Auf den ersten Blick macht das eine ganze Menge Sinn. Die Kurden kommen dem, was man im Mittleren Osten als good guys bezeichnen könnte, noch am nähesten, auch wenn sich jedem türkischen Innenminister bei dem Gedanken sofort die Zehennägel kräuseln - hielt die kurdische Terrororganisation PKK das Land doch zwischen 1978 und 2012 unter permanenter Anspannung. Die Kurden, die mehrheitlich dem sunnitischen Islam anhängen, haben sich gleichwohl von ihren Glaubensbrüdern in der Region deutlich distanziert und pflegen genau den moderaten Islam, der hierzulande immer als Integrationsvoraussetzung formuliert wird. Angesichts des Vormarsches radikaler Terrorgruppen haben sie in den kurdischen Autonomiegebieten die rechtliche Gleichstellung der Frau weiter vorangetrieben als fast jedes andere muslimische Land, und sie sind in ihrer gesamten Wertehaltung und ihrem Lebensstil westlich geprägt und neigen diesem auch politisch zu. Warum also unterstützt man nicht die Kurden?
Der Schlüssel liegt in dem vorher gebrauchten Begriff von den "Autonomiegebieten". Die Kurden besitzen nämlich keinen eigenen Staat. Stattdessen ist die zwischen 20 und 30 Millionen Köpfe zählende Volksgruppe über die Türkei, Syrien, den Irak, Armenien und den Iran verteilt. Und keines dieser Länder hat ein Interesse daran, Land und Bevölkerung an einen neuen Rivalen zu verlieren, und ein Rivale wäre dieses Kurdistan zweifellos. Während der Irak und Syrien sich inzwischen der normativen Kraft des Faktischen kaum mehr entziehen können, weil die Kurden hier praktisch bereits autonom sind und es keine Zentralregierung mehr gibt, die stark genug wäre, ihnen diesen Status zu entreißen, sieht die Lage in der Türkei ganz anders aus. Aber selbst wenn man die Türkei erst einmal für einen Absatz aus der Rechnung entfernt, ist die Lage für die Kurden nicht sonderlich rosig.
Zwar arbeiten sie gerade mit den Amerikanern zusammen. Aber die USA dürften kein großes Interesse daran haben, die Kurden aus dem Irak herauszulösen. Irak hat ohnehin eine mehrheitlich schiitische Bevölkerung (rund 60%), und wenn die Kurden (rund 18%) den Staat verließen, wäre der Irak nur noch ein hilfloser Teil der Schia-Achse, die sich von Libanon über Syrien und Irak nach Iran erstreckt und politisch auf Teheran ausgerichtet ist. Ein Irak, der kaum mehr als ein Satellitenstaat Teherans wäre, ein Syrien, das wechselseitig Teheran und Moskau verpflichtet ist und der Libanon, dessen mächtige Hisbollah-Miliz immer noch aus Iran finanziert wird - ein geopolitischer Albtraum für Washington. Und Syrien hat gerade Unterstützung aus Russland erhalten, das es zum Ziel erklärt hat, Assad als Herrscher des ganzen Syrien zu restituieren. Alle kurzfristigen Erfolge der Peshmerga können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im Zweifel wenig gegen die vereinte Stärke von Assad und Putin ausrichten kann.
Aber dann ist da noch die Türkei. Die ist nicht nur kein Gegner der USA (wie Syrien) oder ein effektives Protektorat (wie Irak), sondern eine souveräne Nation und, entscheidend, NATO-Mitglied. Und während ein westlich orientiertes Kurdistan alle möglichen strategischen Vorteile brächte, so wiegen keine davon den Verlust der Türkei auf. Und Präsident Erdogan hat bisher wenig Zweifel daran gelassen, was er von der Idee eines unabhängigen Kurdistan hält: Nichts. Mehr noch, er hat - trotz Terroranschläge innerhalb der Türkei - auffallend wenig unternommen, um in den Bürgerkrieg jenseits seiner Grenzen einzugreifen oder gegen den IS vorzugehen. Stattdessen versucht er aktiv, einen ethnischen Sperrgürtel zwischen die in der Türkei lebenden Kurden und die Kurden des Iraks und Syriens zu ziehen. Gleichzeitig bombardiert die türkische Luftwaffe kaum verhohlen unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung kurdische Stellungen und finden Öl und Waffen für den IS auffallend einfach ihren Weg über die türkische Grenze.
Obwohl die Peshmerga gegen den IS 2015 so große Erfolge feiern konnte wie kein anderer Kriegsteilnehmer, stellt das Jahr für sie gleichzeitig auch einen großen strategischen Rückschlag dar. Denn die Flüchtlingskrise, die Europa gerade in Atem hält, ist eine Katastrophe für die Kurden. Europa ist normalerweise nicht so sehr wie die USA in das great game der Geopolitik eingebunden und würde vielleicht den strategischen Wert der Türkei etwas niedriger hängen. Aber die Flüchtlingskrise macht Erdogan zu einem gefragten Gesprächspartner, denn er ist der einzige, der den ständigen Zustrom stoppen kann - indem er seine Grenzen sichert, was er bislang kaum tut, solange die Flüchtlinge nur weiter ziehen. Entsprechend stehen die Europäer gerade als Bittsteller vor der Tür, und Erdogan wird sich seine Kooperation teuer bezahlen lassen - in harten Euros sicherlich, aber vermutlich auch auf anderem Gebiet.
Die militärische Hilfe der Türkei ist genug für die USA, die polizeiliche Hilfe gegen Flüchtlinge ist genug für Europa. In keinem dieser Abkommen ist Platz für ein freies Kurdistan. Es sollte daher niemanden überraschen, wenn die Kurden letztlich vom Westen unter den Bus geworfen werden - ein Opfer für größere Ziele, das man leicht zu bringen bereit ist. Wer weiß schon etwas über die Kurden oder kümmert sich um ihr Schicksal?