Die Kurzgeschichte des Monats Dezember 2013 stammt von Anette Butzmann
Der Fuchsschwanz
Es gibt Menschen, die wissen schon im Januar genau, an welchem Tag und an welchem Flugsteig sie die Boeing soundso besteigen werden, um nach Mallorca zu fliegen. Sie kennen die Flughöhe zu jedem Zeitpunkt, noch bevor der Pilot diese durch den kratzenden Lautsprecher bekanntgibt. Sie haben alles vorher, gegoogelt, geplant, ausgeklüngelt und gehen mit einem selbstsicheren Lächeln in die vorweihnachtliche Zeit, denn sie haben bereits im Schlussverkauf Ende August alles eingekauft.
Nicht einer, nicht einer aus meiner Familie hatte dieses Gen. Weihnachten überraschte uns in jedem Jahr, wie der kalte Schauer aus der nicht funktionierenden Dusche, die man in diesem Jahr noch reparieren gemusst hätte. Stattdessen amüsierten wir uns an abendlichen Wohnzimmergesprächen über die anderen, über diesen Weihnachts-Einkauf-Quatsch, den nur die Spießer mitmachten. Geschenke konnte man ja immer und überall kaufen, warum sollte man sich also gerade am Wochenende ins Gewimmel stürzen? Auf den Mannheimer Planken gab es sowieso keine freie Fläche mehr, auf die man seinen Fuß hätte setzen können. Der ganze Rhein-Neckar-Raum kaufte in Mannheim ein.
Wir, also meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und ich, blieben an den Samstagen vor Weihnachten daher lieber zuhause. Das Adventsgesteck hatte ich vor einigen Wochen mit den Zweigen aus dem Blumengeschäft gegenüber dekoriert. Das flackernde Lichtlein ermahnte uns ohne Worte an das Kommende, doch wir schauten selig in das Flämmchen und seufzten ohne ein Geräusch dabei zu machen. Ach, wie schön war doch Weihnachten. Das Fest der Liebe würde kommen. Irgendwann würden mein Vater und ich den Weihnachtsbaum einkaufen, wir würden ihn in den Christbaumständer stellen und ins Wohnzimmer tragen. Bei den huldvollen Klängen aus dem Radio würde ich das kleine Bäumchen schmücken, während Mutter die Würstchen briet. Beim Essen würde diskret der ein oder andere rasch ins Wohnzimmer verschwinden, damit die herrlichen Überraschungen ihren Platz finden konnten. Mutter hatte die Geschenke gern auf der linken Seite des Couchtisches, währenddessen die Männer sich die rechte Seite teilten und meine Geschenke, ja die befanden sich immer unter dem Christbaum, als Belohnung dafür, dass ich das Bäumchen geschmückt hatte.
Soweit die Planung - die eigentlich gar keine war, denn wie schon gesagt, uns fehlte dieses wunderbare Gen dafür, so dass sich am 23. Dezember erstmals eine beginnende Hektik über unsere Familie ausbreitete. Ich machte den Anfang, denn es musste ja sein. Bewaffnet mit den wenigen Münzen, die ich am Monatsende noch hatte, ging ich in die Stadt, wo ich Mühe hatte, nicht von den hetzenden Menschen umgerannt zu werden. Es gab also noch andere, die so waren wie wir, doch das machte die Sache nicht besser, denn es mussten drei kreative Geschenke her, die das langersehnte Entzücken auf den Gesichtern der Eltern und meines Bruders herbeizaubern würden. Leider war ich erst um fünf Uhr abends aufgebrochen und es blieb daher nur noch diese eine Stunde, in der ich häufig mit dem Wort „ausverkauft“ auf dem Boden der Tatsachen ankam. Na ja, der billige braune Geldbeutel für meine Mutter war ja auch ganz schön und der zweite ebenfalls billige schwarze Geldbeutel für meinen Vater war auch ganz ansehnlich. Für meinen Bruder fand ich nach langem Suchen dann doch nur wieder eine Pralinenschachtel, dabei war mein Bruder mit knapp 120 Kilo nicht gerade der optimale Empfänger dieses Geschenkes. Allerdings: Sein Entzücken war mir wenigstens sicher.
Mit gedämpftem Enthusiasmus erwachte ich am nächsten Morgen. Ich lag unter der Federbettdecke und wollte noch nicht aufstehen. Es blieb ja noch etwas Zeit und das Bett war kuschelig warm. In Gedanken ging ich nochmals alle Dinge durch. Da durchfuhr mich der nächste Schreck. Weihnachten war da, aber es fehlte noch der kleine Tannenbaum, der Weihnachten erst so richtig gemütlich und zum schönsten Fest auf dem Erdball machte. Ich stand also auf und ging zielstrebig ins Wohnzimmer, wo mein Vater zeitungslesend herumlag. Oh je, das war eine schwierige Situation, denn immer wenn mein Vater die Zeitung frei in der Luft hielt, schien er eine kleine Buchstabenwand hoch zu halten. Hinter der Wand konnte man nur zustimmende Geräusche hören, allerdings galt das für alles, was man sagte.
Mein Projekt Tannenbaum war zu wichtig. Erst im letzten Jahr hatte meine Mutter einen Weihnachtsbaum aus Plastik aufgestellt. Eine mickrige Kopie eines richtigen Weihnachtsbaumes. Doch nein, es war gar keine Kopie, denn es war das furchtbarste zerfletterte Ding, das man sich vorstellen konnte. Es konnte nicht mal die Baumspitzendekoration tragen und fiel nach dem Anhängen des fünften Glöckchens vom Ständer. Wir stabilisierten das arme Ding dann mit Lametta, wobei wir es vollkommen damit bedeckten und schauten während des Festes in andere Richtungen.
„Papa“, begann ich vorsichtig.
„Hm?“ fragte es hinter der Wand.
„Es ist schon 10 Uhr und die Weihnachtsbaumverkäufer machen bald zu“.
„Die haben doch noch bis 12 offen, wir gehen wieder zum Weberplatz“.
„Ist gut – wann?“, fragte ich.
„Ich lese nur kurz die Zeitung, dann gehen wir“, sagte Papa.
Um es kurz zu machen, eine Stunde später, schaffte ich es durch nachhaltiges Nörgeln und den Hinweis auf das Waterloo vom letzten Jahr, den Vater zum Aufstehen und Ausgehen zu bewegen. Wir fuhren mit dem Auto, das nach wiederholt gutem Zureden und Ziehen des „Chokes“ auch ansprang, zum verschneiten Weberplatz. Es war 11:20 Uhr, als uns der Verkäufer mit Kopfschütteln begegnete. Nein, es gab keine Bäume mehr unter 3 Metern Höhe und schon gar nicht für den Preis von 12 Mark, denn mehr wollten wir keinesfalls ausgeben. Vater und ich sahen uns ratlos an; er schlug vor, die Sache abzublasen und ins „Deutsche Eck“ zu gehen, dort könne er ja ein Bier trinken und ich könnte ja wieder nach Hause gehen. Wie meine Reaktion auf den Vorschlag aussah, kann ich nicht mehr sagen. Nur so viel: Es ist bei mir heute immer noch so, wenn ich etwas will, dann setze ich es auch durch. Es ist eine meiner schlimmsten Seiten, die mein Vater unbeabsichtigt freisetzte.
Wir fuhren noch zwei andere Märkte an, deren Plätze mir nicht mehr einfallen, und zum Schluss kam der rettende Einfall: Der Marktplatz auf dem Lindenhof. Es ist keineswegs übertrieben, wenn ich sage, es war fünf Minuten vor zwölf, als der richtige Baum gefunden wurde. Der Verkäufer sagte, er habe noch ein Bäumchen in der richtigen Größe, er könne uns diesen für 4 Mark verkaufen, denn der Baum wurde bereits vor 6 Wochen geschlagen und nadelt ein bisschen. Wir waren begeistert und nahmen den kleinen Kümmerling sofort mit.
Mutter empfing uns mit den Worten: „ Ich dachte, Ihr kommt gar nicht mehr“ Und wir präsentierten unser Schnäppchen. Die Christbaumkugeln hatte Mutter schon aus dem Keller geholt. Nach dem Mittagessen ging mein Vater erst mal zum Stammtisch, ich machte die Glotze an und sah zu, wie der Moderator Jean Pütz ein entzückendes Vogelhäuschen aus Holz baute. In der Küche rumorte es nach einiger Zeit, bis ich den erlösenden Satz hörte, der den Beginn des Festes einläutete: „Mudda, hol mol den Fuchsschwanz aussem Keller“. Sie wissen bestimmt, was ein Fuchsschwanz ist. Falls nicht, dann denken Sie bitte nicht an Wildtiere, sondern an eine große Handsäge. Es kam nämlich nun der Part, in dem wir versuchten, den Fuß des Baumes in den Ständer zu bekommen. Es war eben nicht irgendein Christbaumständer, sondern der handgedrechselte Ständer eines entfernten Verwandten meiner Mutter, den wir auf diese Weise ehrten. Allerdings: Der Gute hatte offenbar keine Vorstellung über die Dicke von Tannenbaumstämmen, oder er hat uns einen verunglückten Kerzenständer geschenkt.
Wie auch immer: Meine Mutter keuchte (nach sechzig Wendeltreppenstufen hinunter und wieder herauf) erschöpft in der Küche und erklärte, wo sie die Säge überall gesucht habe und wo sie sie schließlich gefunden hatte. Ihr Einsatz wurde, wie in jedem Jahr, sehr gelobt. Der Baum wurde nun über einen Stuhl gelegt und Vater begann das Bäumchen so anzusägen, dass der Stamm schmaler wurde. Wie man sich vorstellen kann, ging das an unserem Kümmerling nicht schadlos vorbei. Die Nadeln auf dem Küchenboden mehrten sich, wenige hielten sich tapfer an den Zweigen fest.
Wir trugen die Überreste ins Wohnzimmer, um den Baum in die gewohnte Ecke zu stellen. Nun standen wir zu dritt kritisch vor dem weihnachtlichen Kahlschlag und bemusterten das Ergebnis. Einige Zeit sagten wir gar nichts, dann meinte Mutter:
„Ich finde es schön, dass der Baum eine platte Seite hat, die kann man an der Wand hinten verstecken“.
„Hm, riechst Du das?“, fragte Papa.
„Ja“, sage ich und schluckte, „es riecht wunderbar nach Tannennadeln“.
An Weihnachten 2013 werde ich eine Nordmanntanne kaufen. Sie wird üppige und breite Nadeln haben, an denen man sich nicht so leicht stechen kann. Ich habe mittlerweile gelernt, dass Christbaumständer aus Gummi mit Seilsystemen große Vorteile haben und weiß genau, in welchem Baumarkt man preiswerte kleine Bäume unter 30 Euro bekommt. Für meine Mutter werde ich am Nachmittag die silbernen Vögelchen mit Federschwanz in den Baum hängen. Für meinen Bruder werde ich die Mini-Disco-Kugeln und das Lametta aus den 70ern befestigen. Ich weiß, dass sie sich darüber freuen werden. Für meinen Vater werde ich den kleinen bunten Zeppelin mit dem Gesicht von Hindenburg an den Tannenbaum hängen. Leider kann er sich nicht mehr darüber freuen, er starb im November 2002. Sechs Wochen vor Weihnachten im Krankenhaus. Auch das war wieder mal nicht eingeplant. So sind wir eben, wir nehmen es so, wie es kommt, denn uns fehlt dieses bestimmte Gen, das manche Leute haben, wenn sie bereits im Januar wissen, an welchem Tag und an welchem Flugsteig sie die Boeing soundso besteigen werden, um nach Mallorca zu fliegen.
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Foto: Wolfgang Bauer