KunstFestSpiele Herrenhausen 2015 in Hannover: "Gegen den Strich" lautet dieses Mal das Motto. Zum letzten Mal leitet Elisabeth Schweeger die KunstFestSpiele - sie hat auch sonst gegen den Strich gebürstet (seit 2009 war sie Intendantin).
Warum das Motto "Gegen den Strich"? Ich zitiere Elisabeth Schweeger (auszugsweise, Hervorhebungen von mir): "Was kann und was muss heute die Rolle des Ästhetischen sein? Eine Kunst, die uns ausschließlich der Beschwichtigung dient und uns damit der Verantwortung enthebt ... wäre kaum zu verantworten, weil sie bloß das Bestehende fixiert, ohne Entwicklung zuzulassen. Kann sie aber das Umgekehrte tun, Realität verändern? Ja, weil sie Fragen stellt, irritieren kann, uns neue Wahrnehmungen ermöglicht und uns das Staunen lehrt - der Beginn eines neuen Gedankens und damit neuen Handelns. Kunst ist somit ein widerständiger Akt ...
Querdenkerinnen und Querdenker stehen im Zentrum der KunstFestSpiele Herrenhausen 2015. Vorbilder in autonomem und unangepasstem Denken. Rebellinnen und Rebellen gegen die Bequemlichkeit. Heldinnen und Helden des Ungehorsams. Heroinnen und Heroen des Eigensinns, die durch ihren Mut Aufmerksamkeit erzielten oder erzielen und hierbei die Kunst - mit ihr aber auch die Sicht auf unsere Welt - veränderten oder verändern ...
Gegen den Strich zu denken beinhaltet ... immer auch, der Vielfalt und der Unterschiedlichkeit Raum und Freiheit zu geben und diese zu respektieren lernen, und somit Verantwortung zu übernehmen für sich, den anderen und die Gesellschaft, jenseits des eigenen kleinen Vorgartens.
Das kann Kunst. Das bietet Kunst. Begleiten Sie uns. Lassen Sie sich erstaunen, irritieren, aufrühren, berühren."
Etliche Veranstaltungen haben inzwischen stattgefunden (seit 29. Mai) - u.a. wurde das Theaterland China vorgestellt, aber mit zwei wagemutigen Theaterkünstlern, die entgegen dem Hauptstrom mit Performances und Musiktheater an alte Traditionen anknüpfen. Schon der erste Abend (29.5.) war etwas ganz Außergewöhnliches: ein Konzert auf Klangkörpern, die Harry Partch (1901-1974) schon in den 1930-er Jahren eigens für seine visionäre "Musik" gebaut hatte, die sonst gar nicht spielbar gewesen wäre. Mehr Informationen zu den bisherigen Veranstaltungen können auf der Netzseite der KunstFestSpiele abgerufen werden.
Auch heute (seit 17 Uhr) finden unter der Überschrift Salto Vocale zwei ganz besondere Konzerte statt: Der Abend bis in die Nacht hinein ist der "menschlichen Stimme im ganzen Reichtum ihrer zeitgenössischen Facetten und Ausdrucksfarben" gewidmet. In dem einen Konzert, "Multiple Voices" präsentieren zwei Menschen - Terry Wey und Ulfried Staber - sukzessive die vierzigstimmige Motette "Spem in Alien", eines der extremsten Werke der Renaissance; jede der Stimmen wird einzeln gesungen und wieder-ertönt nach und nach, von einer Klangregie zugemischt, aus den 16 im Raum verteilten Lautsprechern - erst nach sieben Stunden, um Mitternacht, wird das vollendete Werk erklingen (unteres Bild, das die beiden Künstler vervielfacht zeigt). Wie es heißt, wird die Abendkasse erst 30 Minuten vor Konzertende geschlossen - vielleicht mögen Sie ja noch dazustoßen? Das zweite Konzert hat gerade gegen 19 Uhr begonnen - es vereint den "Extremvokalisten" David Moss (Bild darüber) mit dem Schweizer Stimmkünstler Christian Zehnder, der aus der alpenländischen Tradition kommt und nichts weniger entwirft als "eine ideologiefreie Volksmusik der Zukunft" (laut "Jazz thing").
Über einige weitere Veranstaltungen werde ich in diesem Kulturblog noch berichten.
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; die Bilder von oben nach unten: Portrait Elisabeth Schweeger © Alexander Paul Englert; Panorama-Ansicht von "Multiple Voices", Terry Wey und Ulfried Staber, © Nicola dal Maso; David Moss © Luca Abbiento.