Krankes Bildungssystem

Von Nicsbloghaus @_nbh

Isch geh Schulhof (Cover, eBook)

Alle wis­sen es und nur wenige spre­chen es aus. Fast nie­mand mehr tut etwas dage­gen: das Bildungssystem in Deutschland ist schwer krank und liegt schon fast im Sterben. Einer von denen, die diese Diagnose stel­len, ist Philipp Möller in sei­nem Erstlingswerk “Isch geh Schulhof”, zu dem es auch einen hpd-podcast gibt.

Das Lachen bleibt im Halse ste­cken, wenn zu lesen ist, wie sich Dialoge in Schulen und Schulhöfen gestal­ten. Es ist erstaun­lich, wel­che laut­ma­le­ri­schen Fähigkeiten Möller ent­wi­ckelt, um die soge­nannte “Kanack Sprach” ein­zu­fan­gen und zu ver­schrift­licht­li­chen. Das liest sich in der jeg­li­che gram­ma­ti­ka­li­sche Regeln außer Acht las­sen­den Art und Weise teil­weise wirk­lich wit­zig. Allerdings wird es spä­tes­tens dann weni­ger lus­tig, wenn man bedenkt, dass denen, die sol­cher­lei ver­hunzte Sprache spre­chen, nicht bewusst ist, dass das kein Deutsch ist und sie sich damit von der Mehrheitsgesellschaft abgren­zen. Noch weni­ger zum Lachen zumute ist einem, wenn man bedenkt, dass sol­cher­lei Sprache vom Schulsystem nicht ver­hin­dert bzw. ver­än­dert wird.

So fügt der Autor zwi­schen die immer wie­der­keh­ren­den und fast ans Absurde gren­zen­den Dialoge eigene Betrachtungen ein, in denen er ver­sucht, die erleb­ten und auf­ge­schrie­be­nen Situationen zu ana­ly­sie­ren. Erstaunlich frei von Bitterniss und Zynismus ana­ly­siert Philipp Möller die Zustände an deut­schen Schulen. Denn “seine” Schule steht modell­haft für viele Berliner Schulen. Nicht nur in den immer wie­der gern kol­por­tier­ten “Problembezirken”.

Den Schulen man­gelt es nicht nur in Wedding oder Neukölln an den bit­ter not­wen­di­gen Finanz- und Sachmitteln, um einen Unterricht anbie­ten zu kön­nen, der die­ser Bezeichnung über­haupt erst ver­dient. Was Möller beschreibt, ist die Verwaltung des Elends – und nicht ein­mal die funk­tio­niert, wie er fest­stellt.

Allerdings mutet es fast ein wenig naiv an, wenn er fragt, ob denn die Entscheider in Senat und Politik denn nicht wüss­ten, das die Berliner Schulen und die Lehrer völ­lig über­for­dert sind. Es ist jedoch auf kaum begreif­lich, wie voll­stän­dig unbe­ein­druckt diese Entscheider rea­gie­ren: Nämlich nicht oder gänz­lich falsch.

Über­haupt ist das Buch – trotz aller har­scher Kritik am Bildungssystem – ein Hohelied auf die Lehrer. Philipp Möller war einer von ihnen und ist es – trotz Ausscheidems aus dem Schuldienst – geblie­ben. Er spricht im Buch noch immer von “unse­rer Schule” und soli­da­ri­siert sich mit den Kolleginnen und Kollegen, die trotz wid­rigs­ter Umstände ver­su­chen, den Kindern wenigs­tens in Ansätzen nahe­zu­brin­gen, was Bildung bedeu­tet, bedeu­ten könnte. Er ver­schweigt aber nicht, dass viele Pädagogen inzwi­schen selbst die­sen Minimalanspruch auf­ge­ge­ben haben und nur noch ver­su­chen, die Zeit bis zur – früh­zei­ti­gen – Pensionierung zu über­le­ben. Doch selbst vor denen ver­beugt er sich ach­tungs­voll im letz­ten Kapitel des Buches. Denn da es keine “Eignungprüfung” für Lehrer gibt, stel­len Etliche erst fest, dass sie für die­sen Beruf nicht beru­fen sind, wenn sie ein lan­ges Studium absol­viert haben. Zu spät, wie Möller fest­stellt.

So ent­wi­ckelt er einige Ideen, wie sowohl die Schulen als auch die Lehrer bes­ser aus­zu­stat­ten wären, um das zu för­dern, was für eine Gesellschaft wie die unsere als die wich­tigste Ressource gilt: Bildung.

Hier zeigt sich übri­gens am deut­lichs­ten, das Philipp Möller ein evo­lu­tio­nä­rer Humanist ist; wo er zeigt, dass er ver­stan­den hat, dass nicht die Schüler oder die Lehrer (ja, nicht ein­mal die ver­ant­wort­li­chen Politiker) “Schuld” sind an der Bildungsmisere – die er Bildungskatastrophe nennt – und dass zwangs­weise Reformen das Gegenteil von dem errei­chen, was sie errei­chen wol­len. Menschen sind, wie sie sind, weil sie wur­den, was sie sind.

Wenn er ein­dring­lich warnt, dass aus der Bildungskatastrophe eine Sozialkatastrophe erwach­sen wird – wenn sich die Gesellschaft nicht so schnell als irgend mög­lich end­lich mit dem grund­le­gen­den Scheitern des Bildungssystemes befasst, das der Moderne um ein hal­bes Jahrhundert hin­ter­her­hinkt.

Je län­ger ich in dem Buch las, des­to­we­ni­ger konnte ich über die Nichtbildung der kind­li­chen Protagonisten lachen. Irgendwann ent­wi­ckelte ich Mitleid mit ihnen, die spä­ter dann in Wut umschlug. Wut auf eine rei­che Gesellschaft, die einem gros­sen Teil der eige­nen Kinder die Teilhabe an der Gesellschaft und an der Zukunft ver­wei­gert. Nicht die Betroffenen sind unge­bil­det: eine Gesellschaft ist es, die dies zulässt.

Nic

Philipp Möller - Isch geh Schulhof: Unerhörtes aus dem Alltag eines Grundschullehrers – Bastei Lübbe 2012, ISBN: 3404606965, 8,99 Euro (eBook: 6,99 Euro)

[Erstveröffentlichung: hpd]