Teil eines Verses aus der 48. Sure Al-Fath in einer Handschrift
aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Naher Osten oder Nordafrika. Abbasidisch.
Manche Muslime haben ja die Vorstellung, dass der Koran, den sie heute in den Händen halten genau derselbe Koran wäre, der oben im Himmel verwahrt wird; oder zumindest ganz genau derselbe wäre, wie sie die Stimmen dem Propheten Muhammad diktierten. Dabei übersehen manche einerseits, dass es beim Tode Muhammads den fertigen schriftlichen Koran noch gar nicht gegeben hatte. Andererseits bedenken sie nicht, dass trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, in letzter logischer Konsequenz doch der Mensch der Schöpfer jedes einzelnen Buchstabens im Koran im Sinne eines Überträgers ist. Sicher: Muhammad hatte den Koran immer nur stückchenweise empfangen, damit er ihn sich besser merken konnte. Aber hier fängt schon das Problem an, denn Muhammad ist ja in islamischer Vorstellung letztlich nur ein Mensch, ein Gesandter zwar, ein auserwählter, aber letztlich nur ein Mensch, kein Gottessohn oder dergleichen. Und es lag manchmal zwischen Empfang einer göttlichen Botschaft und dem Berichten davon an andere Menschen in seiner Umgebung eine gewisse Zeit - besonders bei den ersten Offenbarungen, wo er noch nicht genau wusste, ob er nun eine Illusion hatte oder Gott zuhörte, und sich erst später seiner Ehefrau Chadidscha offenbarte. Dazwischen mögen eventuell schon einige Worte, Silben der empfangenen Offenbarung verloren gegangen sein? Wie dem auch sei, später wurden die Offenbarungen ja durch Muhammad möglichst schnell an seine Gefährten weiter gegeben, damit diese sich gleich ans Auswendiglernen machen konnten, damit möglichst nichts von Gottes Worten verloren geht. Aber wie das eben bei Menschen so ist: Hundertprozentiges gibt es bei uns eher nicht, obwohl die frühislamischen Menschen sicherlich im Memorieren trainierter als wir heutzutage waren. Daher hatten die frühen Muslime noch eine zusätzliche Absicherung ersonnen, nämlich als Gedächtnisstütze einige Verse auch auf Stein, Horn, Palmblätter, Knochen, Leder, Holz, etc. schriftlich festzuhalten. Dabei diente die arabische Schrift so, wie wir heute Steno benutzen - eben als Gedächtnisstütze, nicht zur "wissenschaftlichen" Fixierung eines sakralen Textes. Es gab also keinen schriftlichen Koran, auch keine abschließende "Zettelsammlung", oder "Knochensammlung", des gesamten Korans bei Muhammads Tod. Und das ist ein Problem, denn letztlich konnte man Muhammad bei strittigen Themen, wo vielleicht mehrere Menschen sich an etwas leicht Unterschiedliches erinnerten, nicht mehr befragen, an was sich denn Muhammad so erinnert. Dieses oder jenes Wort, welches war es denn noch einmal?
Tja. Irgendwie schon komisch. Einerseits wird Gott allmächtig gesehen, andererseits lässt er es zu, dass seine Botschaft noch gar nicht unmissverständlich so schriftlich fixiert wurde, dass es darüber keine Meinungsverschiedenheiten oder zumindest Variationen mehr entstehen können. Immerhin ist ja im Selbstverständnis der Muslime der Grund für einen weiteren Propheten der, dass eben Gott unzufrieden sein soll, dass die Menschheit die Worte der vorigen Propheten so verfälschten oder falsch deuteten, dass Gott sich dachte, so, jetzt mal Butter bei die Fische, ich diktiere euch Menschen lieber mal meinen Fahrplan ins Paradies, damit nix schiefgeht...
Aber wie viele Muslime so schön sagen: Allahu A'lam. الله أعلم. Zu deutsch: Gott weiß es besser...
Jedenfalls bleibt festzuhalten:
Der wichtigste Übertragungsweg (bis heute eigentlich) blieb immer die Rezitation, das Memorieren des Korans, also quasi "Stille Post".
Und da die frühen Muslime gleich sehr große Verbreitung fanden, entwickelten sich aus diesem Umstand verschiedene Lesarten des Korans.
So kam es, dass in diversen Regionen des riesigen Weltreiches der Kalifen unterschiedliche Koranausgaben geschrieben wurden.
Einige davon wurden als authentisch angesehen, andere verworfen. Näheres siehe unten.
Heutzutage kann man alle Versionen des Korans erwerben oder auftreiben, aber da die Version von Saudi-Arabien - durch Petrodollars begünstigt - oft verschenkt wurde, fand diese Version weltweite Verbreitung.
Siehe dazu den kurzen aber aufschlußreichen Artikel der Wikipedia:
Lesarten des Korans
Bevor hier aber nun einige (ggf. nichtmuslimische) Leser anfangen zu denken, der Koran wäre nach obigen Worten nur ein beliebig ausgedachtes zusammengestückeltes Machwerk von Muslimen weit nach Muhammads Tod, oder alle diverse Korane würden sich immens voneinander unterscheiden, so sei ihnen gesagt, dass trotz oraler Tradition, also "Stiller Post", die westliche Islamwissenschaft, wie auch (natürlich) islamische Gelehrte davon ausgehen, dass der Koran, wie er heute erstmals 1923 von der Al-Azhar Universität in Kairo verbindlich gedruckt wurde (in der östlichen Lesart), durchaus historisch und authentisch das Wort Muhammads (und für Muslime damit das Wort Gottes) wiedergibt - zumindest gibt es bis heute noch keine eindeutigen Beweise für das Gegenteil. Oben erwähnte Variationen sind inhaltliche Nuancen, wenn überhaupt. Keine grundlegenden Widersprüche und weit von den Schwierigkeiten entfernt, die beispielsweise die Bibeltexte dem Historiker oder Theologen mit ihrer hermeneutischen wissenschaftlichen Herangehensweise machen.
Die einzigen, die damit ein "Problem" haben oder hatten, sind bestimmte fundamentalistische (islamistische) Strömungen im Islam, die den Koran nicht sinngemäß, nicht wortwörtlich, nein, am liebsten sogar buchstabengetreu auslegen möchten, und die sich nur schwer an den Gedanken gewöhnen konnten oder können, dass selbst der Koran eine gewisse Variabilität besitzt, wie so vieles im Islam. Da Gott nun einmal diesen Weg der Übertragung seiner Worte ausgewählt hatte, ist es doch nur logisch, dass er damit der wortwörtlichen oder gar buchstabentreuen Auslegung oder Interpretation seiner Worte gleich einen Riegel vorschieben wollte, damit sich die Menschen eher mit dem Sinn seiner Worte im Koran befassen und sich nicht ständig den Kopf darüber zermartern, was nun dieses oder jenes Wort bedeutet, oder dieser oder jener Buchstabe. Auch sehen einige Gelehrte es als "List" Gottes, dass er so viele diverse scheinbare oder tatsächliche Widersprüche in den Koran einbaute, so viele schwer oder gar nicht verständliche Sätze. So ist der Mensch immer wieder gezwungen sich mit dem Koran zu beschäftigen und seinen Verstand zu gebrauchen um die jeweiligen Schlüsse und Interpretationen neu zu überdenken. Dieser eventuelle "Plan" Gottes ist voll aufgegangen, denn die Korankommentar-Literatur füllt seit den Anfängen des Islams ganze Bibliotheken und geben einen guten Beweis dafür, wie vielfältig die Meinungen darüber sind, was Gott wohl mit diesem oder jenen Suren gemeint haben dürfte. Wie groß der Bedarf an Erläuterungen war, wie groß das Bedürfnis war, den Koran zu erklären, da er so vieldeutig ist oder den Korankommentatoren erschien. Denn wäre jede Sure sonnenklar, hätte es niemals diese immense Zahl an Korankommentaren gegeben, denn es hätte schlicht niemand zusätzliche Erklärungen gebraucht.
Jedenfalls ist es nicht so simpel, wie es heutige Islamisten sehen, die meinen sie bräuchten nur den Koran und die Hadithe (= überlieferte Sprüche und Taten von Muhammads), und mehr nicht. Auch sie interpretieren letztlich, selbst wenn sie wortwörtlich den Koran auslegen wollen.
Die Entstehungsgeschichte des heutigen Korans ist also nicht so einfach, wie es scheint, Gott gibt Muhammad die Suren, er schreibt sie in ein Buch und fertig ist der heutige Koran. So nicht.
Ich zitiere mal aus einer sehr guten Einführung in den Koran, dann wird die Entstehungsgeschichte dieses wirkmächtigen Buches deutlicher, als meine obigen Ausführungen:
Bitte hier weiter lesen: