Von Stefan Sasse
Die allumfassende Krise, die mit dem Namen "Euro-Krise" kaum treffend beschrieben werden kann, macht keinesfalls vor Parteien und Politikern halt. Was wir derzeit erleben ist auch eine tiefe Verunsicherung über die Institutionen selbst. Dies betrifft vor allem, aber keinesfalls ausschließlich, die europäischen Organe. Neu ist daran, dass es sich um ein grundlegendes Misstrauen handelt. Frühere Vertrauenskrisen fanden üblicherweise im Rahmen von Skandalen und großflächigen, als falsch empfundenen Politikmaßnahmen statt. Erstere führen häufig zu der verbreiteten Ansicht, dass die Regeln für "die da oben" nicht gelten und sie sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern. Die gesamte Wulff-Affäre ist hierfür ein gutes Beispiel. Eine Vertrauenskrise ergriff das Amt des Bundespräsidenten, konnte jedoch durch den Austausch des Personals rasch beendet werden. Dies ist tatsächlich auch die einfachste Vertrauenskrise, häufig personalisiert und prinzipiell durch das Auftreten einer als vertrauenswürdig empfundenen Person zu lösen. Anders verhält es sich bereits bei der Krise aufgrund von politischen Maßnahmen.
Das beste Beispiel hierfür - zumindest in jüngerer Zeit - ist die Agenda 2010. Seit den Notstandsgesetzen von 1968 hat keine Maßnahme mehr so nachhaltige Verstimmung mit der Politik hervorgerufen wie diese. Dies liegt an zwei Faktoren. Der erste ist die tragende Koalition. Sowohl bei der Agenda 2010 als auch bei den Notstandsgesetzen wurde die Maßnahme von einer Koalition aller oder fast aller Bundestagsabgeordneten getragen. Eine Opposition innerhalb des Parlaments war nicht wahrnehmbar. Zum anderen gibt es eine signifkante Bevölkerungsgruppe, die in heftiger Opposition zu der Maßnahme steht und diese nicht in der institutionalisierten Politik vertreten sieht. Dies führt zu einer pauschalen Verurteilung des gesamten politischen Personals und der Strukturen, die die Entscheidung möglich gemacht haben - im Normalfall die parlamentarische Parteiendemokratie. Dies ist acht Jahre nach Verabschiedung der Agenda2010 innerhalb der deutschen Linken problemlos nachvollziehbar, für die das Narrativ der politischen Korruption der Entscheidungsträger maßgeblich ist. Diese Korruption ist entweder monetär - das heißt, den Abgeordneten wird Käuflichkeit unterstellt - oder institutionell, also Korumpierung durch das "das System". Wichtig ist bei dieser Art Vertrauensverlust, dass eine Heilbarkeit durch Personalwechsel, anders als bei Skandalen, nicht möglich ist. Die von der Agenda2010 enttäuschten und verbitterten kümmern sich nicht darum, ob Sigmar Gabriel oder Frank-Walter Steinmeier an der Spitze der SPD stehen; sie haben das Vertrauen in die Sozialdemokratie als Ganzes verloren.
Diesen Vertrauensverlusten aber ist gemein, dass sie durch einen - wenngleich häufig unrealistischen und radikalen - Wechsel des Personals gelöst werden können. Angenommen, die LINKE erreiche 51% der Stimmen trauen diese Menschen dem System eher etwas zu. Wir haben jedoch heute einen Vertrauensverlust in die staatlichen Institutionen selbst. Dies liegt an der Beschleunigung von Nachrichten auf der einen und einem Informationsdefizit auf der anderen Seite, das vor allem die Schuld der Institutionen selbst ist. Dies erfordert eine Erklärung. Die Verfügbarkeit von Nachrichten rund um die Uhr besonders durch die neuen Medien sorgt für einen unheimlichen Druck, auch Nachrichten zu liefern. Objektiv geschieht aber nicht viel mehr als früher, was zu einer Notwendigkeit der Übertreibung einer- und der Aufbauschung zur Nachricht andererseits führt. Die Institutionen stehen dadurch mehr im Fokus der Aufmerksamkeit als früher, allein durch die pure Menge und Penetranz der Berichterstattung. Da die Medien stets tendentiell negative Nachrichten bringen, schlägt sich dies als Dauerkritik nieder, die die Institutionen mehr als üblich ergreift. Dies drückt sich praktisch in Grundsatzkritik an der Funktionsweise von Institutionen aus, wie sie sich etwa in den Forderungen der Piratenpartei manifestiert.
Während es grundsätzlich immer Verbesserungspotential bei den Institutionen gibt - das soll gar nicht bezweifelt werden - führt die Grundsatzkritik zu weit. So ist es etwa bei der Kritik an Fraktionsdisziplin, Ausschussarbeit und Ähnlichem. In der Debatte gibt es eigentlich abgesehen von institutionellen Beharrungskräften kaum Argumente zugunsten der Institutionen. Dies ist, wie eingangs erwähnt, deren eigene Schuld. Bislang waren sie nie im Fokus, stattdessen war Frust auf die personalisierbaren Teile der Politik gerichtet, vor allem die Politiker und Parteien selbst. Die meisten Menschen wissen schlicht nicht, wie Institutionen funktionieren und können sie deswegen nicht nachvollziehen. Ohne die grundsätzlichen Funktionsprinzipien nachvollziehen zu können, werden Institutionen oftmals als ineffizient, langsam und benutzerunfreundlich empfunden. Häufig sind elementare Prinzipien, die für diesen Eindruck sorgen, überhaupt nicht bekannt. So werden die als intransparent empfundenen Ausschüsse eingerichtet, weil sich die Arbeit anders gar nicht bewältigen ließe. Viele Entscheidungsstrukturen sind auf Ausgleich und Kompromiss gerichtet und müssen daher den Vergleich mit einer unternehmerischen Vorstandsentscheidung vordergründig verlieren. Wenn die Institutionen nicht versuchen, Menschen über ihre Funktion aufzuklären und ihre Funktionsweise zu rechtfertigen, anstatt sich im traditonell autoritären Staatsverständnis als über den Dingen schwebend wahrzunehmen, wird diese Vertrauenskrise in eine generelle Legitimationskrise der Institutionen ausarten - und sie sind es, die das Fundament der parlamentarischen Demokratie darstellen. Ohne sie wird dieses Staatswesen, wie wir es kennen, aufhören zu existieren.