Kunstmuseum Wolfsburg: Eine Stadt wird ausgestellt, Wolfsburg Unlimited, noch bis 11. September 2016

Der große Ausstellungsraum ist in schummriges Licht getaucht, der Weg führt zwischen Containern hindurch, Autos stehen in Reihen herum, auf großen Leinwänden laufen Bilder mit Ton, Koffer werden getauscht, Schießeisen ausgerichtet. Und sofort hat Ralf Beil uns da, wo er uns womöglich (exemplarisch) haben möchte: im Spannungsfeld zwischen lokal und global, zwischen Selbstgenügsamkeit und Unmoral, zwischen friedlichem Rückzugsraum und öffentlich gemachter Gewalt. Das Unsichtbare wird sichtbar gemacht, "die globalen Waren- und Finanzströme, die die Stadt Wolfsburg bestimmen und vom Volkswagenkonzern mitbestimmt werden, in der Stadt selbst aber kaum erfahrbar sind". Ein Autokino in einem Containerterminal - ein großartiger Kunstgriff! "Midwest" heißt dieser Ausstellungsteil, gestaltet von Julian Rosefeldt.
Es ist die erste Ausstellung, die Ralf Beil, der neue Direktor des Wolfsburger Kunstmuseums, selbst ganz und gar verantwortet. "Ob im Leben oder in der Kunst - zentral ist, dass wir mit Veränderungen bei uns selbst beginnen", schreibt Ralf Beil (Hervorhebung von mir), "in unserer unmittelbaren Umgebung. Deshalb thematisiert meine erste große Ausstellung als Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg ganz bewusst den eigenen Standort."
Wolfsburg Unlimited, Stadt ohne Grenzen, eine Stadt als Weltlabor, als Modell, kaum zu erforschen, grenzenlos interessant vielleicht?- ausgerechnet Wolfsburg, das als gesichtslos, als Stadt ohne Mitte gilt (s. S. 319 im Katalog)? Das mag bei der einen, dem anderen Kopfschütteln hervorrufen. Beil dazu: "Der Titel 'Wolfsburg Unlimited' verbindet ... unternehmerische und kreative Energie, Verortung und Entgrenzung. Was ist eine Stadt? Was macht sie aus? Was kann sie sein? Diese Fragen habe ich nicht nur mir selbst, sondern auch einem ausgewählten Kreis von Künstlerinnen und Künstlern gestellt, um Realitätsfacetten, Deutungen und Metamorphosen Wolfsburgs zu erkunden" (Hervorhebung von mir).

Ackermann_evasion

Auch wenn es bei dem Beispiel des Autokinos im Containerhafen womöglich so scheint: Einfach ist der Zugang zur Ausstellung nicht, auch nicht eindimensional. Gut so, die Aufgabe, einfache Zugänge zu schaffen, hat die Kunst der Gegenwart sicherlich nicht. Es gibt nicht den einen Sinn, dazu ist der Gegenstand Wolfsburg zu komplex; allein weil es "die Stadt" gar nicht gibt - Zentrum (mit der Achse Porschestr.), Werk und "Autostadt" sind ungenügend miteinander verbunden. "Sinn allein macht wenig Sinn", wird Alfred Brendel zitiert. "Sinn ist immer auf einen bestimmten Bereich eingeschränkt. Aber für den Unsinn sind die Grenzen des Intellekts weit geöffnet, das geht weiter ins Unendliche ..." (Hervorhebung von mir). Kunst sei "Unsinn" im besten Sinn fügt Beil hinzu.
Kein einfacher Zugang also, aber es werden Spuren gelegt, bei denen die Besucherin, der Besucher ganz frei gelassen werden, ihnen zu folgen oder nicht. Eine breite Spur, der sich zu entziehen allerdings nicht möglich ist, führt in die Nazivergangenheit; bekanntlich gehen die Gründung des Werkes und damit auch der Stadt auf Hitlers Forderung zurück, ein volkstümliches Auto zu einem volkstümlichen Preis zu entwickeln. Der Ausstellungsteil "Das Projekt Hollerhafen" hingegen legt eine Spur in die Zukunft: Nord und Süd, Autostadt und Kunstmuseum sollen durch eine neue Wasserstraße verbunden werden (Venedig in Wolfsburg). Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: Im unteren Bereich des Kunstmuseums wird eher die Zeitebene zum Ausdruck gebracht, im oberen u.a. mit den Stadtmodellen kommt die Raumebene zur Darstellung.
Derartige geradlinige Wege in die Ausstellung werden ergänzt durch viele Geschichten und Geschichten in der Geschichte (hier passt eher das Bild einer Spirale, der Weg führt immer weiter ins Innere hinein).

01_Fluchtschlitten

 Ein simpler Schlitten mit Rädern erzählt eine schier unglaubliche Geschichte: Erst diente er zum geheimen dienstlichen Transport für Krupp-Maschinenteile, die der Roten Armee nicht in die Hände fallen sollten, von Schlesien nach Bayern, dann als Fluchtschlitten und schließlich, nach Kriegsende, zum Transport von Brennholz. Die Geschichte Heinrich Nordhoffs  - von 1948 bis zu seinem Tod 1968 Generaldirektor des Volkswagenwerks - ist so sehr eine Geschichte für sich, dass der entsprechende Ausstellungsabschnitt "Museum König Nordhoff" genannt wird: Das inszenierte Foto aus Anlass des einmillionsten Volkswagens 1955 mit ihm herausragend im Vordergrund und der gesamten 29.000-köpfigen Belegschaft, aufgestellt auf der Südstraße des Werks, tief unter ihm und  verschwindend im Hintergrund, die durchaus gekonnte Handzeichnung einer Distel von ihm aus dem Jahre 1923 (da war er 24), seine Totenmaske - das sind Bilder, die in der Fantasie Teilgeschichten auslösen können; geradezu erschreckend wirkt das Foto der Inszenierung dadurch, dass es an die Masseninszenierungen der Hitlerzeit erinnert und damit symbolhaft belegt, dass es bei VW keinen Bruch mit der Nazivergangenheit gegeben hat.

VW_Nordhoff

Ganz anders, aber auch medienwirksam inszeniert, das Foto vom einmillionsten Gastarbeiter (einem Zimmermann aus einem nordportugiesischen Dorf) mit dem Moped, das ihm auf dem Bahnhof Köln-Deutz 1964 als Willkommensgeschenk überreicht worden war, ein Bild, das sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Irgendwo steht in der Ausstellung plötzlich ein Jahrmarktskarussell - warum? Es erzählt, dass das Wolfsburger Kunstmuseum selbst am Ort eines Rummelplatzes erbaut wurde (1994 eröffnet).
Mein persönlicher Tipp für eine Ausstellungsbesichtigung: Achten Sie auf die Gesichter! Einige Beispiele: Peter Koller, der Stadtplaner im Dritten Reich und darüber hinaus, in einer Art Siegerpose auf dem Gelände der künftigen Stadt; Hitler mit einem Modell des Volkswagens, ein Geburtstagsgeschenk; entsprechend und anders 1949 Ferdinand Porsche mit seinen Cousins Ferdinand Alexander Porsche und Ferdinand Piëch und dem Modell des Porsche 356/1; die strahlenden Gesichter des Gastarbeiter-Paares Annese vor ihrem Häuschen 1964/65; oder im übertragenen Sinne die "Gesichter" der Stadt im "Wolfsburg Diary" von Peter Bialobrzeski (2015).
Alles in allem: eine außerordentlich gut gelungene Ausstellungsgestaltung!

Ein Kernstück der Ausstellung ist die "Hall of Fame" Wolfsburgs, ein Museum im Museum - mit dem Untertitel "Von 10.000 vor Christus bis heute". Bewusst geht Ralf Beil weit zurück in die Vergangenheit des Ortes im Allertal, der noch lange nicht Wolfsburg hieß. Es beginnt mit einem Schulterblatt und Unterschenkelknochen eines Auerochsen und mit dem ältesten Fortbewegungsmittel der Gegend ohne Räder: einem Einbaum eines Fischers aus der Zeit vor etwa 3000 Jahren. Auf einem Gemälde aus dem 19. Jahrhundert ist der letzte Wolf auf dem Wolfswechsel bei Schloss Wolfsburg abgebildet. Sammlungsstücke wie diese stammen vom über 700 Jahre alten Schloss Wolfsburg, das auch das Stadtmuseum beherbergt. Ausführlich dokumentiert werden die Planungen des österreichischen Architekten Peter Koller von 1938 für die "Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben", die bis heute das Stadtbild prägen oder auch behindern; erst nach Kriegsende bekam die Stadt den heutigen Namen nach dem Schloss. Die Grundsteinlegung des Volkswagen-Werkes war eine grandiose, penibel geplante NS-Inszenierung im Mai 1938. Die Hitler-Skizzen als Entwurf des KdF-Wagens (angeblich von 1933) gelten heute als Fälschungen, die einen Mythos begründet haben. Die "Hall of Fame" wird bis in die jüngste Gegenwart fortgeführt mit dem "Spiegel"-Titel "Der Selbstmord" und einem Plakat zur Weltklimakonferenz Paris 2015 mit der Überschrift "We're sorry that we got caught" von Jonathan Abbott, das auf den zweiten Blick als Fake erkennbar ist.

Die "Hall of Fame" alleine wäre schon einen ausführlichen Besuch wert, ein Museum im Museum eben. Aber das ist noch lange nicht alles. Es ist mir hier unmöglich, einen vollständigen Einblick zu geben - ich bin versucht, das Wortspiel aufzugreifen und von einer "Exhibition Unlimited" zu sprechen ... Einige Abschnitte seien wenigstens noch aufgezählt:
"Fotogalerie Wolfsburg"  dokumentiert "Die Bildspur der Stadt".
Sehr aufschlussreich für das heutige Stadtbild ist das "Wolfsburg Diary" (27. September bis 3. Oktober 2015) - der Künstler Peter Bialobrzeski (der rund 30 Jahre vorher in Wolfsburg gelebt hatte) bekam den Auftrag, seine Eindrücke von der "hässlichen Stadt" in Wort und Bild zu sammeln; das Ergebnis ist in einem Extrabuch veröffentlicht (Verlag The Velvet Cell).
"Modellstadt Wolfsburg - Eine Raumcollage" zeigt, was alles geplant, verplant, verwirklicht oder in Archive versenkt wurde ...
In "Die Stadt - Das Werk - Die Welt - Das Museum" können einige zeitgenössische künstlerische Annäherungen besichtigt werden: beispielsweise das farben- und formenreiche Bild von Franz Ackermann "evasion XVII (two pipelines delivering a city-build me up to knock me down" (1998) (es wird auch auf den Werbeträgern verwendet) (s. 1. Bild oben); Nevin Aladag hat mit Harfensaiten ein Klangfester aufgebaut mit dem Blick auf das von ihr umprogrammierte Glockenspiel des Wolfsburger Rathauses.

Don Eddy_Untitled (Volkswagen)
Ein wunderbar anschauliches Kapitel ist "Archäologie eines Mythos (Volkswagen global - Vom siebten Sinn bis Skyfall)". Wegen der Wurzeln im Nationalsozialismus konnte die nationale Herkunft nicht hervorgehoben werden - die PR-Strategen verfielen auf den Trick, in anderen Ländern jeweils deren nationale Symbolik einzubringen, die deutsche Herkunft in den Hintergrund zu drängen. "Er (der Käfer) bot sich international geradezu für freundliche kulturelle Übernahmen an, die in mehreren Ländern in der vollständigen Einbürgerung und Erhebung zur Nationalikone gipfelten" (Bernhard Rieger im Katalog). In Mexiko heißt der Käfer "Vochito".
"Nudnik - Forgetting Josef Ganz" erinnert an den jüdischen Ingenieur und Journalisten ungarischer Herkunft Josef Ganz (1898-1967) - den eigentlichen Urvater des Käfers. Er hatte einen "Maikäfer" entwickelt und 1933 einen überarbeiteten Prototypen auf der Internationalen Automobilausstellung präsentiert, der sogar als "Volkswagen" beworben wurde. Bald darauf wurde Ganz verhaftet und war gezwungen, in die Schweiz zu emigrieren. Wieweit Ferdinand Porsche, der offizielle Erfinder des Volkswagen-Käfers, auch Unterlagen von Josef Ganz verwendet hat, ist unklar. Ralf Beil hat aus Anlass der Ausstellung mit Rémy Markowitsch zusammen den Niederländer Paul Schilperoord interviewt, der 2009 eine Ganz-Biografie veröffentlicht hatte (englisch 2012) (das Interview ist im Katalog nachzulesen). Hier schließt sich der Kreis beim Gang durch die Ausstellung, denn der Maikäfer kann in der Nähe des Eingangs als Oldtimer betrachtet werden.

Die Ausstellung, die rund 280 Objekte umfasst, dauert noch bis zum 11. September 2016. Dienstag bis Sonntag jeweils 11 bis 18 Uhr geöffnet, Eintritt 8 Euro, ermäßigt 5 (im Mai noch freier Eintritt). Der umfangreiche Katalog kostet im Museumsshop 35 Euro.

Text: Dr. Helge Mücke, Hannover. Bilder von oben nach unten: Franz Ackermann, evasion XVII (two pipelines delivering a city-build
me up to knock me down), 1998, Öl auf Leinwand, 250 x 300 cm, Sammlung Kunstmuseum Wolfsburg, Foto: Helge Mundt © Franz Ackermann; Fluchtschlitten, 1945, Schlitten mit Rollen, Holz, Eisen, 31 × 124 × 45 cm Foto: Marek Kruszewski; Heinrich Nordhoff und sein Werk, 1955, Foto: Reinhold Lessmann, © Volkswagen Aktiengesellschaft 2016; Don Eddy, Untitled (Volkswagen), 1971
Acryl auf Leinwand, 122 × 152 × 4 cm, Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Leihgabe der Österreichischen Ludwig-Stiftung seit 1991 © Don Eddy 2016.

Kunstmuseum Wolfsburg: Eine Stadt wird ausgestellt, Wolfsburg Unlimited, noch September 2016

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