Am 18. Januar 2013 begann ich, einen ganz besonderen Beitrag für diesen Blog zu schreiben. Heute erst schreibe ich ihn zuende. In der Zwischenzeit war ich voll und ganz damit beschäftigt. mich in meinem neuen Lebensgefühl "raus aus der Stadt, rein ins Landleben" einzurichten. Und heute ist der Tag plötzlich da - der für mich richtige Zeitpunkt, diesen Artikel zu veröffentlichen.
Der Schreibanlass im Januar war eine Meldung in meinem Newsreader zu einem Spiegel-Artikel über die an dem Abend bevorstehende TV-Sendung "Schlachtfeld Politik - die finstere Seite der Macht". In der Sendung - und im Artikel - geht es um die Frage, wie Politiker/innen mit schweren seelischen Verletzungen umgehen, die ihnen im Laufe (bzw. zum Ende) ihrer Karriere, vor allem von den eigenen Partei"freunden" zugefügt wurden. Diese Meldung brachte mich kurz aus der Fassung. Warum?
Weil ich zu dem Zeitpunkt daran arbeitete, mich mit meinen Erfahrungen und Verletzungen aus der Zeit als aktive Spitzenpolitikerin auseinanderzusetzen. Und weil ich deshalb sehr genau weiß, wovon die Protagonist(inn)en (eine davon die ehemalige grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer) der ARD-Dokumentation reden. Außerdem war ich zur selben Zeit Parteivorsitzende wie Andrea Fischer Gesundheitsministerin. Andrea konnte ihren Sessel etwas länger verteidigen als ich den meinen.
Dass ich nun auf einmal und mit einem Abstand von 12 Jahren diesen Teil meiner Vergangenheit unter die Lupe nahm, war allerdings eher Zufall. Oder auch nicht - jedenfalls hatte ich den Prozess im Januar nicht bewusst begonnen. Und das kam so:
Ich liebe es, mich an "alten" oder scheinbar überflüssigen Dingen kreativ auszutoben. Eine meiner Leidenschaften ist das Umwidmen von gelesenen und garantiert nicht mehr benötigten Büchern zur Spielwiese meiner Zeichen-, Mal-, Kritzel-, Bastel- und Erfinde-Leidenschaft. Im Englischen heißt das "Altered Books". Auch wenn ich weit, weit von den wahren "Altered Books"-Künstler(inne)n entfernt bin, so liebe ich doch diese Form des kreativen Ausdrucks - die für mich nicht mehr (aber auch nicht weniger) ist als eine Möglichkeit, meiner Phantasie Ausdruck zu geben.
Und eines schönen Tages durchsuchte ich mal wieder unseren Dachboden nach einem ausrangierten gebundenen Buch, als mein Blick in das Regal "Vermischtes" fiel: Dort fristeten einige (noch eingeschweißte) Exemplare meines 2001 erschienenen Buchs "Das Ideal und die Macht - Das Dilemma der Grünen" ein trauriges Dasein. Und sofort war mein Gedanke, dass wohl kaum ein Buch besser zum Umgestalten durch mich persönlich geeignet sein kann als mein eigenes. Gedacht, getan - jedenfalls zum Teil.
Bis auf Seite 105 (von 270) bin ich bislang gekommen. Und eigentlich wollte ich mir erst dann Gedanken über eine Veröffentlichung meiner Kritzeleien machen, wenn das Buch komplett fertig ist. Aber dann kam der oben erwähnte Spiegel-Artikel ...
Und während ich mich so intensiv mit diesem Buch beschäftigte, spürte ich, welch doppelt "therapeutische" Bedeutung das Werk für mich hat: Einmal, als ich das Buch schrieb und dann zum zweiten Mal, während ich es häppchenweise las und dabei komplett verfremdete.
Vor 11 Jahren habe ich das Buch geschrieben, es aber nach Erscheinen selbst nie wieder gelesen. Ja, ich mochte das Buch auch gar nicht mehr anschauen. Es war mir peinlich. Peinlich, weil ich es aus der Perspektive der "Gescheiterten" geschrieben hatte, die sich selbst zu Ungunsten aller anderen politischen "Mitspieler/innen" in ein besonders gutes Licht zu rücken versuchte. Heute weiß ich: Mit dieser Art der nachträglichen "Tagebuch-Aufzeichnungen" einer/eines vermeintlich "Gescheiterten" stehe ich nicht allein da. Die Verklärung der eigenen Person im vergeblichen Kampf gegen den (schlechten) Rest der Welt - ein beliebtes Mittel der Selbstdarstellung in allen Memoiren, die jeweils kurz nach dem Abgang von der großen politischen Bühne geschrieben werden. So kurz nach - ja meist dramatischen - Ereignissen geht das wohl auch gar nicht anders, wenn man selbst die Achtung vor sich selbst wenigstens nicht auch noch verlieren möchte. Sinnvoller wäre sicher, ein solches Buch mit gehörigem Abstand zu schreiben. Aber dann interessiert sich natürlich kein Verlag mehr für die Geschichte. Verkaufen lässt sich sowas nur, so lange die Ereignisse noch frisch sind. Später interessiert sich keine Socke mehr dafür - weder für die Geschichte noch für die Person. So kommt es also, dass so viele Bücher geschrieben werden, die von den Medien gern als "Abrechnung" charakterisiert werden.
Und jetzt, nach mehr als einem Jahrzehnt, finde ich: Das Schreiben des Buchs war goldrichtig. Erstens enthält es die (zwar subjektive) aber sehr genaue Beschreibung einer in der Geschichte der Grünen enorm wichtigen Zeit - die Zeit der ersten grünen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene. Zweitens habe ich mir damit alles von der Seele geschrieben, was mich damals aufgewühlt hat. (Als das Buch geplant wurde, wusste noch niemand, dass ich zum Zeitpunkt des Schreibens gar nicht mehr Parteivorsitzende sein würde. Und damit sich dann überhaupt noch interessierte Leser/innen finden würden, musste ich das Buch in Rekordzeit und unmittelbar nach meinem Abgang von der bundespolitischen Bühne schreiben.) Drittens ist ein Großteil des Textes auch heute noch aktuell - und wird es wahrscheinlich immer bleiben, weil sich das Geschäft von Politik, Macht, Einfluss oder Intrigen wohl kaum in den nächsten Jahren ändern wird.
Was das Schreiben des Buches mittels Laptop und Tastatur für meine damalige Vergangenheitsbewältigung war, das ist heute das Umgestalten mittels Tinte und Farbe: Eine Auseinandersetzung mit einer für mich (und im Übrigen für die ganze Gesellschaft damals) äußerst bedeutsamen Phase und das Entdecken der Relevanz, die meine Erlebnisse auch heute noch haben. Insbesondere das Kapitel "Frauen an die Macht?" gibt mir nach wie vor schwer zu denken. Vielleicht werde ich das Buch, wenn es komplett "fertig" ist, auch einmal komplett präsentieren. Für heute sollen einige Ausschnitte genügen.
Es gibt übrigens noch einen wichtigen Grund, diesen Artikel jetzt endlich mal zu veröffentlichen: Ich habe in den letzten Jahren so unglaublich rumgeeiert mit meiner Rolle als Ex-Politikerin und meinem Versuch, ein "ganz normales" Leben zu führen. Diesen Blog hier habe ich - obwohl darin so viel Leidenschaft von mir steckt - bisher eher verschämt betrieben. Zumindest nicht sehr offensiv jedenfalls. Es war mir peinlich, meine hunderte Follower auf Facebook, Twitter oder Google+ (von denen sehr viele Kontakte aus meiner Zeit als Politikerin stammen) mit Kochrezepten, Laien-Fotografie, Selbstgestaltetem oder Gartenimpressionen zu behelligen statt mit tiefschürfenden intellektuellen An- und Einsichten.
Damit ist jetzt Schluss. Ich stehe dazu, eine begeisterte Hobbyköchin zu sein, die gern fotografiert, alte Dinge in Neues verwandelt, sich über kleine Pflänzchen im Garten freuen kann oder allein durch Wald und Flur stiefelt. Nebenbei bin ich intellektuell gefordert als selbstständige Kommunikationsberaterin, eine weiterhin politisch denkende Frau und auch sonst nicht auf den Kopf gefallen.
Punkt.