Das Gesetz zum Schutz der Dunkelheit
Wer seit Jahren ertrinkt, kann das Wasser nicht lieben. An Manches gewöhnt man sich nie. Gewisse Erlebnisse sind gewöhnungsresistent. Das mit dem Wasser in die Lungen einströmende Gefühl des Erstickens ist dieser Kategorie zweifellos zuzurechnen. Auch hundertfach durchlebt will es einfach nichts von seinem Schrecken verlieren, eine Angst ohne Verfallsdatum, die mich verfolgt, so lange ich zurückdenken kann, ja selbst so lange Richard zurückdenken kann, und Richard vergisst nie etwas. Schon vor Jahren, als ich ihn noch Vater nannte und mich in seinen Gesichtszügen wiederzuerkennen glaubte, versuchte er beharrlich und erfolglos, mich mit dem Wasser auszusöhnen. Gelegentlich ging er dabei mit erstaunlicher Subtilität vor und einer Raffinesse, die man einem grobschlächtigen Körper kaum zugetraut hätte.
Ich erinnere mich noch gut an einen Trinkhalm, sicherlich den schönsten Trink-
halm, den ich jemals gesehen hatte. Ich stieß wie zufällig in der Küche auf ihn, ein wahres Prachtexemplar, das in allen Regenbogenfarben schimmerte und sich sacht an den Rand eines Glases lehnte, umgeben von Mineralwasser, das prickelnd kleine Luftbläschen ausstieß, mit einem leisen Zischen, wie das einer Schlange, die nur darauf lauerte, mich durch ihre Tarnung täuschen zu können. Zu meinem zehnten Geburtstag schenkte mir Richard ein - wie ich heute zugeben muss - wunderschönes Aquarium und machte mir heftige Vorwürfe wegen jedes einzelnen Todesfalls, der die farbenprächtige Fischpopulation weiter dahinschrumpfen ließ. Meist waren seine strategischen Manöver recht komplex, doch ließ er sich gelegentlich auch zu einem offenen Angriff hinreißen, und ich erinnere mich daran, wie ich während der Sommermonate den Garten mit animalischer Wachsamkeit durchwanderte, ständig darauf gefasst, dass er hinter einem der Büsche hervorspringen und mir den Wasserschlauch genau vors Gesicht halten könnte. Des Streitens überdrüssig trafen wir schließlich eine Übereinkunft, die Richard als den kleinsten gemeinsamen Nenner bezeichnete: Ich erklärte mich bereit, das Wasser ohne Wenn und Aber in die tägliche Körperhygiene einzubinden, und er bewegte einen befreundeten Internisten dazu, mir eine Chlorallergie zu attestieren, eine Diagnose, die mich dauerhaft von der Pflicht entband, in der Schule am Schwimmunterricht teilnehmen zu müssen.
Ein weiteres Zugeständnis an Richard stellten unsere gemeinsamen Angel-
ausflüge dar, wobei ich mich mit dem Gedanken tröstete, dass mein Entgegen-
kommen genauso gut als heimliche Rache verstanden werden konnte. Aber so viele Fische ich dem Fluss auch raubte, so sehr ich der träge dahinfließenden Masse meine Überlegenheit zu demonstrieren versuchte, kaum wurde mein Gehirn durch den Schlaf seines Bewusstseins beraubt, wurden die Verhältnisse zwischen mir und dem Wasser auch schon wieder hergestellt, und wie hunderte Male zuvor versank ich im grünen Licht des immer gleichen Gartenteichs, umgeben von Stichlingen und Libellenlarven und über mir verschwommen ein Gesicht und die Hand, die mich gestoßen hatte, dahinter die Silhouette eines Kirchturms, und dann kamen die Angst und die Gewissheit, sterben zu müssen, und ein gellender Schrei, den niemand hören würde, und der in dem in mich einströmenden Wasser nur feuchtes Blubbern erzeugte.
Warum, schoss es mir durch den Kopf, dann riss mich das Entsetzen jäh aus dem Schlaf. Erleichtert wurde mir klar, dass ich mich auf dem Trockenen befand, und dass die triefende Nässe, die meinen Körper frösteln ließ, nicht den Geruch von Algen in sich trug, sondern das beißende Aroma von Angst und von Schweiß.
Wenige Wochen vor meinem fünfzehnten Geburtstag wurde meine Mutter beim Überqueren der Straße von einem Lastwagen erfasst und war auf der Stelle tot. Was immer das auch heißen mag. Vermutlich, dass ihr Gehirn durch den Aufprall zerplatzte, noch bevor es erschrecken oder etwas begreifen konnte. Lisa war eine ungemein zerbrechliche Frau gewesen, ängstlich und vorsichtig, ein Mensch, der zeitlebens jedes Risiko vermieden hatte. Dass ausgerechnet sie auf einem Zebrastreifen sterben musste, Einkaufstaschen schleppend und vor sich das grüne Männchen, das ihr aufmunternd entgegenleuchtete, wirkte ernüchternd, so als habe der Tod persönlich klarstellen wollen, dass auch mit Vorsicht nichts gegen ihn auszurichten war.
"Die Welt ist ein Ort ohne Gnade", brach es aus Richard heraus. "Gäbe es irgendeine Alternative, man müsste sie auf der Stelle verlassen. Als befände man sich auf einer gottverdammten Insel, und es gäbe dort nur einziges beschissenes Hotel." Ich sehe noch seine geballten Fäuste vor mir, Fäuste an herunter-
hängenden Armen, die nicht wussten, auf wen sie einschlagen sollten.
Lisa wurde an einem Mittwochmorgen beigesetzt. Eine trockene, bewegungslose Kälte lag über den Gräbern, und der gefrorene Boden knirschte wie eine Warnung unter den Schritten der Trauernden. Nachdem die Karawane der Kondolierenden an uns vorübergezogen war, griff Richard in die Innentasche seines Mantels, brachte mit zitternder Hand eine Zigarette zum Vorschein und starrte mürrisch rauchend hinab auf den mit Erde und Rosen bedeckten Sarg. Als von der Zigarette nur noch der Filter übrig geblieben war und die Hitze der Glut seine Finger zu erreichen drohte, ging ein Ruck durch seinen Körper. Mit der Miene eines Mannes, der soeben eine bedeutsame Entscheidung getroffen hat, suchte er die Verbindung zu meinen Augen.
"Da gibt es etwas, das ich dir sagen muss." Seine Stimme klang heiser. Der Rest der Trauergemeinde hatte sich diskret entfernt und uns allein am Grab zurückgelassen. Übrig geblieben waren nur zwei Totengräber, die etwa fünfzig Meter entfernt darauf lauerten, dass wir endlich verschwinden würden und sie ihr Werk in Ruhe vollenden könnten.
"Lisa war eine wunderbare Frau. Sie hat dich über alles geliebt, das weißt du sehr gut." Einen Moment lang hielt er inne. "Aber sie war nicht deine Mutter."
Entnommen aus:
Erschienen im seidler-verlag.de
13,80 EUR ISBN 978-3-931382-42-1