Kuno Kruse – Der Mann, der sein Gedächtnis verlor

Von Nicsbloghaus @_nbh

(hpd) Missbrauch verjährt. Das gilt für die Täter. Für die Opfer gilt das nicht. Die Taten begleiten sie lebenslänglich. Es gibt etwa eine Dreiviertelmillion von ihnen. Von den Opfern. Jonathan Overfeld ist einer davon. Er brach das Schweigen.

Eines Abends saß ich vor dem Fernseher. In der Sendung „Kulturzeit“ bei 3sat wurde ein Buch vorgestellt. Es war Kuno Kruses „Der Mann, der sein Gedächtnis verlor“. Auch der Mann, über den Kruse schreibt, Jonathan Overfeld, wurde interviewt. Ich saß vor dem Fernseher und war zugleich betroffen und wütend. Das Buch bestellte ich noch in der gleichen Nacht.

Dann lag es vor mir. Ich begann darin zu lesen. Und fand anfänglich den sehr auf Abstand bedachten Stil, diese kurzatmigen Sätze eher befremdlich. Mir fehlte die Nähe zur Person. Ich meinte, dass ich kaum in der Lage wäre, nachzuvollziehen, welche psychischen Abgründe die Hauptperson erlebt. Diese Distanz zu den Geschehnissen war mir fremd. Später wies mich eine psychologisch Wissendere darauf hin, dass dies die männliche Art wäre, mit tiefem Schmerz umzugehen. Und inzwischen bin ich mir auch sicher, dass ich mehr Nähe nicht ertragen hätte. Ich habe so schon hart zu kämpfen mit diesem Buch.

Es ist schonungslos. Es nimmt kein Blatt vor dem Mund. Es ist die Biographie eines Menschen, den man zu brechen versuchte. Und der es irgendwie trotzdem schaffte, zu überleben. Es befragt den Menschen Jonathan Overfeld und berichtet über die helfenden Psychologen. Das Buch lässt den Leser an den Stellen, an denen die Psychologen und der Autor selbst zu Wort kommen, Luft schöpfen. Allein nur zu lesen und dabei zu sein, welch unglaublichen Qualen Overfeld ausgesetzt war… es hätte mich noch mehr Kraft gekostet, das Buch zu lesen.
Ich bin ein schneller Leser. Für dieses Buch habe ich mehr als vier Wochen benötigt. Ich habe es immer wieder weggelegt, weil es kaum zu ertragen war.

„Warum sitzt er plötzlich nachts auf diesem dreckigen Sandhaufen unter dieser taubenverschissenen Brücke? Er sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach eins. Dabei kann er sich doch genau erinnern, dass er gerade erst die Wohnungstür verschlossen hat.“ (Seite 35) Jonathan Overfeld „war sich selbst entfallen wie anderen eine PIN oder der Name eines Schauspielers.“ (Seite 15) – er leidet unter einer Amnesie. Er weiß nicht mehr, wer seine Freunde sind. Wo er lebt. Wer er ist.

Das Buch begleitet Jonathan Overfeld bei seinen Versuchen, wieder in sein Leben zu kommen. Es zurück zu erobern. Schnell wird klar, dass dieser Gedächtnisverlust mit seiner Kindheit zu tun haben muss. Dass es da etwas gibt, das die Psyche so unerträglich findet, das so tief verdrängt ist, dass sie das Gedächtnis „abschaltete“. Der Leser begleitet Jonathan bei seiner Reise in die Vergangenheit. Das jedoch ist ein wahrer Horrortrip. Es ist sowohl Jonathan Overfeld zu danken, dass er sein Schicksal für viele sprechen lässt, als auch dem Autoren Kuno Kruse, der es vermag, die Geschichte so zu berichten, dass sie nahe geht ohne ins Mitleidige abzudriften. Meine Hochachtung vor beiden.

Die Einzelheiten des Buches will ich an dieser Stelle nicht berichten. Das kann nur ein Abklatsch sein dessen, was Kruse und Overfeld mit dem Buch gelingt. Lesern des hpd sind einige der kaum erträglichen Berichte von Heimkindern1 bekannt. Anderes wird in den kommenden Wochen hier berichtet werden (müssen). Denn bei aller Härte, beim allem Schmerz: Es muss klargestellt werden, dass es neben den Schicksalen der Opfer auch die Verantwortung der Täter gibt. Noch immer gilt: „Missbrauch verjährt. Das gilt für die Täter. Für die Opfer gilt das nicht. Die Taten begleiten sie lebenslänglich.“ (Seite 197)

Nic


[Erstveröffentlichung beim hpd]

weitere Rezensionen:
Jungle World: Vergessene Welt
ad sinistram: Auf nichts zurückgreifen können…

  1. Siehe hier: http://hpd.de/node/10896 und hier: http://hpd.de/node/10923