Mein faszinierendes Kulturerlebnis - danach fragt Tanja mit ihrer Blogparade.
Mein faszinierendes Kulturerlebnis in diesem Sommer.
Das klingt selbst für mich, wie ich nun hier auf meinem ergonomischen Bürostuhl sitze mit der Fußbodenheizung unter den Zehen, auch komisch.
Aber so ist es, wie ich damals lebte – am ruralen Stadtrand von Granada. Im Zigeunerviertel des Sacromonte.
Was ich da tat?
Ich sammelte das Kulturerbe ein.
Geschichten, Erinnerungen, Rezepte, Spiele, Dinge, die das Leben im Viertel ausmachten. Dinge, die die alten Generationen noch wissen und die Jungen nicht mehr interessiert.
Ein Viertel das am Aussterben ist, seit die Landwirtschaft sich nicht mehr rentiert und die Reiseleiter die Touristen vom „gefährlichen Zigeunerviertel“ abraten.
So verbrachte ich also meine Tage indem ich Menschen besuchte.
Sie ließen mich in ihre Höhlen und Häuser, teilten mit mir einen Kaffee, ein Glas Saft, die selbstgemachten Kekse, die ich jedem mitbrachte – und ihre Lebensgeschichten.
Sie lachten, sie erinnerten sich, sie merkten, dass sie vergessen hatten.
Sie nahmen mich mit auf Kräutersuche, zeigten mit ihre Werkzeugschuppen und ihre handbestickten Hochzeitslaken. Sogar gesungen haben sie für mich, die Sacromontaner.
Immer dazwischen: mein kleines Aufnahmegerät, um all das aufzuzeichnen, was nie jemand festgehalten hatte.
„Kind, wir haben damals gehungert, und uns aus dreckigen Stofffetzen unsere Spielsachen zusammengeknotet. Das willst Du hören? Dass wir damals Kilometer bis zum Wasserkanal gelaufen sind, und tagelang unter der prallen Sonne auf dem Feld gestanden? Das ist doch wohl kein Kulturerbe! Kulturerbe, dazu musst Du ins Museum gehen!“
Dass ich selbst ein kleines Museum aufbauen wollte, ein Archiv gegen das Vergessen, und dass ein jeder mit seinen täglichen Beschäftigungen von der Kultur Teil ist, das wollte so mancher nicht verstehen. Dass ein armes, verlassenes Viertel auch Kultur haben kann, und dass da eine „von draußen kommt“, die das festhalten will, das haben mir viele auch nicht abgenommen. Nicht mal in den „höheren Ebenen“: Ich klopfte an viele Türen, beantragte Förderungen, fragte, nervte, eröffenete ein Facebookprofil und verteilte Flyer, telefonierte, e-mailte, erzählte die Geschichte immer wieder, auf der Suche nach Unterstützung. Diese Geschichten sollten nicht untergehen, ich wollte ein Archiv machen, eine Plattform, ein irgendwas, wo man diese Stückchen verlorene Kultur sammeln und wieder unter die Leute bringen konnten. Aber in der ganzen Stadt schien es kein Geld für sowas so geben.
Die Leben der Sacromontaner landeten auf zwei CDs. Eine liegt in meiner Schublade, hier, an meinem ergonomischen deutschen Arbeitsplatz. Die zweite in einer anderen Schublade, an einem Schreibtisch des Höhlenmuseums des Sacromonte, 2244 Kilometer von hier -wo ich meine gesammelte Arbeit abgab in der Hoffnung, dass es irgendwann zu etwas werden könnte.
Es wurde lange nichts daraus. Bis zu diesem Sommer.
Die Gründer der Plattform „Andalucia Soundscape“, betrieben von fleißigen Verfechtern und Kuratoren des auditiven Erbes, erklärten sich bereit, einige der Geschichten auf ihrer Seite zu beherbergen.
Dabei hatte ich sie schon damals angeschrieben, und nie Antwort bekommen. Woher sollte ich schon wissen, dass meine E-Mail im kaputten Server verlorengegangen war und sie diese mit guten zweieinhalb Jahren Verspätung erst lesen würden.
Und so geschah es: endlich gab es ein irgendwo, wo zumindest einige meiner liebevoll eingesammelten Geschichten sichtbar werden konnten, und diese Stimmen wieder hörbar.
Darauf folgte ein Anruf, kurz darauf dieses Interview, ein Artikel auf einem der wichtigsten Onlinemedien der Stadt. Rückmeldungen, Glückwünsche, Gratulationen.
Geballt, innerhalb eines Sommers, als meine Gedanken schon längst woanders waren und der Staub schon fingerdick auf meiner Hoffnung lag, knallte all das wie eine dicke Faust auf mich herunter. Irgendwie musste ich mich plötzlich schämen, jetzt dass es geklappt hatte, jetzt als ich sah, dass dieses langwierige, erkämpfte Projekt doch etwas wert ist, und nicht nur für mich persönlich. Ich schämte mich, es nicht stärker versucht zu haben, nicht mehr getan zu haben, damals. Vielleicht war damals einfach nicht die Zeit.
Aber Kultur will nicht aussterben, das habe ich gelernt daraus, und sie soll nicht aussterben. In einer Schublade darf sie nicht enden.
Und ich habe einen Entschluss gefasst: die Sacromontaner verdienen ein Buch. Mit vielen Bildern und viel Platz für all ihre Geschichten, vielleicht sogar für noch ein paar mehr. Mein ergonomischer Bürosessel wird mich wohl eine Zeit lang vermissen – aber ich muss dann mal weg, zurück ins Höhlenviertel. Hab da noch was offen gelassen. Die Kultur ruft.