Das Besondere am geheimen Pfad des Vajrayana ist es, den Körper als Gottheit hervorzubringen, das Mantra mit der Rede zu rezitieren und mit dem Geist im Samadhi, der Meditation der Versenkung, zu ruhen. Das ist die Wurzel des Vajrayana-Ansatzes. Dies ist eine kurze Aussage, aber ihre Bedeutung ist weitreichend. Um das zu bewerkstelligen, praktiziert man die Meditation auf sog. Meditationsgottheiten und die mit ihnen verbundenen zugehörigen erleuchteten Aktivitäten, die die geschickten Mittel darstellen, aus. Diese erleuchteten Aktivitäten können befriedend, vermehrend, magnetisierend oder kraftvoll befreiend sein. Gewöhnlich sind diese auch mit den Buddha-Familien verbunden und werden über die Farben der jeweiligen Meditationsgottheit dargestellt.
Egal welche Meditationsgottheit meditiert wird, das Ziel ist immer dasselbe, nämlich den Zustand der vollkommenen, vollständigen Buddhaschaft zu erlangen. Mit diesem Ergebnis der Praxis ist eine bestimmte erleuchtete Qualität verbunden, die sich in den vier erleuchteten Aktivitäten manifestiert.
Vier Aktivitäten
Durch die weiße Aktivität des Befriedens werden Krankheiten, Hindernisse und Negativitäten beruhigt gebracht. Durch die gelbe Aktivität des Vermehrens werden heilsame und konstruktive Potentiale vermehrt.
Doch manche Wesen sind nicht zu beruhigen, manche Störungen nicht zu befrieden, manchmal hilft auch noch so konstruktives Vermögen nicht, wenn die Hindernisse zu stürmisch und die Wesen zu störrisch sind. Dann kann die rote Aktivität des Magnetisierens bzw. des Kontrollierens angebracht sein. Bei besonders hartnäckigen und starren Hindernissen kann auch ein Ritual der kraftvollen Befreiung helfen.
Das Magnetisieren bringt Verwirrung unter Kontrolle und zähmt die stürmischen Energien, die die Phantasien von Ich und Mein, das Greifen nach Dualität, am Leben halten. Die Meditation auf die Erscheinung, das Mantra und den Geist der Kurukulle dient genau diesem Ansinnen.
Kurukulle – Lotus-Familie
Kurukulle, in Tibet auch als „Rigjema“ bekannt, ist eine tantrisch-buddhistische Meditationsgottheit mit Ursprung in Indien. Sie hat ein allgemein anerkanntes Erscheinungsbild, das zusammen mit anderen Formen, die weniger bekannt sind, sehr verbreitet ist. Es gibt zahlreiche Formen und Linien von Kurukulle, die aus den Kriya- und Anuttarayoga-Klassen des buddhistischen Tantra der neuen (Sarma) Traditionen stammen, und viele Formen aus den ‚Terma‘ (offenbarte Schatzlehren) der Nyingma-Tradition. Sie kann friedlich oder halb zornig sein und in einer Reihe von Farben von Weiß, Rosa und Blau bis zu ihrer typischeren roten Farbe erscheinen. In den Kriya-Tantras wird sie oft, aber nicht ausschließlich, als rote Machtausstrahlung von Tara dargestellt. Die meisten Formen der roten Tara sind jedoch nicht Kurukulle. In Anuttarayoga aus den Hevajra- und Vajrapanjara-Tantras ist sie eine Kraft, die von Shri Hevajra ausgeht.
In ihrer Erscheinung gehört sie zur Lotus-Familie mit dem Oberhaupt Amitabha, seiner friedvollen Sambhogakaya-Manifestation als Avalokiteshvara und seiner zornvollen Erscheinung als Hayagriva. So gesehen ist sie mit diesen Erscheinungen untrennbar auf letztendlicher Ebene vereint und manifestiert die mitfühlenden Tugenden von Amitabha. Daneben verkörpert sie als Dakini auch noch Weisheit bzw. höchstes Erkennen. So vereint sie Methode und Weisheit. Auf einer etwas weltlicheren Ebene repräsentiert sie die Kraft der Liebe, der Anziehung, der Jugend und Magie der Unterwerfung. Im Prinzip ist das nicht viel anders, als wenn eine prominente Person ihre Persönlichkeit, Schönheit und ihr Ansehen einsetzt, um für eine Wohltätigkeit zu werben und so förderliche Mittel wie Geld und guten Willen für eine Sache heranzieht. Bloß geschieht dies durch Kurukulle durch wundersames Wirken aufgrund der Realisation ihrer Praxis.
Wie in ihrem Praxishandbuch, dem Aryatarakurukullakalpa (tib., ‚phags ma sgrol ma kur u kul+le’i rtog pa), übersetzt vom gesagt wird:
„Von denen, die die Frucht der Buddhaschaft wünschen, wenn auch die anderen Juwelen respektvoll aufgegeben werden, verwandelt man sich in Vajradharma und wird so zum Wohltäter aller Wesen.“
Das Wirken der Kurukulle zeigt sich dabei primär im Beherrschen des eigenen Geistes. Da alles Wohl und Wehe aus dem eigenen Geist kommt, ist dieser die Wurzel der Verwirklichung. Sekundär werden dadurch auch andere Wesen und die Umstände kontrolliert. Wie in verschiedenen Schriften des Buddhismus immer wieder erwähnt wird, ist das Zeichen einer erfolgreichen Verwirklichung, das andere gezähmt werden.
Ebenfalls aus dem Praxishandbuch:
„Alle Buddhas sind Geist selbst. Durch den Geist selbst wird man befreit. Die Fesseln werden vom Geist durchbrochen, durch den Geist erreicht man Freiheit.
Abgesehen vom Geist werden Dinge und Entitäten nirgends gesehen. Daher gibt es keine Vollkommenheit, abgesehen von der Buddhaschaft und allen Errungenschaften, zu sehen.
Die Umgebungen und Lebewesen, die Elemente und ihre Ableitungen wurden von denjenigen, die die unbefleckte spezielle Sicht besitzen, als ‚nur Geist‘ bezeichnet. Deshalb sollte man sich bemühen, den Spiegel des Geistes zu reinigen. Fehler, die von Natur aus äußerlich sind, werden nach und nach völlig erschöpft sein.“
Im Vajrayana ist jede Rezitation von Mantras mit speziellen Visualisationen verbunden. Auch in der Praxis der Kurukulle gibt es verschiedene Mantras und Visualisationen, die dazu dienen, gewünschte Dinge anzuziehen. Ihre Erscheinung in Farbe und Haltung des Körpers, zusammen mit ihrem Schmuck und ihren Hilfsmitteln symbolisieren verschiedene Aspekte der Erleuchtung, die bei den Praktizierenden mittels der Meditation erweckt werden. Im Handbuch wird dazu gesagt:
„Derjenige, der diesen König der Mantras aufschreibt, einen Zauberspruch daraus macht und ihn am Oberarm trägt, wird Kubera gleichkommen und Schätze erlangen, die einem von anderen nicht weggenommen werden können.“
Und weiter:
„Es gibt überhaupt nichts, was keine Buddhaschaft ist. Um den Nutzen der Wesen zu erreichen, gibt es nichts, was bisher noch nicht getan wurde. Das, was degeneriert ist, beabsichtige ich wiederherstellen.“
Alles was dem Erlangen der Buddhaschaft dienlich ist, wird durch ihre Praxis bewerkstelligt. Sei es Geld, sei es passende Gefährten, sei es Wissen oder Macht und Einfluss – durch das Entfalten von Attraktivität werden die förderlichen Menschen und Dinge angezogen.
Die spirituellen Ziele sind mit der Anhäufung positiver Eigenschaften wie Weisheit, Bewusstsein und Mitgefühl verbunden, die spirituelle Ausstrahlung entwickeln und günstige Ereignisse und Menschen anziehen. Durch die Praxis ist es möglich, gute Gedächtnis- und Lehrfähigkeiten zu erlangen und Schüler und günstige Bedingungen für die Verbreitung des Dharma zu erreichen. Auf der letzten Ebene kann ihre Kraft darauf gerichtet werden, das Bewusstsein zu transformieren und Erleuchtung zu erlangen.
Laut tantrisch-buddhistischer Tradition ist Verlangen bzw. Leidenschaft das stärkste Geistesgift im menschlichen Bereich und die anhaftende Liebe die stärkste Emotion. Die Fähigkeit von Kurukulle, diese innigen Impulse in spirituelle Verwirklichung umzuwandeln, macht sie zu einer der wichtigsten buddhistischen Meditationsgottheiten.