den Blick von der Seitegestattete. Sie hatte tatsächlich blaue Augen. Darauf hatte er gehofft. Nunberührte er sie zum ersten Mal. Er strich mit dem Zeigefinger über ihreArmbeuge und beobachtete, wie sich ihre blonden Härchen aufstellten. SeineLippen, sein Atem strich über die Härchen wie der Wind über ein Gerstenfeld.
Als er versuchte ihr über den Kopf zu streichen, wich sie aus.
»Was ist?« Er war verunsichert.
»Komm«, sie zog ihn in die U-Bahn.
Später stieg er hinter ihr die Haustreppe hoch. Seine Hand berührte siezwischen den Pobacken und glitt dann den Oberschenkel hinunter. Sie schloss dieTür auf. Er trat ein, blickte den schmalen Gang entlang.
»Du fotografierst?«, fragte er und strich mit dem Finger über gerahmte Fotos.Alle hatten das gleiche Motiv. Es waren Aufnahmen von Bauchnabeln, nackte,gepiercte, schwarze und weiße Bauchnabel. »Manchmal«, sagte sie und begann ihre Bluse aufzuknöpfen.
»Oh, ich ...«, begann er und wurde rot. Sie lächelte.
»Du brauchst nicht zu bezahlen«, beantwortete sie die ungestellte Frage. Danndrehte sie sich um und ging in einen weiteren Raum. Er vermutete dort dasSchlafzimmer. »Ich, ich hole noch etwas zu trinken«, rief er und suchte dieKüche.
Als er sie fand, blieb er überrascht an der Tür stehen. Statt einerGaskochstelle oder eines Elektroherdes war eine tiefe Messingschüssel in dieEinbauplatte eingelassen. In der Mitte war ein kleiner Topf. Das Innere derSchüssel hatte ein Gitter, darin klebte Zuckerwatte, rosa Zuckerwatte.
ReflektionenI.Im Saal der achtundzwanzig Spiegel geht ein Paar Füßeschwervoran. Sie tragen ihre Last wie Kamele durch dielichtgepeitschteSchwärze. Ein Fuß stolpert gegen die erste Stufe derungleichmäßigen Treppe.Voran, voran und immer im Kreis, vorbei an denselbenSpiegeln,die achtundzwanzig Stufen hinauf. Schleppender Taktvon zwei Schuhen an Füßen, die gehen und gehen.Der Takt lockt die Harfe mit den achtundzwanzig Saitenherbei. Neue Töne, alte Töne, fremd und vertraut. DieMelodiebleibt schwebend ungewiss, schwingt um dieHalbtonlage,verdichtet sich, löst sich, umkreist die Füßeschmeichelnd.Hastig reiße ich die Türe auf. Mit den Kerzen dichtvor meinenAugen, in meinen Augen, betrete ich den Saal. DieflackerndenLichterleuchten grell auf, hartesWiderstrahlen, doch ich kann es nicht sehen.Basssaitenschlag überschlägt sich beim Hetzen seinesNachhalls,klingt weiter, klingt leiser. Kommt zur Ruhe in mir,verschluckt zum stummen Tod,bereit, eine neue Saite anzuschlagen.
II.
Eine formlose Masse entwächst den Schuhen, aus derMasseentstehe ich und sehe mich in der Tür stehen. »MachdieKerzen aus, bitte«, wimmere ich. Der Schein derFlammenbricht sich immer und immer wieder in den Spiegeln.»Ich kann nichts sehen. Wo bist du?« Die Hände suchenimFeuer nach mir. Ich sehe mich um. Es ist keine weitereTür imSaal auszumachen. Eine Hand findet meine Schulter.Die grässlich grellen Kerzen kommen meinem Gesichtganznah. Ich spüre die Hitze. Ich spüre das Knistern derFlammen.Die Hand drückt mich aufs Parkett.»Liebe«, flüstert es ganz leise, und ein Mundverschließt denmeinen. Süßer Atem stößt mir entgegen. Der Bannkreisschlägtmich. Zum Fliehen ist es nun zu spät.
Ich ertrage die Berührungen. Die Zunge fliegt feuchtübermeinen Körper. Die Flammen der Kerzen versengen feineHärchen, die sich schwarz kräuselnd in der Hitze winden.Die Hand sucht nach Neuem, ertastet, bis sich die HautderHand entgegenwölbt, bis die Lust siegt und ichkeuchend mein»Ja« entgegenbringe.Mein Atem hat die Kerzen gelöscht. Es dunkelt wieder,ich binerschrocken,erlöst, allein. Ich sehe mich um. In den Spiegelnglühennur meine Augen mit den Kerzen dahinter.
Entnommen aus:
Anette Butzmann Eisblutgeschichten
Erschienen im Seidler Verlag12,80 EUR / ISBN 978-3-931382-13-1 (Buch) 19,80 EUR / ISBN 978-3-931382-46-9 (Buch / CD) Mehr unter: www.eisblutgeschichten.de