Kulturblog-Jubiläum: 500. Artikel - Meine Landschaft oder: Was mich besonders berührt ...

Dies wird der 500. Artikel in meinem Kulturblog sein, den ich im Herbst 2005 begann. Ganz in Vergessenheit geraten, auch bei mir, ist, dass der (das) Blog ein Symbolbild hat: das Flugbild eines Kolkraben. Der Rabe als nordischer Weisheitsvogel, Begleiter Odins, die Entsprechung zur Eule (dem Steinkauz), dem Weisheitsvogel der Athene.

Rabeklein

Ich habe eine Weile überlegt, wie ich das Jubiläum durch einen besonderen Artikel feiern kann - ich könnte z.B. ältere Artikel in überarbeiteter Form wieder einstellen oder durch Links auf sie verweisen. Diese Möglichkeit habe ich hier nicht gewählt - mit einer Ausnahme: Der Aufsatz über Marlene Streeruwitz in Form eines Briefes an die Autorin ist etwas so Besonderes (auch für mich eine Wiederentdeckung), dass ich hier an ihn erinnern möchte. (Warum gerade dieser Artikel über das Suchwort "Streeruwitz" nicht angezeigt wird, kann ich nicht erklären ...) Doch stöbern Sie am besten selbst! Am besten benutzen Sie das "Archiv" am linken Rand mit seinen Zeitangaben.

Statt eines Blickes in die Vergangenheit, schildere ich lieber einige Eindrücke aus der Gegenwart. Fasziniert bin ich immer wieder davon, dass verschiedene Informationen und Erlebnisse, die auf mich zukommen, zusammenpassen, dass unversehens Querverbindungen zwischen ihnen entstehen - bloßer Zufall??

Meine Landschaft duftet nach Thymian, Salbei und Basilikum. Aber es ist keine südliche Landschaft: Der Duft kommt von meinem Balkon Richtung Südwesten in Hannovers südlichem Stadtteil Ricklingen im 5. Stock unter dem Flachdach - nahe dem Himmel, den Mauerseglern und Kolkraben. An diesen besonders warmen Tagen bin ich, wie mensch sich vorstellen kann, dem Himmel besonders nahe ...Die Wärme belebt Körper und Seele, erschwert aber oft das konzentrierte Denken. Bewegung hilft immer.

Meine Landschaft wird immer weiter und reicher, je länger ich lebe. Bei meinen täglichen Spaziergängen mit Rollator (morgens) begegne ich immer wieder neuen Menschen, z.B. dem Zinnkrautsammler oder dem Flötenspieler (leider kam er nur einmal, er saß bei offener Tür in seinem Auto und übte Querflöte) oder dem Kinderwagenjogger. Ich benenne sie und nehme sie dadurch in meine Landschaft auf. Meine Landschaft erweitert sich - zum einen - durch Begegnungen und Beobachtungen in der Natur und - zum anderen -  durch Literatur. Lese-Erlebnisse beglücken und können die Wahrnehmung draußen schärfen. Während der starken Sommerwärme ist das Pendel stärker auf der Seite des Innenraums (Lesen als Rückzugsort), bei kühlerem Wetter zieht es mich mehr nach draußen, ich kann beobachten und alles bei mir widerspiegeln, der Geist wird erfrischt (Lebenslese als Entwicklungsort).

Jeden Morgen höre ich "Am Morgen vorgelesen" im Radio (NDR Kultur) (trotz akustischer Darbietung zähle ich dies zu den Lese-Erlebnissen). Bis zum Ende der vorigen Woche durfte ich dabei den letzten Roman von Peter Härtling, posthum erschienen, kennenlernen (der Autor starb im Juli vorigen Jahres im Alter von 83 Jahren): "Der Gedankenspieler". Ein autobiografisch geprägter Roman, der die letzte Lebensphase eines Mannes schildert. Der Architekt Johannes Wenger ist gestürzt und auf fremde Hilfe und einen Rollstuhl angewiesen. "Wenger ist ein Griesgram, einer, der anderen vor den Kopf stößt, die ihm Gutes tun wollen. Einer, der es schwer hat zuzugeben, dass er es allein nicht mehr schafft. Wenger ist ein Eigenbrötler, ein Einsamkeitsverkoster, der Häuser gebaut hat und selber unbehaust blieb. So beschreibt er sich in einem Brief an seinen Hausarzt" Mailänder, der ihm im Laufe der Jahre zu einem guten Freund geworden ist. (Zitate aus dem NDR-Text von Annemarie Stoltenberg.) "Peter Härtling war eine große, starke Persönlichkeit und konnte Schicksalsschläge in Güte und Mitgefühl für andere verwandeln, in Respekt vor den Lebensgeschichten, die Menschen mit sich herumtragen: >Vor allem bei Kindern sind solche Verletzungen oft sehr langwierig und schließen sich schlecht. Deswegen gehe ich mit Menschen, soweit es mir möglich ist, halbwegs aufmerksam um. Ich finde immer, Aufmerksamkeit ist eine wunderbare Stufe der Freundlichkeit.<" Bisher habe ich das Buch nicht, kann also nicht darin blättern - doch habe ich mir etwas von der Lesung notiert. Wenger war mit seinen Freunden zusammen gewesen und kam nach Hause zurück. Und dann heißt es: "Die Leere umgab ihn mit der vertrauten Schutzhaut" - Ambivalenz des Alleinlebens.

Äußerlich ist meine Landschaft kleiner geworden - das kann schmerzen, wie in Härtlings Roman. Innerlich aber ist es ganz anders. Kann das überhaupt parallel gehen, innen und außen? Punktuell vielleicht ja, es lässt sich üben. Durch Aufmerksamkeit. Meine "begrenzte" Landschaft hat überhaupt keine Grenzen. Meine Seele, meine Fantasie, meine Imagination können sie weiten -  jederzeit. Meine Landschaft ist meine Landschaft, nur ich kann sie verändern. Sie ist meine Schutzhaut. Meine Landschaft liegt nicht in den Bergen - ich möchte einen weiten Blick.

Eine Frau hat sich mitten in die Alpen nach eigenen Entwürfen eine Wohnröhre bauen lassen. Sie will dort das Wesen der Einsamkeit erforschen. Sie erlegt sich die Einschränkungen des Alleinseins auf, um seine Freiheiten zu erfahren. Was als sachliche Versuchsanordnung unter besten Voraussetzungen beginnt (die Frau ist geübte Bergsteigerin), provoziert Überraschungen: Zwischen den sturmumtosten Gipfeln gibt es ein zweites Wesen, mit dem  die Hauptfigur im Roman "Das große Spiel" der Französin Céline Minard sich wird auseinandersetzen müssen. "Die Wege der beiden Eremiten werden sich bald kreuzen", heißt es im Klappentext, "- denn die Welt fordert zum Spiel auf, und spielen kann man nicht mit sich allein". 

Fordert auch meine Landschaft zum Spiel auf? Was ist Ernst, was ist Spiel - wieviel Raum ist für Spiel noch übrig, gerade in einer solchen Extremsituation wie im Roman? Meine Landschaft ist nicht so extrem, mein Lebensrisiko eher gering; trotz einer geheimen Sehnsucht (Leben allein in einer norwegischen Berghütte) würde ich so nicht leben können, es würde womöglich meine Lebenszeit verkürzen, dann wäre aus dem Spiel rasch Ernst geworden. Stimmt das wirklich, dass man nicht mit sich allein spielen kann? "Meine" Menschenaffen (Forschungsobjekte meiner Dissertation) konnten das sehr gut. Und menschliche Kinder können das auch, ganz in sich versunken. Geht die Fähigkeit mit dem Erwachsenwerden verloren?   
Nur kurze Zeit war meine Landschaft vergleichbar extrem: in einem einfachen Wanderzelt in der Hardangervidda in Norwegen während eines Gewitters. Aber dabei habe ich mehr über den Ernst gelernt als über das Spiel. Und doch: Spiel als höchster Ausdruck der Freiheit !

Ein drittes Buch, das ich hier habe, nennt sich sogar "Geländeroman": "Hain" von Esther Kinsky. Ein Roman ist es nicht, beim besten Willen nicht - und was ist ein Geländeroman? Das Buch von 287 Seiten, bei schmalem Satzspiegel, enthält drei Prosaminiaturen, vielleicht könnte ich sie auch Essays nennen, aber anschaulich beschreibend, nicht sachlich-trocken. Die Ich-Erzählerin hat drei Reisen unternommen, alle nach Italien, aber nicht in die bekannten Touristenorte - die erste ins Gebirge, die letzte in die Ebene; die mittlere ist eine Reise in die Vergangenheit, Erinnerungen an die Reisen mit ihrem Vater im Italien der Siebzigerjahre.Nach dem Tod eines Freundes geht sie nach Olevano Romano, in eine Kleinstadt in den Hügeln nordöstlich Roms. Die dritte "Gelände-Erkundung" führt in die Lagunenlandschaft des Po-Deltas. "Gelände" heißt auch einer der Abschnitte des Olevano-Kapitels. Die Erzählerin lebt in einem Haus auf einer Anhöhe; auf der einen Seite das alte Dorf, auf der anderen der Friedhof. Birken als Irrgäste zwischen den Olivenbäumen. Einst haben Maler hier von der "Nase" aus, die das Gelände bildet, den Ausblick dargestellt - und vielleicht Birkensamen ungewollt mit ihrem Schnupftuch verbreitet. Heute schneidet dort ein Mann Bambusstützen für seine Weinstöcke. Gelände als Ergebnis des Tätigseins? Gelände als Oberbegriff für Kultur- und Naturlandschaft? Gelände zusammenfassend für innere wie äußere Landschaften? Zwischen Lebensreich und Todeszone?
Gelände der Erinnerung: "Wörter rollten in der Hand wie Murmeln, versehrte Glasmurmeln mit stumpfer, zerkratzter Oberfläche und winzigen Scharten, gescheuert an Sand, Erde, Beton, am Glas anderer Murmeln. Ein leises Klicken, wenn sie aneinanderstießen, ein Geräusch, in das der ganze Körper angespannt horchte, ob es zu einem Bild wurde ... Murmeln waren Geheimnisse in meiner Kindheit ... Mein Vater las mir vor, doch auf Italienisch, was ich nicht verstand. Man braucht nicht alles zu verstehen, sagte er und las, mit der Zeit bekamen die Wörter etwas Beruhigendes, und ich fand sie schön und dachte mir das Meine dabei ..."
Die Wasserwelt der Po-Ebene ist von Vögeln beherrscht, die hier Gestalter des (inneren wie äußeren) Geländes sind. "Ich gewöhnte mich an das nächtliche Rascheln des Winds in der Topfpalme und die Vogelrufe in der Dunkelheit ... Gelegentlich hörte ich Nachtreiher, Kiebitze, manchmal spitzere, hellere Laute, ich wusste nicht, ob Flamingos Nachtrufer waren und wie weit ihre Rufe tragen würden. Immer jedenfalls waren es Vögel, die nachts zu hören waren, nie ein anderes Tier. Tagsüber wanderte ich zwischen den Salinenbecken umher und entdeckte im wechselnden Licht der winterlichen Tage das Gelände immer neu. Jeden Morgen sah ich die jungen Reiher auf dem Stromkabel sitzen. Sie waren unerschrocken und harrten lange aus, während ich näher kam ..."

Meine Landschaft ist (auch) eine Landschaft der Erinnerung. Ich darf aufpassen, dass die Erinnerung nicht alles beherrscht. Meine Landschaft soll - ich möchte das - eine Landschaft der Zukunft sein, je älter ich werde. Meine Landschaft ist von Stille und Ruhe geprägt. Und von Weitblick. Aber das sagte ich schon. Heute duftet meine Landschaft nach Meer.

Der 500. Artikel und kein Ende abzusehen ... Ich bitte um Kommentare! (Der Datenschutz ist gewährleistet, da die Mailadresse für andere Nutzer*innen nicht sichtbar sein wird. Wenn gewünscht, kann ich den Namen der kommentierenden Person abkürzen. Kommentare werden erst sichtbar, wenn ich sie freigegeben habe.)

Text: Dr. Helge Mücke, Hannover. Die bibliografischen Daten der genannten Bücher: (1) Peter Härtling; Der Gedankenspieler. Roman. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2018. 240 Seiten, 20 Euro. (2) Céline Minard: Das große Spiel. Roman. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer. Matthes & Seitz: Berlin 2018. 192 Seiten, 20 Euro. (3) Esther Kinsky: Hain. Geländeroman. Suhrkamp: Berlin 2018. 287 Seiten, 24 Euro.

Kulturblog-Jubiläum: 500. Artikel Meine Landschaft oder: mich besonders berührt

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