„Possible Dust Clouds“
(Fire Records)
Man kommt in letzter Zeit (möglicherweise) häufiger zu der Einsicht, daß einem bestimmte Menschen fehlen. Öffentliche Menschen. Menschen, die in den Jahren, die einem noch nicht so dunkel schienen wie die heutigen, wie selbstverständlich da waren, geredet, gesungen, gefilmt, geschrieben haben. Und nun, da man sie bräuchte, fällt auf, daß sie nicht mehr da sind – einfach so. Und zwar nicht, weil sie nicht mehr leben, sondern stumm sind, versteckt, sich zurückgezogen haben. Ihre Wortmeldungen hätten, da ist man sicher, etwas Tröstliches, Vertrautes, etwas, das das Leben in den schwierigen, unsteten Momenten erträglicher machen würde. Michael Stipe ist so ein Mensch. Es gab Zeiten, da erschien in regelmäßigen Abständen ein Album seiner Band R.E.M., nicht jedes ein Meisterwerk, aber immer mit ein paar Songs, die das Zeug dazu hatten, den Alltag aufzuhellen, Gedanken in die richtige Bahn zu lenken, solche Sachen. Die Brücke zu Kristin Hersh ist hier schneller gebaut als man denkt, denn niemand anderes als Stipe hat mit Hersh gemeinsam ihr erstes Soloalbum „Hips And Makers“ aus dem Jahr 1994 eröffnet, „Your Ghost“ heißt der Song und man muß lange suchen, um ein schöneres Duett aus dieser Zeit zu finden.
Kristin Hersh ist im Unterschied zu ihrem damaligen Gesangspartner nie richtig weg gewesen, auch wenn die Pausen zwischen ihren Veröffentlichungen nicht eben klein waren, die ihrer Band Throwing Muses sogar empfindlich groß. Deren letztes gemeinsames Werk datiert immerhin auf 2015, da passt es außerordentlich gut, daß Hersh mit ihrem neuen Solo die wohl beste Muses-Platte seit Jahren abgeliefert hat. Natürlich würde sie das so nie sagen (selbst wenn Drummer Dave Narcizo für einige Stücke im Studio vorbeischaute), aber im Gegensatz zu den vorangegangenen Alleingängen wie zum Beispiel „Wyatt At The Coyote Palace“, einem Opus mit erstaunlichen vierundzwanzig Stücken, ist „Possible Dust Clouds“ erfreulich kurz, knackig und durchgängig rockig geworden. Auch wenn das Covermotiv anderes vermuten läßt – hier ist nicht viel Zeit für behutsame Einleitungen oder besinnliche Momente. Die Gitarren tönen schon ab den ersten Takten von „LAX“ angenehm laut und rau, es scheppert und knirscht wie in den besten Indietagen der 90er. Manchmal kippt der Sound gar etwas ins Psychedelische wie bei „Gin“ oder „Tulum“, das ist etwas ungewöhnlich, aber durchaus reizvoll.
Die wohl wichtigste Komponente aber, die also, die man (siehe oben) auf keinen Fall vermissen möchte, ist sicher Hershs markante Stimme. An Kraft hat sie über die Jahre nichts eingebüßt, so brüchig und verletzlich sie klingt, ist sie dennoch von einer Energie und Intensität, die einem noch immer unter die Haut fährt. Wie sie auf „Possible Dust Clouds“ gegen ihre Dämonen, Ängste ansingt (Hersh litt bis vor kurzem an einer Form Posttraumatischer Belastungsstörung), wie sie versucht, ihren Platz als Mutter, Frau, Freundin und Musikerin zu finden, zu erkämpfen, das ist beeindruckend. Aufgewachsen an der Ostküste der USA, lebt und arbeitet sie seit längerer Zeit in Kalifornien und man kann (nicht nur an der neuen Platte) hören, dass ihr die Gegend gut tut. So gut, dass auch, wie sie Stereogum gerade erzählte, ein weiteres Album der Throwing Muses in Reichweite ist. Es besteht also kaum Gefahr, auf Hersh, auf ihre Stimme, ihre Geschichten in nächster Zeit verzichten zu müssen. Und wer weiß, vielleicht läßt sich ja Michael Stipe davon inspirieren, wir hätten nichts dagegen. https://www.kristinhersh.com/