Künstliche Intelligenz: 5 Pro-Argumente auf dem Prüfstand

Vor einiger Zeit erschien mein Artikel zum Thema Content Automation. Kurz nach der Veröffentlichung kam es zu interessanten Debatten bei Facebook und andernorts, bei denen ich eine erstaunliche Beobachtung gemacht habe: Immer wieder wurden die gleichen oder recht ähnliche Argumente der KI-Befürworter angeführt. Daher möchte ich in diesem Artikel auf die gängigsten dieser Argumente eingehen.

Argument 1: Künstliche Intelligenzen stecken noch in den Kinderschuhen

Die Behauptung, dass die KI noch in den Kinderschuhen stecke, ist ein Wiegenlied, mit dem Kritiker eingelullt werden sollen. Eine ähnliche Argumentation benutzen Klimaskeptiker. So vertritt ein nicht unerheblicher Teil der seriösen Klimaforscher die Position, dass sich einzelne Wetterphänomene nicht auf den Klimawandel zurückführen lassen. Was von Skeptikern zu Schlussfolgerungen à la „Na seht ihr, alles Panikmache!" umgedeutet wird.

Hierbei wird eine differenzierte Aussage instrumentalisiert, um die eigene Argumentation zu festigen. Genauso heikel wäre es, zu behaupten, dass der heutige Stand künstlicher Intelligenzen ein sinnvoller Gradmesser für nächsten 10, 20 oder 100 Jahre sei. Was wird damit eigentlich ausgesagt? Dass es keinen nennenswerten Fortschritt auf diesem Gebiet gibt?

Zum Vergleich: Wer hätte die Entstehung von WhatsApp und die virale Verbreitung von Sharing-Economy-Plattformen wie Uber oder Airbnb vor einer Dekade voraussagen können?

Wer beschwichtigen will, indem er der KI fehlende Intelligenz unterstellt, möchte einen wichtigen Diskurs umschiffen, den der Journalist Thomas Ramge in seinem Buch Mensch und Maschine auf den Punkt bringt:

Künstliche Intelligenz: 5 Pro-Argumente auf dem Prüfstand
Fragen wie diese sind es, die heute und nicht erst morgen an unsere Haustür pochen. Ethische Debatten darum sind kein netter Zeitvertreib von Orchideenfachangehörigen, sondern der Versuch, drängende Konflikte innerhalb unserer Gesellschaft mit einem halbwegs verträglichen Ergebnis zu lösen.

Verträglich für alle, die ein Interesse an der Verhinderung von sozialem Elend, Unruhen oder gar dem Zerfall des Gemeinschaftslebens haben. Und zwar rechtzeitig, denn weiterhin schreibt Ramge:

Die langfristigen Technikfolgen sollten diesmal im Gleichschritt mit der technischen Entwicklung gründlich abgewogen und kontrolliert werden und nicht erst im Nachhinein in Kauf genommen werden, wie im Fall des Verbrennungsmotors.

Dass künstliche Intelligenzen noch nicht hochintelligent sind, ist also kein Argument dafür, die Debatte für den Was-ist-wenn-Fall in die Zukunft zu verschieben. Strittig ist zudem, ob die Aussage überhaupt der Wahrheit entspricht.

Sind wirklich alle künstlichen Intelligenzen "gar nicht so schlau", wie das Handelsblatt behauptet? Und ist der Glaube an die rasante Entwicklung der Technik ein naturalistischer Fehlschluss, wie es Hennig Beck ausdrückt? Erneute Gegenfrage: Wer hat heute noch sämtliche Entwicklungen auf diesem Sektor im Überblick?

Argument 2: Mit KI werden keine Jobs ersetzt, sondern Entlastungen geschaffen

Bei der Betrachtung des ersten Arguments haben wir gesehen, dass KI-Befürworter auf den Jetzt-Zustand verweisen. Daher ist es nur folgerichtig, wenngleich auch lückenhaft, wenn sie Testimonials von Unternehmen heranziehen, die trotz der Einführung von KI keine Mitarbeiter entlassen haben.

Was in dieser Darstellung nicht enthalten ist: Längst handeln Konzerne wie die japanische Fukoku Mutual Life Insurance genau so. Mindestens 30 Porzent ihrer Mitarbeiter werden durch die künstliche Intelligenz Watson ersetzt.

Dazu schreibt Journalist Ramge:

Je schneller sich KI am menschlichen Arbeitsplatz ausbreitet, desto weniger Zeit bleibt dem Menschen für die Anpassung seiner individuellen Qualifikationen und der kollektiven Sicherungssysteme. Eine neue Generation von Automatisierungsverlierern wird dann wahrscheinlicher. Bei aller Unsicherheit in der Vorschau ist allerdings sicher, dass Politiker weltweit bis heute nur wenige kluge Antworten auf die Herausforderungen des nächsten großen Automatisierungsschubs gefunden haben. Wir sind nicht gut vorbereitet auf die Rückkehr der Maschinenfrage.

Entsprechend hilflos versucht die Bundesregierung seit Sommer 2018 dieser Maschinenfrage Herr zu werden, indem sie eilig eine Enquete-Kommission ins Leben rief. Diese soll über die nächsten zwei Jahre untersuchen, wie sich künstliche Intelligenz und algorithmische Entscheidungssysteme auf unsere Gesellschaft auswirken. Doch eine solche Kommission kommt zu spät. Denn die Systeme und Algorithmen durchziehen unseren Alltag längst.

Nun wissen Unternehmen wiederum, dass sie ein Narrativ brauchen, um einen womöglich aufkeimenden Widerstand ihrer Mitarbeiter bei Betriebseinführung künstlicher Intelligenzen zu unterbinden oder, besser noch, diesen Widerstand von vornherein zu verhindern. Also behaupten sie, dass nur die lästigen oder gefährlichen Jobs wegfallen, die für jeden Menschen per se eine Zumutung sind. Ein historisches Beispiel für derlei Jobs sind die Liquidatoren, die während der Atomkatastrophe von Tschernobyl zu Tausenden ihr Leben geopfert haben, um eine noch schlimmere Katastrophe zu verhindern.

Und natürlich wäre es ein Segen, wenn statt Menschen künftig Maschinen in eine radioaktive Brühe tauchen und dort erforderliche Arbeiten vornehmen könnten. Ebenso wären künstliche Intelligenzen bei der Minenräumung oder anderen gefährlichen Arbeiten eine echte Alternative. Aber geht es in der Debatte um die Verdrängung von menschlicher Arbeit durch KI primär um solche Extremfälle? Viel drängender ist doch die Frage, ob normale Jobs von künstlichen Intelligenzen wegrationalisiert werden und was dann mit den Menschen geschieht.

Das Beratungsinstitut McKinsey kommt hierbei zu einem klaren Ergebnis: Durch Automatisierung könnten allein in Deutschland 20,5 Millionen Jobs durch Maschinen bzw. Computer ersetzt werden. Das sind 48 Prozent aller Arbeitsplätze.

Künstliche Intelligenz: 5 Pro-Argumente auf dem PrüfstandQuelle: Statista

Hier bahnen sich also massivste Umwälzungen an, welche denen der Industriellen Revolution gleichkommen. Um- und Weiterbildungsmaßnahmen mögen ein Weg sein, einen Teil der Mitarbeiter im Boot zu behalten. Doch wird das längst nicht auf alle von ihnen zutreffen, wie Ramge treffend feststellt.

Argument 3: Künstliche Intelligenzen bringen den Menschen Fortschritt

Der tiefe Wesenskern des Kapitalismus liegt in der Selbstentfremdung des Menschen, wie es Marx und Engels in Die deutsche Ideologie bereits beschrieben haben. Diese Selbstentfremdung geschieht genau dann, wenn dem Individuum „die eigne Tat [...] zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht".

Selbstentfremdung führt zu einer Ohnmacht der breiten Masse an Menschen, die für eine ihnen fremde Macht Tätigkeiten ausführen müssen, um ihr Überleben zu sichern. Denn der Begriff Macht impliziert, dass es Mächtige und Ohn-Mächtige gibt.

Wie diese Macht heute aussieht, lässt sich zum Beispiel in Gründershows im Fernsehen beobachten: Wie römische Kaiser thronen die Investoren vor den Bittstellern, verspotten diese, stellen deren Anfragen nach Kapital bloß, zerreißen Ideen genüsslich in der Luft. Sehr zur Freude des Publikums in diesem TV-Kolosseum, sehr zu unserer Freude also. Und hier sind wir am eigentlichen Casus knacksus angelangt: Künstliche Intelligenzen verschaffen uns wie auch das Fernsehen den Genuss der Interpassivität.

Wir sind nicht mittendrin, sondern nur dabei. Und zwar immer komfortabler. Dies wird von den Mächtigen der Politik und Wirtschaft als Fortschritt angepriesen: Lebe dein Leben jetzt noch bequemer, indem die KI für dich einkauft, putzt usw.

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Interpassivität ist das große Versprechen aufblühender Technologien. So ist das als Immersion beschriebene multisensorische Einsaugen aller Sinne das Grundprinzip von Virtual Reality. Anstatt selbst zur Besichtigung einer Wohnung zu fahren, in der man die nächsten 20 Jahre seines Lebens verbringen wird, schaut man sich die Bude virtuell mit einer Brille auf dem Kopf an.

Anstatt selbst im Roten Meer zu schnorcheln, lade ich mir einfach eine 360-Grad-App herunter, mit der ich das Erlebnis simulieren kann. Getreu dem Motto: Wasch mir den Alltag von der Haut, aber mach mich nicht nass.

Künstliche Intelligenzen heben das Versprechen von mehr Komfort durch maximale Befriedigung an Interpassivität auf einen neuen Level. Mit Dash-Buttons am Kühlschrank und sogenannten Sprachassistenten entmündigt sich der Verbraucher bereits nach Herzenslust selbst. Der Philosoph Byung Chul-Han schreibt dazu:

Das Internet der Ding e bringt neue Gespenster hervor. Die Dinge, die ehemals stumm waren, beginnen nun zu sprechen. Die automatische Kommunikation zwischen den Dingen, die ohne jedes menschliche Zutun stattfindet, wird neue Nahrung für Gespenster liefern. Sie macht die Welt gespenstischer. Sie wird wie von Geisterhand gesteuert. Die digitalen Gespenster würden womöglich dafür sorgen, dass irgendwann alles außer Kontrolle gerät.

Maschinen, Objekte also, beginnen plötzlich Eigenschaften von menschlichen Subjekten anzunehmen: sprechen, lernen, arbeiten. Sie machen die Welt zu einem gespenstischem Ort, was aus der Perspektive eines universalistischen Humanismus alles andere als fortschrittlich ist.

Argument 4: Die Bevölkerung ist bereit für Künstliche Intelligenz

Künstliche Intelligenz: 5 Pro-Argumente auf dem PrüfstandQuelle: Bertelsmann Stiftung Wie beeinflussen künstliche Intelligenzen unser soziales, kulturelles und politisches Umfeld?

Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung kommt zu folgenden Ergebnissen:

Dabei möchte jeder Zweite einer Bitkom-Umfrage zufolge dieses Thema verstehen. Hier müssen Politik, Wirtschaft und Bildung dringend ansetzen, um Klischees und damit verbundene Ängste abzubauen. Abbauen bedeutet jedoch nicht, begründete Einwände als „Horrorszenarien" zu relativieren. Denn diese ausweichende Argumentation lenkt von der eigentlichen Frage ab:

Der IT-Wissenschaftler Pedro Domingos schreibt in seinem Buch The Master Algorithm:

Die Menschen haben Angst, dass Computer zu schlau werden und unsere Welt übernehmen könnten. Das eigentliche Problem ist aber doch, dass sie dumm sind und die Welt bereits übernommen haben.

Was aber nicht bedeutet, dass in Zukunft nicht auch schlaue Maschinen diese Übernahme vollziehen werden. Ob dumm oder intelligent, die wesentliche Problematik wird auch hier nicht erkannt, nämlich die Frage, wie viel Raum für menschliches Leben wir den Maschinen überlassen wollen. Dazu ein paar interessante Fakten einer Bitkom-Studie:

  • 9 Prozent würden die Frage nach einer Gehaltserhöhung lieber von einer KI als von ihrem Chef entscheiden lassen
  • 15 Prozent würden sich bei einem Kredit lieber von einer KI als von einem Bankangestellten beraten lassen
  • 9 Prozent halten die Entscheidung einer KI in einem Beziehungsstreit für sinnvoll

All das sind Räume, bei denen unsere Gesellschaft entscheiden muss, ob wir sie künstlichen Intelligenzen überlassen. Denn diesen Beispielen ist eines gemein: Sie entmündigen mich, da ich wesentliche Spielarten der menschlichen Kommunikation nicht mehr brauche.

Bei einer Gehaltserhöhung benötige ich Verhandlungsgeschick, bei der Kreditaufnahme eine Grundkenntnis von Finanzen und Zinsen und bei einem Beziehungsstreit sollte ich vielleicht lieber an meinen kommunikatorischen Fähigkeiten feilen, anstatt einen Roboter danach zu fragen, ob wir jetzt das Sofa oder doch den Kühlschrank kaufen.

Argument 5: Künstliche Intelligenzen sind sicher

Im folgenden Satz, gefunden bei der Vogel Communications Group, drückt sich der ganze Abgesang auf Eigenverantwortung des modernen Konsumenten aus:

Und die Wahrheit ist, dass KI-Geräte auch zu Abhörgeräten werden können. Es ist sogar erwiesen, dass es eine Möglichkeit gibt, ein Amazon Echo zu hacken. Allerdings sind die meisten Verbraucher nicht besorgt genug darüber, abgehört zu werden. Und viele verzichten nur ungern auf ihre persönlichen Assistenten.

Warum sollte der Verbraucher auch angesichts einer Totalüberwachung, die jederzeit in seiner eigenen Wohnung vollzogen werden kann, auf seinen persönlichen Assistenten verzichten? Anders ausgedrückt: Wer Alexa darum bittet, Das Leben der Anderen für einen netten Filmabend in sein Home Cinema zu beamen, hat etwas Grundsätzliches nicht verstanden.

Nämlich, dass der Wert des Privaten als höchstes Gut betrachtet und verteidigt werden muss, wie Beate Rössler in ihrem gleichnamigen Buch feststellt:

Künstliche Intelligenz: 5 Pro-Argumente auf dem Prüfstand
Wenn Maschinen uns auslesen können wie eine Festplatte, verlieren wir diese Kontrolle der Selbstdarstellung. Dann weiß der Personaler noch vor dem ersten Bewerbungsgespräch, wann wir wo das erste Mal auf einer Party gekotzt haben. Und zwar ohne sich durch unsere Facebook-Bildergalerien klicken zu müssen.

Auch der Finanzberater hat Kenntnis darüber, dass wir uns mit dem Partner gestern Abend bei einem Glas Wein über einen Bausparvertrag unterhalten haben. Von totalitären Systemen, die sich noch für ganz andere Informationen interessieren, will ich gar nicht erst anfangen.

Nur soviel: Für den Krieg eignen sich künstliche Intelligenzen hervorragend. Daher entwickeln mehrere Nationen bereits autonome Waffen.

Künstliche Intelligenzen sind keineswegs sicher, weil ihre weitreichenden Folgen überhaupt nicht abgeschätzt werden können. Deswegen sind es ja Intelligenzen und keine Maschinen, die sich vom Verschleiß abgesehen auch nach 50 Jahren nicht in ihrer Funktionsweise ändern. Daher fordern renommierte Forscher in der Studie The Malicious Use of Artificial Intelligence eines Schutz vor Missbrauch von künstlichen Intelligenzen.

Chance oder Bedrohung: Wie ist Ihre Meinung zu künstlichen Intelligenzen?

Die Frage bleibt offen, wie der Mensch künstlichen Intelligenzen so begegnet, dass er nicht die Kontrolle darüber verliert. Wir alle sind in diesem Diskurs gefragt und sollten hellhörig werden, wenn uns der Widerspruch ins Gesicht schlägt: Wie kann es sein, dass einerseit künstliche Intelligenzen noch in den Kinderschuhen stecken und wir andererseits immer wieder auf die riesigen Chancen selbiger Technologie hingewiesen werden?

Das passt nicht zusammen und ist ebenso widersprüchlich bei der Einführung von automatisiertem Content. Die übrigens kein Naturgesetz ist, sondern eine Entwicklung, die Publisher wie auch Unternehmer, Politiker, Wissenschaftler und Medien genau beobachten müssen. Aber das nur am Rande dieser komplexen Diskussion.


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