Als Kind war ich in einer „Bande“. Also wir waren die „Gangster von der ***straße“. Mit den Kindern der Nachbarschaft haben wir uns ständig um ein unbebautes Grundstück gestritten, das wir wegen seiner 3,25m Höhe den „Berg“ nannten. Die ***straße hatte ein Natur gegebenes Recht am Berg, da er ja direkt an unserer Straße lag. Und zwar mit der längeren Seite. Da konnten die &straßen Scheißerchen reden wie sie wollten, dass der Berg auch an ihrer Straße grenzte.
Später wuchs ich natürlich über diesen Unsinn hinaus. Waren wir nicht alle Meerbecker? Wieviel wichtiger war es, sich als Meerbecker von dem Rest des korrupten und verdorbenen Moers abzuheben! In Meerbeck waren alle Malocher. Selbst wir Kinder. Solidarität war groß geschrieben, die Knappschaft, die Gewerkschaft, die Zechen, das war Meerbeck. In, sagen wir, Schwafheim, wohnte der bürgerliche Mittelstand, der Feind.
Mit dem ich natürlich dann auf das Gymnasium ging. Und lernte, wie großartig es ist, Moerser zu sein. Moers hatte alles. Ein Schloss, den riesigen Schlosspark, ein großes kleines (Schloss-)Theater, in jedem Viertel eine Leihbücherei. Ein internationales Musikfestival. Ein sehr lebendiges Nachtleben. Den Pott gleich nebenan. Wie viel langweiliger war doch unsere Kreisstadt Wesel. Gähn!
(c) Martin Hoffmann 2006: mh-fotos.de
Aber eigentlich war ich dann doch froh, Niederrheiner zu sein. Besonders nach dem Umzug nach Göttingen. Plötzlich war dieser Mischung aus Deutschland und den Niederlanden, die ich zeitlebens als spießiger Flecken Flachland mit geschwätzigen Menschen und langweiliger Landschaft betrachtet hatte wie der Garten Eden, aus dem ich mich selber verbannt hatte. Waren wir nicht die „richtige“ Rheinseite? Sind wir nicht die wahren Erben der römischen Kultur, die nie zu den Barbaren am anderen Ufer vordrang? Und ist der Altrhein im Nebel mit seinen Kopfweiden nicht der schönste Anblick von allen? Die Tränen schossen mir in die Augen vor Heimweh.
Dann kam die „Wende“ und plötzlich war ich Westdeutscher. Die Göttinger waren alle aus dem Häuschen als die Mauer fiel. Die Studierenden aus dem Westen sahen das mit Befremden. Natürlich freuten wir uns für die DDRler. Irgendwie. Das treffendste Bild unserer „Euphorie“ war die Party, die ich im November ’89 in meiner Wohnung gab. „Übrigens: die Grenze zur DDR ist offen!“ Und alle so: „Yeah“. Dafür stank Göttingen bald wie die Pest und ich sah zum ersten Mal in meinem Leben ausverkaufte Regale im Supermarkt. Mit Anfang 20 wurde ich ein „Wessi“, der auf „Ossis“ schimpfte.
Als „Nur-Deutscher“ fühlte ich mich nie nie. Komisch, ist aber so. Ich denke, das hat mit der Erziehung meiner Generation zu tun, die panisch darauf bedacht war, nie wieder Nationalismus zuzulassen. Die Wiedervereinigung hat zu einer großen Verunsicherung vor allem linker Kreise geführt. Und ich war damals sehr links. Das Paradoxe: Die miefige, spießige Bonner Bundesrepublik mit Kohl als Kanzler stand einem plötzlich näher als die neue Berliner Republik. Natürlich wollte niemand ernsthaft in der DDR leben. Aber in dem Moment, als sie unterging, und damit der Gegenentwurf zum vom Großkapital beherrschten und latent faschistischen Westdeutschland, wurde dieses „unser Land“.
Meine Rettung war ein dreimonatiger Aufenthalt in Mexiko mit Stippvisite in den USA. Amerika war zwar immer schon der imperialistische Bösewicht, aber damals in den 90ern konnte ich es deutlich sehen, wie sehr es sich von Europa unterscheidet. Und plötzlich war ich Europäer. Bei allem, was unseren Kontinent trennt, können wir uns doch auf ein gemeinsames kulturelles Erbe zurückblicken. Auch, wenn das zu einem Großteil der letzten drei Jahrtausende darin bestand, dass wir uns gegenseitig abgeschlachtet haben. Immerhin sind wir dann in großem Einvernehmen dazu übergegangen, Andere abzuschlachten, auszubeuten, zu unterwerfen und versklaven. Bevor wir uns dann wieder selber umgebracht haben.
Meine Europäer-Phase dauert bis heute, auch wenn ich mittlerweile eher die „Aufklärung“ als mein kulturelles Zuhause sehe, als den alten Kontinent. Mit Europa ist das wie mit einer Familie bei mir. Man kann Tante Irmgard nicht leiden, ist total genervt vom blöden Cousin Werner und heimlich verknallt in die Tochter von Onkel Otto. Oma und Opa sind immer für nen 20er gut und auch wenn die Mischpoche sich insgeheim nicht ausstehen kann, sind wir doch Familie und wehe, jemand kommt einem von uns stinkig.
Jetzt warte ich darauf, dass ich mich als Mensch fühlen kann, der sich von allen Unmenschen abhebt.