Krystle Warren / Es ist das Singen, nicht Musik

Künstlern bin ich immer wieder begegnet, die sich Maler statt Künstler nannten, und wurden sie Künstler genannt, widersprachen sie umgehend: „Ich bin Maler!“ So wie ich es aufgreife, sehen sich diese Individuen nicht von der Kunst geleitet oder getrieben, sondern von dem innersten Bedürfnis zu malen. Für sie ist es viel einfacher und viel komplexer als Kunst: Sie sind, und ihr Ausdruck ist das Malen, nicht die Kunst. Oder sie sind das Malen. Sie leben mit unmessbarer Intensität in die Welt des Seins durch Striche, Flächen und Farben. Diese Aspekte der Malerei, so wie das Riechen der Farben und das immer wieder Betrachten der Gemälde ist innerstes Bedürfnis und Motor. Sie sind kreativ und brauchen Ausdruck für ihre Kreativität.

Ähnlich höre ich Krystle Warren. Ähnlich nehme ich ihr Dasein beim Singen wahr. Ein Bedürfnis das Innerste zum Ausdruck zu bringen. Nicht dass sie sich als Musikerin nicht sähe, aber ihr Singen übersteigt meines Erachtens die klassische Rolle des Musikspielens und Musikhörens. Nicht die Musik, die in die Luft wie Wellen liegt, noch die Musik auf Partituren, scheint ihre Anwesenheit – und auch ihre Abwesenheit – auf der Bühne zu diktieren. Es ist das nakcte Bedürfnis des Singens, des Atmens, des Zuckens, es ist das Bedürfnis Liebe, Schmerz, Freude, Leidenschaft, überhaupt Existenz auf der Bühne körperlich und akustisch sich manifestieren zu lassen. Auf der Bühne ist es etwas anderes als Musik, was ihre Präsenz diktiert. Es ist die nackte Notwendigkeit das Sein zu artikulieren. Und artikulieren kann sie!

Über diese Dame hörte ich zum ersten Mal vor einer Woche, als ein Bekannter mir zwei Videos von ihr vorspielte. Das erste Video zeigt eine junge Frau, die mit viel körperlichem Einsatz und ebenso viel Aufmerksamkeit zum Ausdruck und Lautstärke, die man einer Stimme verleihen kann, das Lied „Circles“ vorträgt. Ich kenne Menschen, die wissen mit gewisser Aggressivität ihren Körpern nach vorne zu befördern, wie z.B. Freddie Mercury, und ihre Stimmen kommen mit der selben Aggressivität willig mit. Andere gibt es, die körperlich sich zurücknehmen und ebenso bleibt deren Stimme entspannt, als wenn auch die Stimme angelehnt wäre. Doch in Circles sehe und höre ich Körper und Stimme, die physisch entspannt, zurückgelehnt sind, aber herrschend ist die Körperlichkeit der Seele, die, keinesfalls angelehnt, sondern mit Heftigkeit nach vorne dringt und singt – manchmal schreit.

Das zweite Video, das Alex uns vorspielte, war Warren’s Interpretation von „Eleanor Rigby„. Kaum hatte das Video angefangen, warnte er, es sei am Anfang ziemlich unspektakulär, aber das würde sich später ändern. Und wer kennt Eleanor Rigby nicht? Man weisß schon, was ihn erwartet. Das Lied gehört zu einem der populärsten der Beatles. Bei der Originalversion von 1966 für die Schallplate „Revolver“ spielte ein aus Studiomusiker zusammengestelltes Streich-Oktett. Keiner der Beatles spielte ein Instrument, nur Paul McCartney hat gesungen. Und das könnte ein Grund sein, warum die Traurigkeit des Textes in der Musik bzw. in der Originalversion nicht wirklich rüberkommt. McCartney improvisierte am Piano und so entstand die Musik, die erst nachträglich mit dem Text über einsame Menschen versehen wurde. Ein Text, der mit sehr wenigen Zeilen eine ziemlich deprimierte Einsamkeit darstellt.

°

Eleanor Rigby

Ah, look at all the lonely people
Ah, look at all the lonely people

Eleanor Rigby picks up the rice in the church where a wedding has been
Lives in a dream
Waits at the window, wearing the face that she keeps in a jar by the door
Who is it for?

All the lonely people
Where do they all come from?
All the lonely people
Where do they all belong?

Father McKenzie writing the words of a sermon that no one will hear
No one comes near.
Look at him working. Darning his socks in the night when there’s nobody there
What does he care?

All the lonely people
Where do they all come from?
All the lonely people
Where do they all belong?

Eleanor Rigby died in the church and was buried along with her name
Nobody came
Father McKenzie wiping the dirt from his hands as he walks from the grave
No one was saved

All the lonely people
Where do they all come from?
All the lonely people
Where do they all belong?

°

  • Eleanor hebt den aus einer Hochzeit übriggebliebenen Reis auf. Einsamkeit. In Inaktivität versunken („…she keeps in a jar by the door“) wartet sie auf ihr Glück, das nie kommt, denn sie wird einsam sterben.
  • Pater McKenzie predigt Worte, die keiner hören will und schließlich steht er an ihrem Grab. Einsam.

Diese erdrückend traurige Atmosphäre verspüre ich nicht in der Version von The Beatles. Krystle Warren geht dann aber einen ganz anderen Weg. Ihr Gitarrenspiel ist sehr einfach. Sie meint sogar, dass sie das Instrument nicht gut könne und technisch eine der schlechtesten Gitarristen sei. Für sie ist es ihre simpelste Möglichkeit für das Komponieren und um sich zu begleiten. Und ihre Begleitung an der Gitarre ist gewissermaßen einfach, aber ich finde es genau richtig, genau richtig zurückhaltend, genau richtig begleitend, und genau passend zu dem, was sie mit der Stimme vermittelt. Hier fängt sie mit einem zurückhaltenden minimalen Rhythmus bis ihre Stimme ansetzt. Erst dann erkennt man welches Lied sie nun singt. Und alles verläuft harmlos im Spiel und Gesang, bis Vater McKenzie kommt. Mit ihm explodiert Warren mit Gesang und Geschrei, ähnlich wie man es im Gesang von Stevie Wonder kennt und ähnlich wie man es im Gesang und fast Geschrei von Michael Jackson kannte. Stellen, wo man merkte, er MUSS seine Worte, Töne, Aussage und Emotionen nach außen so heftig wie möglich stoßen.  Doch Warren druckt mit ihrer Stimme einen viel deutlichen und heftigen Ausstoßwille aus. Ob dies ein direktes Entsetzen von ihr ist über die Tatsache, dass Menschen überhaupt Einsamkeit erleiden müssen, das weiß ich nicht, aber Dringlichkeit erkennt man sofort und man will den Grund des Entsetzens sofort wissen, weil die Dringlichkeit so ehrlich klingt. Nicht ein Lied, nicht Musik hört man dann, viel mehr einen heftigen Ruf. Und da Warren selber meint, ihre Musik sei nicht über sie, sondern über Menschen im Allgemein, kann man davon ausgehen, dass dies der Grund ist für so einen heftigen Ausdruck. Ein Ausbruch als Ausdruck für ALLE, die einsam sind.

In „Circles“, „Eleanor Rigby“ und weitere Lieder, trotz der Heftigkeit im Ausdruck, behalten die Stimme und Körper der Sängerin deutlich die Fassung und bleiben gelassen. Aus ihr herrschen Heftigkeit UND Eleganz, Heftigkeit UND Souveränität. Man stelle sich einen einzelnen Mensch im offenen Meer vor – mal auf der Oberfläche schwebend, mal im Wasser vertieft – der mit eigener Kraft, Körperfertigkeit und einen Übermaß an wilde Bewegungen und Anstrengungen versucht hunderte von Zuschauern am Ufer zu zeigen, er könne die Wassermassen beherrschen. Wenn Krystle Warren singt ist es so als wenn sie – ob schwebend auf der Oberfläche des Meeres mit sanften Tönen und Passagen oder tief im Wasser versunken mit heftiger Rufe und Phrasierungen – gelassen Höhen und Tiefen auszuleben weiss, diese gekonnt ausspricht, aussingt, und das Meer, gleich wie heftig, tief oder unruhig, muss sich dieser Stimme fallen lassen.

Insbesondere in dem Bereich der Kreativität kommen viele Individuen vor, die ihre Seele deutlich preisgeben. Bei schwarzen Sängern meint man sehr oft zu sehen und hören, dass sie schwarze Seele sind. Hier ist die Farbe ziemlich irrelevant. Hier spricht eine Seele aus – im Singen.


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