Der umstrittene Ex-Senator Thilo Sarrazin hat sich offenbar große Verdienste um die Erhaltung und Wiederbelebung uralter und längst vergessener deutscher Vokabeln erworben. Das belegt eine vom voluntären Sprachschatzboard PPQ angestellte Studie, bei der mit Hilfe des Internet-Riesen Google untersucht wurde, wie die unappetitliche Affäre um Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" den Gebrauch des schönen deutschen Wortes "krud" beeinflusst hat. Nach Ansicht des meinungsführenden "Spiegel", der anfangs noch Quote mit Vorabdrucken aus dem Machwerk des "bekennenden Rassisten" (Migrantenrat Berlin) drückte und später dann mehrmals auflagensteigernd die Kanonen herumdrehte, hatte Sarrazin in seiner Generalabrechnung mit der verfehlten Integrationspolitik im Lande "krude Thesen" geäußert. Eine Formulierung, deren Sinngehalt sich noch nicht jedem Leser sofort erschloss, obgleich sich das als dem Lateinischen stammende Adjektiv "krud" bereits seit längerer Zeit (siehe Timeline) für große Auftritte warmlief.
Das ist inzwischen anders. "Krude", lange Zeit ausschließlich im Gebrauch, um die "krude Mischung aus Populärpsychologie, Esoterik und Science Fiction" zu beschreiben, aus der L. Ron Hubbard die nach dem Islam jüngste Weltreligion Scientology destillierte, ist dank Sarrazins Thesen im Alltag aller Deutschen angekommen. Schade wäre es auch gewesen, hätte die Verwendungsflaute zwischen 1950 und 1980 schon das Ende des kantigen Begriffes besiegelt, der nach den Dornseiff-Bedeutungsgruppen in der Nähe von aufgeregt, chaotisch, erratisch, konfus, regelwidrig und sprunghaft zu verorten ist, eigentlich aber nur soviel wie roh oder ungekocht heißt. Abgeleitet vom Lateinischen "crudus", nennt das deutsche Wortschatzlexikon als "signifikante Verwendungsnachbarn" für "krude" Worte wie "NPD-Homepage", "Geschmacklosigkeiten", "Botschaft" und eben "Thesen" - der Co-Begriff, mit dem die seit Mitte der 2000er Jahre von einzelnen "Spiegel"-Mitarbeitern vorangetriebene Renaissance des Begriffes ihren Siegeszug auch in die süddeutschen Wohnzimmer feierte.
Zuvor hatte das im Friesischen über Jahrhunderte frisch und gebräuchlich gebliebene "krude" südlich von Hamburg und unterhalb von Zahnartzthaushalten nur als vom Druckfehlerteufel verhunzte Anspielung auf den Münchner OB Ude gegolten. Zu Unrecht, beschloss die "Spiegel"-Redaktion, der jeder Schriftschaffende im Lande traditionell nachpinselt, bereits Anfang des Jahrtausends. "Sein Stil war meist simpel, die Dialoge krude, die innere Logik der Erzählungen brüchig", führte das Meinungsmagazin am 20.01.2005 aus, dem Tag, an dem "krude" seinen Siegeszug in die Medienwelt hinaus begann.
Hatten es die sprachgewandten Qualitätsschreiber anno 2004 nur knappe 30 Mal in Artikeln unterbringen können, musste der krude Begriff 2009 schon 44 Mal ran. 2010 hat er nun dank Sarrazin die Chance, die Hitparade der beiläufig intellektuellen und fast unauffällig herabwürdigenden Adjektive erstmals anzuführen: Bis September brachten "Spiegel"-Wortspieler "krude" bereits 36 Mal in qualitativ hochwertigen handgemachten Beiträgen unter. Ähnlich sieht es bei der "Zeit" aus, die ihre qualitativ hochwertigen Erwägungen zu braunen Gefahren, schlimmen Hetzern und dem Internet als größtem Tatort der Welt regelmäßig mit großen Dosen "krude" nachwürzt.
Das lässt Fans des kruden Buchstabenspaßes auf eine Gesamtquote von rund 48 Verwendungen im "Spiegel" zum Jahresende und eine Krude-Fahnenstange im Google-Timeline-Chart hoffen. Dabei dürfte es klare Verschiebungen bei den "signifikanten linken Nachbarn von krude" geben, als die das Wortschatzlexikon derzeit noch Worte wie eine (Anzahl der Häufigkeit: 78), etwas (28), diese (25) oder noch so (24) führt. Demnächst lautet der Spitzenreiter bei den linken Nachbarn zweifellos "Sarrazins", bei den signifikanten rechten Nachbarn hingegen, wo sich heute noch "Mischung" (150), "Militärfantasien" (58) und "Story" (44) behaupten, ist dann auf jeden Fall "Thesen" gesetzt.