Kurzgeschichte des Monats

Die Kurzgeschichte des Monats Dezember stammt von Lothar Seidler und Rolf Unterfenger:
Sternenzeit im Jahr 2003
Hans fror. Er hatte sich außerhalb des Bahnhofsplatziert, da innen das Rauchen verboten war, mit Blick zum Haupteingang.Hinter sich hörte er an der Haltestelle Straßenbahnen abbremsen und wiederanfahren. Normalerweise machten ihm Aufträge dieser Art nichts aus, aber heutewaren es mal wieder unbezahlte Überstunden, noch dazu am Feiertag. Der Tagbegann, in die Dämmerung überzugehen.
Zugegeben, es gibt keinen Grund sich am 6-ten Januar auf demHeidelberger Hauptbahnhof herumzutreiben. Begreiflich allerdings, dass man –hier also ich – keine Lust auf Feiertags-Innenstadt-Spaziergänger hat und somitseinen eigenen Bewegungsdrang an solchen, als universell zu betrachtenden Orten,wie eben in einem Bahnhof, einem Botanischen Garten, einem Uni-Gelände oder Ähnlichem,auszuleben.
Also Bahnhof; gleich rechts erst mal eine Brezel kaufen und dabei aufwärmen vonden Minusgraden draußen. Die Brezel wird sukzessive in Stücke zerlegt undbedächtig gekaut im Rhythmus der Schlenderbeine. Die Augen sind auf"nichts zu suchen" eingestellt; aber gerade dann wird üblicherweiseetwas gefunden. Hier und heute nun in der Auslage der Zeitschriftenhandlung"Schmitt", die Ausgabe 1-2003 des Magazins "Sterne undWeltraum" mit dem Aufmacher "Einhorn – ein Juwel amWinterhimmel". Zugegeben, ich bin weder Physiker noch Hobbyastronom, aberdurchaus von universeller Neugierde getrieben. So kommt es immer wieder vor,dass ich allerhand Themenmagazine erwerbe, so etwa von 'A' wie "Astrologie"bis 'Y' wie "Yoga".
Hans sah auf die Uhr und zündete eine Zigarette an. DasPlakat, das er vor sich hielt, war auf einem Pappkarton festgeklebt. Bis jetzthatte ihn noch niemand angesprochen, nicht einmal die Leute vomSicherheitsdienst hatten sich blicken lassen. Menschen eilten an ihm vorbei,umströmten ihn von hinten und von vorn, Erstere mehr rechts vorbei, die anderenmehr links. Gelegentlich gab es auch Irrläufer gegen den Strom, die dann imZick-Zack-Kurs ihren Weg suchten und vermeintlich viel schneller vorwärtskamen. Hans stellte ein wirksames Hindernis dar, sodass er wenigstens sichersein konnte, nicht übersehen zu werden.
Weiter geht es mit dem Heft in der Jackentasche "Zu denZügen". Zumindest streune ich ein wenig in der Gleisüberführungshalleherum, während unter mir, auf Gleis 5, der Intercity 2296 von Salzburg überMünchen-Augsburg-Ulm-Stuttgart nach Frankfurt einfährt; 16:45 Uhr.
Derweil ich mir die Ankommenden aus dem tiefen Südosten so betrachte fallen mirdrei Gestalten besonders auf, wie sie langsam und unsicher die Treppeemporklettern. Auffällig ist erstens, dass sie entgegen der Mehrzahl sichauskennender Reisender nicht den Ostaufgang, sondern den gegenüberliegenden derTreppe benutzen, der jedoch gebäudetechnisch in eine Sackgasse führt. ZumZweiten ihre etwas fremdländisch exotische Erscheinung. Die Kleidung erinnertan Kaftane und ähnliche folkloristische Moden; die Gesichtsformen und –farbenlassen an Nordafrika, Arabien und Persien denken. Wer lange genug mit offenenAugen durch Heidelberg geht, entwickelt für solch ethnische Feinheiten durchausein gewisses Gespür, wenn der einzelne Fall vielleicht auch nicht immer genaubegründbar sein mag.
Über diesen Gedanken haben die drei Herren den rechten Weg zur Bahnhofshallegefunden, und ich hinterher in gemessenem Abstand. Dabei fällt mir eine weitereBesonderheit an den Reisenden auf: neben den üblichen Reiseutensilien wieKoffer, Rucksack, Fototasche tragen sie noch besondere Behältnisse mit sich.Der Eine trägt eine unförmige Holzkiste mit Henkel, der Zweite einen in dieLänge gezogenen Metallkoffer und der Dritte eine fast einen Meter lange,zylindrische Tragetasche. "Für eine abgesägte Oboe könnte siereichen" fällt mir ein, doch diese Musikinstrumententhese gebe ich gleichwieder auf, denn solche Futterale sieht man ja öfter und sind daher doch etwasvertrauter als diese Gefäße.
Hans dachte an Lena und ihre Kleine, die er nun endlicheinmal sehen wollte. Sobald er seinen Auftrag erledigt hatte, würde er siebesuchen und sich mithilfe von Lenas Kräutertee aufwärmen und entspannen. Sieservierte den Tee, der Kardamom und andere besondere Gewürze enthielt, immer inden Tassen mit Goldrand und brannte dazu ein Räucherstäbchen an. Eigentlichhatte er den Besuch schon viel früher am Nachmittag machen wollen, damit dieKleine wach war, wenn er kam, aber sein Kollege Mark hatte sich krank gemeldet.So war der Chef darauf gekommen, Hans am Feiertag zu Hause anzurufen. Es gabzwar noch einige andere Leute am Institut, aber die waren wohl alle nichtverfügbar. Und Hans hatte mit der Veranstaltung eigentlich gar nichts zu tun.Sie haben aber doch Zeit, Sie sind Junggeselle, hatte der Chef gemeint. Hansdachte an das Observatorium auf dem Cerro Paranal. So ein Forschungsaufenthaltin Chile wäre schon hilfreich für seine wissenschaftliche Laufbahn. Und deshalbstand der jetzt hier, damit der Chef einen guten Eindruck von ihm bekam? WennHans nach einem Jahr zurückkehren würde, wäre Lenas Kleine schon ein schönesStück gewachsen.
Mittlerweile ist die kleine Gruppe in der Bahnhofshalleangelangt und steht vor den Auslagen der Geschenkeboutike. Und siehe da, auchden zwei Herren von der Bahnsicherheit sind die Drei, insbesondere derenKoffer, aufgefallen; sie deuten, sehen sich an und treten dann bestimmt an dieGruppe heran, die sich mittlerweile zu dem Großweihnachtsbaum in der Halleweiterbewegt hatte. Dort setzen sie ihre Lasten ab und kramen diverse Papiere,wohl auch eine Karte hervor, als sie von den Sicherheitsexperten angesprochenwerden. Verstehen tue ich zwar nichts, denn ich stehe etwas zu weit weg; ausden Gesten ist jedoch herauszulesen, dass der Einblick in die vorgezeigtenPapiere die Besorgnisse der BSG-Herren zerstreuen. Außerdem scheinen diese nunzu einer fremdenführerischen Beratung überzugehen. Diese endet damit, dass siedie kleine Fremdengruppe zu dem nächstliegenden Seitenausgang hinausbedeuten.
Hans hatte fertig geraucht und trat die Kippe auf demBoden aus. Er überlegte, ob er eine Runde durch den Bahnhof drehen sollte, andererseitshatte sein Chef mehrmals wiederholt, dass es am allerbesten sei, wenn er sicham Haupteingang aufstellte. Also blieb Hans dort stehen, obwohl er weiterhinfror.
Während der gesamten Szenerie brennt die Neugierde untermeiner Hirnschale wie tausend Feuer. Also links um den Tannenbaum herum dendreien nach. Sich immer wieder umblickend stehen bleibend gehen sie jenseitsder vierspurigen Straße stadteinwärts, bis sie völlig überraschend an einerBushaltestelle stehen bleiben und den Aushang studieren. Kaum dass ich die Szenerecht erfasst habe, kommen sie mir auch schon entgegen, lamentierend, mich fastüber den Haufen rennend. Ich nehme also auch den Busfahrplan in Augenschein underfahre: Linie 21 zum Königstuhl über Römerstraße, Drei Eichen, Sternwarte;fährt aber nur einmal am Tag, frühmorgens. Deswegen waren die Drei so genervt!Wie war das "Sternwarte"? Dort war ich zwar noch nicht, aber ausmeinen umfänglichen, mehrjährigen Heidelberger Stadtplan-Recherchen weiß ich,dass es dort auch ein Max Plank Institut für Astronomie gibt – interessantfürwahr. Womit die merkwürdig geformten Koffer eine völlig neue Deutungerhalten könnten. Doch wo sind jetzt meine drei Spezialisten abgeblieben?Schnell hinterher, zurück zum Bahnhof. Doch als ich gerade wieder dievierspurige Straße überquere, sehe ich sie gerade noch in ein Taxi steigen unddahinfahren.Wieder in den Bahnhof, diesmal durch einen Osteingang undaus lauter Langeweile in das Reisezentrum, die Streckenfahrpläne inspizieren,auch einen oder zwei davon einstecken, denn seit der Fahrplanumstellung vordrei Wochen haben die Herren Oberbahner lieb gewordene Verbindungen auf dasübelste verbogen oder gar gekappt.
Hans blickte ein weiteres Mal auf die Uhr und stelltefest, dass der Zug eigentlich schon längst angekommen sein musste. Er zündeteeine neue Zigarette an. Wenn er die aufgeraucht hatte, sollte es genug sein mitdem Warten. Er würde noch schnell bei der Auskunft nachfragen und falls der Zugpünktlich angekommen war, beschließen, dass die drei Ehrengäste diesen wohlverpasst hatten. Aber Lenas Tochter würde dann schon schlafen. Ein Mann mitirgendwie interessiertem Gesichtsausdruck näherte sich der Stelle, wo Hansstand. Aber der kam keinesfalls in Frage. Er warf nur einen kurzen Blick aufdas Schild, das Hans inzwischen etwas verkrampft festhielt, und war schon vorbei.
Nun raus aus dem Reisezentrum und links herum zum"Ausgang Nord", wo die Straßenbahnen abfahren. Stop – was sehe ichda? Ein Mensch meines Alters steht da im Freien, ein Plakat in der Handhaltend, wohl um ankommende Reisende suchend herauszufiltern.  "MPI für Astronomie" steht da zulesen, auch "Int. Symposion: Sternen-Konjunktionen besser vorhersagen undbeobachten."Ich bin böse, ich sage nichts und schlendere Richtung warmerWohnung.

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