Gipfelbetrachtung aus der unteren Perspektive.
Kurzgeschichte von Gabriele BauerAls Antonia aufwacht ist sie nass.
Kalter Schweiß klebt auf ihrer Haut und sie kann fühlen wie er über ihren Rücken rinnt.
Angst ist seit Monaten ihr ständiger Begleiter.
Antonias Angst wächst kontinuierlich, seit sie weiß, dass die Polit-Elite unweit – nur knapp 80 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt - ein Treffen plant.
Und genau jetzt, an diesem Wochenende, ist es so weit. Sie kann die Hubschrauber hören, mit der die prominenten Staatsführer ins Schloss geflogen werden.
Bis zum Gipfel sind es etwa 80 Kilometer – und wie weit ist es bis zum Ende der Welt?
Ihre Zunge fühlt sich trocken und verwelkt an, obwohl sie ihren Mund gerade frisch mit Wasser gespült hat.
Wissen diese Menschen eigentlich was sie tun?
Sehen sie die Gefährlichkeit ihrer Handlungen nicht?
Matt lässt sich Antonia in ihr Kissen zurück sinken und dämmert im grausamen Griff des Gefühls der Machtlosigkeit vor sich hin.
Bernd schlägt die Augen auf und fühlt sich sicher.
Heute findet der G7 Gipfel ganz in seiner Nähe statt.
Froh gelaunt schlägt er die Bettdecke zur Seite und springt mit Schwung aus dem Bett.
Heute ist ein guter Tag!
Landstreicher, Gelegenheitsgauner und auch alle anderen Arten von Gesindel haben heute keine Chance. Alle Wege und Straßen in der Gegend werden schon seit Tagen überwacht und akribisch durchkämmt. Alle verdächtigen Personen werden gefilzt und registriert. Und auch manche Grenzen sind geschlossen. Zumindest werden Grenzgänger peinlich genau kontrolliert. Nepper, Schlepper und Bauernfänger haben heute keine Möglichkeit ihren unlauteren Machenschaften nach zu gehen.
Und sogar das Wetter passt. Die Sonne lacht.
Kein Wunder!
Schon seit geraumer Zeit hat merkt Bernd, dass das Wetter für wichtige gesellschaftliche Ereignisse, wie Fußballweltmeisterschaft oder Münchner Oktoberfest meist gut und passend ist. Bernd lächelt und ist hoch erfreut.
„Wäre doch klasse, wenn „die da oben“ technisch tatsächlich so weit sind, das Wetter zu bestimmen. Vermutlich haben sie für das gute Wetter gesorgt, damit die illustren Gipfelgäste aus aller Welt einen guten Eindruck von unserer schönen Gegend mit nach Hause nehmen können“, murmelt Bernd mit einem Hauch von Stolz vor sich hin.
Er genießt das prächtige Wetter genau so, wie das schöne Gefühl von totaler Sicherheit.
Vermutlich könnte sich heute nicht einmal eine Laus unbemerkt unter einem Blatt verstecken, ohne von einem der zahlreichen Überwachungstechniker oder einer Sicherheitskamera aufgespürt zu werden.
Fröhlich pfeifend geht er auf die Terrasse hinaus und schaut ehrfürchtig zum Gipfel hinauf.
Er hat nichts zu verbergen!
Seine Welt ist heute sicher und in Ordnung.
Gleich nach dem Aufwachen zieht Constanze ein paar achtlos herum liegende Kleidungsstücke an und geht gleich mit dem Hund hinaus.
Der leuchtend blaue Himmel und das noch blasse Morgenlicht locken sie hinaus zu einem frühen Spaziergang. Zum Frühstücken bleibt ihr keine Zeit und deshalb steckt sie sich eine Scheibe Brot für den ärgsten Hunger ein. Mit flottem Schritt verlässt sie ihr Haus.
Sie will ganz schnell hinaus in die Felder und Wälder, bevor die angenehme Morgensonne sich in einen glühenden Hitzeball verwandelt.
Das leise Rauschen des Morgenwinds in den dichten Blättern und das Plätschern des kleinen Bachs, der sich als Nebenarm der Isar seinen Weg durch das Dickicht des Waldes bahnt begleiten sie.
Herrlich!
Constanze freut sich an dem saftigen Grün der Wiesen und an den bunten Blumen, die großzügig würzigen Sommerduft verströmen. Sie freut sich über ihren fröhlichen Hund, der mit großen Sprüngen freudig über die noch etwas feuchten Wiesen tollt. Und genau so freut sie sich auch über das eindringliche und laute Gezwitscher der Waldvögel, die genau wie sie, diesen warmen Juni-Tag genießen.
Allein die Hubschrauber, die alle paar Minuten über die blühende Pracht hinweg in Richtung Gipfel fliegen, stören die natürliche Ordnung.
Richtig heute tagt G7 auf dem Gipfel, fällt ihr plötzlich ein.
Und dann bemerkt sie, dass es ihr tatsächlich völlig egal ist, was dort oben geredet, beratschlagt und entschieden wird.
Genussvoll nimmt sie einen tiefen Atemzug der reinen Waldluft auf und will sich weder von Hubschraubern, noch von der Politik ihren Tag verderben lassen.
Sie glaubt ganz fest daran, dass Nichts und Niemand – und schon gar nicht ein globales Abkommen – den tiefen Frieden der Natur stören kann.
Dieter wacht mit dröhnendem Kopfschmerz auf. Die Helligkeit, die durch die Fenster herein bricht, tut seinen Augen weh. Sein Bauch schmerzt und ist aufgebläht – und auch alle anderen Körperteile fühlen sich so an, als wäre er gestern nackt über einen Schotterweg geschleift worden.
Schuld war natürlich nicht nur das Bier der vergangenen Nacht. Vermutlich war es die grüne Pille, die ihn herrlich einfach und direkt ins Wunderland transportiert hat.
Und auch wie alle anderen Drogen, die er schon kennt, hat die grüne Pille üble Nachwirkungen. Sein Mund brennt und die Zunge fühlt sich ausgedörrt an. Fast könnte er glauben, dem Verdursten nahe zu sein.
Wasser.
Ungeschickt tastet er auf dem Nachttisch herum. Kein Wasser weit und breit.
Jede Bewegung tut ihm weh. Trotz übermächtigem Durst kann er sich nicht aufraffen.
Schlaff wie ein nasser Sack lässt er sich resigniert zurück ins Bett sinken.
Alles was ihm in seinem Elend bleibt, ist die Sehnsucht nach der nächsten Pille und damit nach dem nächsten Rausch, der ihn zuverlässig und schnell zum Gipfel des Genusses bringt und ganz sicher von der Angst und den quälenden Gedanken um seine Zukunft fern hält.
Unfähig einen besseren Entschluss zu fassen, wird er gleich den Gipfel seines Schmerzes ertragen.
Elisabeth ist bereits seit knapp zwei Stunden auf dem Weg. Allen Warnungen der letzten Tage zum Trotz ist sie unterwegs, um gegen den G7-Gipfel zu demonstrieren.
Sie will ihre Meinung vertreten, für ihre Zukunft einstehen und dabei helfen, die Welt zu verbessern. Dieses menschliche Recht ist ihr wichtig und sie wird es sich nicht nehmen lassen.
Keine Widrigkeit, kein Verbot aber auch kein Versprechen kann sie davon abhalten, sich direkt ins feindliche Zentrum des Geschehens zu begeben.
Sie ist ganz allein im Auto, niemand wollte mit ihr zur Demo mitfahren - ausgenommen dieses unangenehme Gefühl, das sich immer wieder vom Magen aus in den Hals schiebt und ihre Kehle zuschnürt.
Wann immer diese Angst hochkommt, versucht Elisabeth sie zu verjagen.
Sie kennt diese Angst. Sie begleitet sie auf jeder Demo und sie hat auch eine wirksame Strategie entwickelt: Wenn sie sich voll auf die gute Sache konzentriert und sich den Sinn ihrer Aktion in Erinnerung ruft, kann sie spüren, wie die Angst wieder nachlässt und schließlich, zumindest für eine kurze Weile, wieder verschwindet.
Immer wieder taucht die Angst aufs Neue auf und versucht sie von ihrer Mission abzubringen. Und während die Landschaft an der Windschutzscheibe ihres Autos vorbeifliegt wird die Angst immer stärker und mächtiger.
Auch das kennt sie. Die Angst wächst, je näher sie ihrem Ziel kommt. Aber dadurch will sie sich nicht abhalten lassen.
Elisabeth fährt in friedlicher Absicht. Ihr größter Wunsch ist, dass sich Frieden und Freiheit für alle Menschen ausbreitet, aber ebenso weiß sie, dass nicht alle Teilnehmer der bevorstehenden Demo friedlich bleiben werden.
Elisabeth hat Angst vor einer Konfrontation mit der Polizei, vor dem Wasserwerfer oder auch einem harten Knüppel auf ihrem sensiblen Kopf. Deutlich spürt sie, ihre Angst vor der bevorstehenden Auseinandersetzung und dem Ärger, der unweigerlich damit verbunden ist.
Und diese Gedanken befeuern ihre Angst.
Während sich die Angst sich zu einem lodernden Feuer in ihrer Brust ausbreitet fährt sie weiter die schmale Gebirgsstraße in Richtung zum Gipfel.
Lässt sich Gewalt durch Gewalt verhindern?
Friedrich streckt sich und reibt sich genüsslich den Schlaf aus den Augen, bevor er sich mit einem kräftigen Ruck aus dem Bett wuchtet.
Die Sonne scheint! …und sogar an einem Wochenende!
Normalerweise regnet es eher an den Wochenenden. Die Sonne sieht er für gewöhnlich nur durch die getönten Scheiben seines voll-klimatisierten Büros.
Nach dem Frühstück will er erst einmal shoppen und den Kühlschrank mit frischen Delikatessen und Leckereien ordentlich auffüllen. Und danach könnte er ja eine kleine Spritztour in die Berge mit seinem funkelnagelneuen Cabrio unternehmen….
Jäh stoppt er seinen Gedankenflug. Mist! Dieser Plan taugt nichts.
Heute beginnt ja der G7 Gipfel.
Die Innenstadt wird garantiert voll von verstrahlten Demonstranten sein. An einen gemütlichen Einkaufsbummel ist da ja überhaupt nicht zu denken. Und auch auf den Straßen sind sicher jede Menge Chaoten unterwegs. Er erinnert sich, dass er eine Meldung gelesen hat, dass die Straßen in die Berge ohnehin gesperrt werden sollen, beziehungsweise strenge Kontrollen durchgeführt werden.
Nein! Auf Stau und Stress hat er heute überhaupt keinen Bock!
Er macht sich erst mal einen Cappuccino und verzieht sich mit dem aktuellen Wirtschaftsblatt auf seinen Balkon.
Auch das noch! Die aktuellen Börsenberichte sehen gar nicht gut aus. Die Anleger sind beunruhigt - und auch das ist vermutlich eine Folge des Gipfels.
Die Ölpreise sind ja noch weiter in den Keller gesunken und nicht mal mehr Gold scheint eine echte Alternative mehr zu bieten.
Hastig trinkt er den letzten Schluck aus und macht sich auf den Weg in sein Büro.
Sicher ist sicher!
Im Büro kann er die Börsen-Charts im Auge behalten und gegebenenfalls in Echtzeit reagieren, um einen möglichen Verlust abzuwenden.
Auf jeden Fall findet er weitaus attraktiver die Gipfel der Wertpapierkurse zu betrachten, als die Aussicht sich auf Begegnung mit wildgewordenen Weltverbesserern einzulassen.
Günter ist auch schon fast eine ganze Stunde unterwegs. Während oben im Nobelhotel die Weltspitze tagt, hat er die Aufgabe, die unten Verbliebenen zu unterhalten. Günter ist Musiker und verdient sein Geld durch Erzeugung von volkstümlicher Musik, die er auf den Tod nicht leiden kann. Als er den Zielort erreicht, tauscht er seine bequeme Jeans und T-Shirt gegen eine speckige Lederhose und ein rot kariertes Trachtenhemd und packt lieblos seine Instrumente aus. Auf dem Weg zur extra für diese Darbietung aufgebauten Bühne, wo er gleich den volkstümlichen Einheimischen geben wird, summt er einen alten Jazz-Standard. „Stella by starlight“ wäre ihm jetzt weitaus lieber, als der bayerische Defiliermarsch, aber er hat keine Wahl. Heute gibt es das volle Programm. Nicht mal die Option auf Verzicht der obligatorischen Kuhglocken bleibt ihm erspart.
Während er die Zuschauer auf den Gipfel der guten Laune bringt, sinkt seine Stimmung auf den Nullpunkt.
Hanna schaltet noch im Bett den Fernseher ein.
„Was trägt die Kanzlerin? Welche Speisen und Getränke werden den Mächtigen auf dem Gipfel gereicht?“, sind die Fragen, die Hanna schon seit Tagen beschäftigen.
Sie zappt durch die Kanäle und bleibt schließlich an einem Privatsender hängen, der dafür bekannt ist, die wirklich interessanten Ereignisse von Prominenten und Stars ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Sie hofft, dass der Moderator die wichtigen Geheimnisse des Gipfeltreffens lüftet.
Im Nebenzimmer verwandelt sich das Gelächter ihrer Kids plötzlich in Geschrei und schließlich lässt sich lautes Geheule hören. Sie ärgert sich: „Seid mal leise Kids! So kann man ja sein eigenes Wort nicht mehr verstehen!“
Dann zuckt sie hilflos mit den Schultern und dreht den Ton an ihrer Fernbedienung lauter.
Aber auch das verbessert ihre Lage nur für wenige Sekunden. Dann erhebt sie sich mit einem schweren Seufzer und macht sich auf den Weg in die Küche, um ein Frühstück für ihre Blagen zu machen. Sie hadert ein wenig. Ausgerechnet heute, wo sie unbedingt die News sehen wollte, hat Herbert, ihr Partner Dienst. Die Lautstärke aus dem Kinderzimmer setzt sich unverändert fort.
Hanna wird sich die Gipfelberichte später in aller Ruhe auf dem Smartphone ansehen.
Ines will nicht aufstehen.
„Warum soll ich aufstehen? Niemand wartet auf mich! Auch wenn ich die nächsten drei Tage liegen bleibe, interessiert das auch keinen Menschen.“
Die Jalousien an ihrem Fenster sind herab gelassen und fest verrammelt. Nur in einem winzigen Spalt an der Ecke bahnt sich ein gleißender Sonnenstrahl seinen Weg.
Das Licht nervt!
Ines findet keine Ruhe.
„Von mir aus kann die ganze Welt in einem Abgrund versinken“ murmelt sie vor sich hin und dreht sich dann um. Sie dreht sich weg von dem störenden Lichtstrahl, der in ihr Reich eindringt und auch weg von dem Gipfel, der möglicherweise ihren Frieden bedroht.
Joachim ist bereits an der Arbeit. Seine Aufgabe ist es die Sicherheit zu gewährleisten und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Gut ausgerüstet mit Stiefeln, starren Beinschützern, Helm und schwerer Sicherheitsweste versieht er seinen Dienst am Fuße des Gipfels. Noch ist die Luft erträglich. Noch ist alles friedlich. Aber die Sonne, die schon hell im Morgenlicht glänzt, lässt ihn ahnen, dass sich bald brüllende Hitze um ihn herum ausbreiten wird. Aber das wird ihn nicht aufhalten.
Tapfer – Schritt für Schritt – tut er seine Pflicht. Er hat klare Anweisungen und wird sich strikt an seinen Dienstplan halten. Komme, was wolle!
Nicht dass er nicht ab und zu über Sinn und Unsinn seines Tuns nachdenkt. Aber ändern wird sich nichts. Zuhause hat er vier Kinder, die er ernähren und kleiden muss und etwas Anderes hat er eben nicht gelernt.
Er wird durchhalten. Aufgeben oder Versagen ist für ihn nicht drin!
Die Kids sollen unbeschwert aufwachsen und – anders als er selbst – lernen dürfen, was immer sie interessiert. Einen Gedanken, der sich gerade einschmuggeln will, dass eben die Menschen, die er beschützt darüber entscheiden, ob sein Wunsch für seine Kinder in Erfüllung gehen kann, lässt er nicht zu.
Er ist verantwortlich für Sicherheit. Nicht mehr und nicht weniger.
…und sollte einer der Chaoten versuchen ihm zu nahe zu kommen, wird er nicht zögern.
Gaba sitzt an einem schattigen Platz in ihrem blühenden Garten. Schon seit einer Weile kritzelt sie Buchstaben, Worte und schließlich ganze Sätze in ihr kleines Notizbuch aus schwarzrotem Chinalack.
Sie ist sich durchaus der Gefahr bewusst, die an diesem Wochenende von den Entscheidungen der selbsternannten Mächtigen auf dem Gipfel ausgeht.
Angst hat sie nicht.
Sie hat verstanden, dass sie ein Teil eines Großen und Ganzen ist – quasi ein Rädchen in einem großen Getrieben mit vielen anderen Rädchen.
Sie weiß, dass der Motor nur störungsfrei funktionieren kann, wenn sich alle Rädchen wie vorgesehen drehen. Deshalb hat sie sich entschieden zu beobachten, anstatt aktiv in eine andere Richtung zu schwingen. Um aktiv zu werden und, müsste sie verstehen und erkennen können, was richtig ist. Und ebenso müsste sie dann das Falsche sehen und entlarven.
Aber da es in ihrem Leben kein richtig oder falsch gibt, weil Licht auch immer Schatten braucht, beschränkt sie sich auf ihre Beobachtungen.
Schon vor vielen Jahren hat sie dem Materialismus den Rücken gekehrt und für sich statt des „Haben“ das „Sein“ gewählt. „Ich bin“ summt sie leise vor sich hin …und kritzelt weiter in ihr Buch.
Derweilen tagen die Menschen, die sich selbst als „elitär“ empfinden, obwohl kein Mensch sich über einen anderen erheben kann, weiter auf dem Gipfel.