Im Blog von Loay Mudhoon sah ich eine Zusammenfassung eines Vortrages von Prof. Rotraud Wieland, welches im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz gehalten wurde.
Hier das vollständige Dokument mit dem Titel:
Gleichzeitig bietet Loay Mudhoon einige weiterführende Links. Schaut selber dort für tiefergehendere Informationen nach.
Dabei kam mir der Gedanke, dass es nicht schadet dazu meine Literatur durchzusehen, um daraus als Ergänzung zu seiner Verlinkung weitere Informationen dem interessiertem Leser zur Verfügung zu stellen. Denn viele Muslime wissen, dass ein Kopftuchtragen meist als Pflicht für (geschlechtsreife) Frauen gilt, wissen aber weniger, wie denn die Muslime in der Geschichte zu dieser Auffassung gekommen sind, und ob diese Kleiderordnungen denn so unmissverständlich klar sind, oder ob es da Interpretationsspielraum gibt.
Was steht dazu im Koran, wie war die historische Entwicklung?
Aus: Hartmut Bobzin: Der Koran. Eine Einführung. München 1999.:
Ein anderes in der Öffentlichkeit vieldiskutiertes rechtliches Problem ist die Verschleierung der Frau, für die man sich von muslimischer Seite aus gerne auf den Koran beruft. In diesem Zusammenhang werden drei Verse als mögliche Begründung genannt, wobei es interessant ist, daß alle drei Verse aus medinensischen Suren stammen. Bei der Betrachtung der ersten Stelle, nämlich Sure 24, 31, ist es wichtig, auch den vorhergehenden Vers zu beachten; er zeigt nämlich, daß hier ganz allgemein von den Grundregeln der Schicklichkeit die Rede ist, die Männer ebenso wie Frauen betreffen. Die beiden Verse lauten:
[30] Sag zu den gläubigen Männern (mu'minun), daß sie ihre Blicke niederschlagen und ihre Scham (farg) hüten sollen. Das bedeutet Reinheit für sie. Gott weiß Bescheid über das, was sie tun. [31] Und sag zu den gläubigen Frauen (mu'miriat), daß sie ihre Blicke niederschlagen und ihre Scham hüten sollen, daß sie ihren Schmuck nicht zur Schau stellen sollen, mit Ausnahme dessen, was ohnehin davon sichtbar ist. Sie sollen ihr Tuch (himâr/chimâr; laut Paret: Schal; laut Khoury: Schleier) über den Halsausschnitt schlagen und ihren Schmuck nicht zur Schau stellen. (...)
Das hier für die Frauen erwähnte besondere Kleidungsstück war ein großes Umschlagtuch oder eine Art von Schalgewand, das über das weit ausgeschnittene Untergewand (izar) geschlagen wurde; es bedeckte zwar den Kopf, nicht aber das Gesicht. Es ist jedenfalls bemerkenswert, daß an dieser Stelle keines der in der altarabischen Dichtung benutzten Wörter für den Gesichtsschleier im engeren Sinne verwendet wird. Das trifft übrigens auch für die zweite der hier zu besprechenden Stellen zu; sie stammt aus Sure 33, die besondere Anweisungen für die Frauen des Propheten enthält (33, 30-34. 59). Aus dem Text der gesamten Sure geht mit aller Deutlichkeit hervor, daß der Prophet zu dieser Zeit in Medina bereits eine herausgehobene Stellung hatte und daß sich daraus bestimmte Sonderrechte für ihn und seine Frauen ergaben (33, 59):
Prophet! Sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Gewand (ğilbab) über sich hinabziehen, das ist passender dafür, daß sie erkannt und nicht belästigt werden. Siehe, Gott ist vergebend und barmherzig.
Wie der himar war der ğilbab offenbar ein weites Tuch. Aus dieser Stelle geht freilich nicht hervor, wie man sich die Umhüllung genau vorzustellen hat und ob es tatsächlich eine Gesichtsverhüllung gab. Jedenfalls sollte aus der Art der Bekeidung der besondere soziale Rang der Frauen (etwa im Unterschied zu Sklavinnen) sofort erkennbar sein, so daß sie vor möglichen Übergriffen geschützt waren.
Die dritte Stelle (33, 53) lautet:
Und wenn ihr sie [d. h. die Frauen des Propheten] um etwas bittet, was ihr braucht, so tut das hinter einer Abschirmung (hidschab).
Mit hidschab ist aber keineswegs ein „Kleidungsstück" gemeint, sondern eine Art Trennwand bzw. ein irgendwie trennender Gegenstand (ob Mauer, Paravent oder Vorhang), der auch an anderen Stellen im Koran erwähnt wird: Zwischen den Bewohnern des Paradieses und der Hölle ist ein hidschab (7, 46); Maria zieht sich vor ihren Angehörigen nach Osten zurück und verbirgt sich hinter einem hidschab (19, 16f.); zwischen Mohammed und den Ungläubigen besteht ein trennender hidschab (17, 45; 41, 5), und Gott redet zu Menschen nur durch „Offenbarung" (wahy) oder eben „hinter einem hidschab" (42, 51). Ob man hidschab nun mit „Vorhang" oder „Trennwand" übersetzt, klar ist im Hinblick auf Sure 33, 53, daß eine „Abschirmung" der Prophetenfrauen beabsichtigt ist. Ein eindeutiger Grund dafür geht aus dem Wortlaut des Korantextes nicht hervor. Daher ist es nicht verwunderlich, daß es zur Begründung dieser Offenbarung eine ganze Reihe von widersprüchlichen Überlieferungen gibt.
Die Ausdehnung der „Abschirmung" auf alle Frauen überhaupt stellt erst eine spätere Entwicklung im islamischen Recht dar, die sich u. a. auf die Erwähnung der „gläubigen Frauen" in einem benachbarten Vers beruft (33, 59). Die heutige Verwendung des Wortes hidschab im Sinne von „Kopftuch" bzw. „Schleier" kann jedenfalls, um ein Fazit zu ziehen, aus dem Koran nicht begründet werden. Das haben übrigens auch schon die islamischen Reformer des letzten Jahrhunderts überzeugend dargelegt, wie z. B. der Ägypter Qasim Amin (1865-1908) in seinem berühmten Buch „Die Befreiung der Frau", das 1899 in Kairo erschien.
Heinz Halm schreibt in: Der Islam. Geschichte und Gegenwart. 2004.:
Religiös begründet werden dagegen die Kleidervorschriften für Frauen; allerdings zeigt die große Vielfalt von Trachten in der islamischen Welt, wie unterschiedlich auch hier die Auffassungen sein können, da es an eindeutigen Vorgaben des Koran fehlt. Während in manchen Gegenden die völlige Verhüllung der Frauen hinter dichten Schleiern üblich ist, hat die
islamische Revolutionsregierung in Iran den Gesichtsschleier als unislamisch verboten, dafür aber das Tragen eines Umhangs (čādor) für obligatorisch erklärt. Viele Musliminnen tragen das Kopftuch als sichtbares Zeichen ihres Bekenntnisses zum Islam, andere verzichten darauf, da der Koran es nicht ausdrücklich vorschreibt.
Aus: Oliver Leaman (Hrsg.): The Qur'an: An Encyclopedia. Routledge 2006.
The word for veiling, hijab, is derived from the root h-j-b. Its
verbal form hajaba means to veil, to seclude, to screen. The
complex phenomenon of hijab is generally translated into the
English as veil with its correlate seclusion.
The term hijab or veil is not used in the Qur an to refer to
an article of clothing for women or men, rather it refers to a
spatial curtain that divides or provides privacy. The Qur an
instructs the male believers (Muslims) that when they ask of
anything from the wives of the prophet Muhammad to do so
from behind a hijab, a curtain that creates a visual barrier
between the two sexes (33:53). The observance of this hijab is
the responsibility of the men and not the wives of the
Prophet.
In later Muslim societies this instruction specific to the
wives of the Prophet was generalized, leading to the segrega-
tion of Muslim men and women not related to each other
through family ties. It created a social and political division
between public male space and private female space with the
effect of a political, social, economic, and psychological
disenfranchisement of the women. The gender-segregated
space has also provided an intimate homosocial context con-
ducive to deep bonds between members of the same gender
and inimical to bonds and commitments across genders,
including heterosexual relations.
Although the term for dress or garment in the Qur an is
libas, hijab has come to mean the headgear and outer garment
of Muslim women. Libas is used both literally to refer to
physical/material dress and adornments and figuratively as a
covering of human shortcomings and vulnerabilities. (16:14;
35:12; 18:31; 44:53; 22:23; 35:33).
In the Qur an the righteousness or taqwa of libas is mod-
esty. It is the correct balance between the function of libas as
protection and as ornamentation. Modesty concerns both
men's and women's gaze, gait, garments, and genitalia. The
specific articles and aspects of clothing that are mentioned
with regard to women only are jilbab, a loose outer clothing or
cloak, and khimar or scarf. When in the company of men,
women are asked to raise their khimar (scarves) over the
necklines of their shirts (24:31). When in public women are
asked to draw their jilbab (cloaks) over them so they may be
identified as respectable women and not be harmed (33:59).
These Qur ic verses do not mention any parts of the women's
body. No body parts of either men or women are mentioned
in the modesty verses except the genitalia, which are to be
guarded (24:30-31). Guidelines for covering of the entire
body except for the hands, the feet, and the face, are found in
texts of fiqh and hadith that are developed later.
Early in the twentieth century the tradition of veiling
among Muslim women created controversy. Different ide-
ologies and attitudes, whether in Western countries or on the
part of Muslims influenced by the West, challenged the
practice. Regimes in a few Muslim countries have legislated
the veil on or off Muslim women. In most Muslim countries
where Muslim women have the freedom of choice, some,
especially in the modern urban centers, have discontinued the
practice of veiling. Some of those who had discarded the veil
have returned to it. But this modern return to the hijab
actually gives many women access to public spaces and jobs
instead of secluding them. For many Muslim women, due to a
complex of personal belief, social reenforcement, and public
self-image, the use of the hijab is an integral part of their being
in the world and an outward expression of their inward faith
that dictates modesty and chastity.
Beginning with the twentieth century, Western percep-
tions also underwent change with regard to the image of the
veiled Muslim woman. Originally perceived as being submis-
sive or oppressed, some Muslim women are now being
viewed as being an embodied threat to Western culture. The
custom of Muslim women to publicly cover themselves with
garments that completely hide their body and hair creates a
mystique regarding the wearer and challenges Western mo-
dernity and feminism.
Western perceptions of a stereotypical harem with trapped,
seductively veiled women were played out in the erotic
imagery of early twentieth-century films and paintings.
This misrepresentation of Islam persisted until the sudden
decolonization of French Algeria. The dramatic events of the
Algerian war (1954-1962) marked a turning point in Western
perceptions of Islamic women when heavily veiled Muslim
female militants utilized their garments for the concealment
of weapons. The use of veiling by Muslim women now had
politically sinister connotations of danger, fanaticism, and
terrorism. In the West veiled Muslim women now may be
seen both as oppressed and dangerous.
In the case of the woman who veils her face, gaze-reversal
is implied; instead of being scrutinized herself she is free to
gaze upon men without their knowledge, a perception that
thus may cause another degree of discomfort.
Any analysis of appearance must be viewed within the
totality of the social environment. The Western analysis of its
gaze on Muslim women is not capable of representing the
reality of the lived experience for each individual woman.
The Western and modern Muslim view of Islam and of
women has changed over the last hundred years or so.
Whether the hijab liberates or oppresses or is simply a part of
one's everyday clothing is not an issue that can be easily
answered because of the complexity of each individual situation.
Literatur:
El-Guindi, F. Veil. Modesty, Privacy and Resistance. Oxford
U.K.: Oxford International Publishers Ltd., 1999.
Hussain, F., ed. Muslim Women. New York: St Martin's Press
Inc., 1984.
Mernissi, F. The Veil and the Male Elite. A Feminist Interpreta-
tion of Women's Rights in Islam. Translated by Mary Jo
Lakeland. Reading, Mass.: Addison-Wesley Publishing
Company, Inc. 1991.
Watson, H. "Women and the Veil: Personal Responses
to Global Process." In Islam, Globalization and Postmodernity.
Edited by A. Ahmed and H. Donnan London:
Routledge, 1994.
Vielleicht kommt noch einmal eine Fortsetzung mit weiteren Fundstellen meiner Literatur. Jedenfalls beziehen sich immer mehr muslimische Frauen auch auf ihre Religion, wenn sie sich dazu entschließen das Kopftuch eben nicht anzulegen, wie zum Beispiel Lamya Kaddor. Wie Umfragen ergaben, zieht die Mehrzahl auch der strenggläubigen Muslimas sowieso kein Kopftuch über. Aber nicht jede unterfüttert ihren Entschluss mit islamischer Theologie, bzw. mit einer argumentativen Basis wie es Frau Kaddor tut.
Sie schreibt in einem Artikel, warum sie es nicht mehr als ihre Pflicht ansieht, ein Kopftuch besonders in der hiesigen westlichen Gesellschaft zu tragen:
... Die heutige orthodoxe Auffassung von der Kopftuchpflicht basiert in erster Linie auf den Interpretationen von Gelehrten, die mehrere Generationen nach dem Propheten Muhammad gelebt haben. Ihren Urteilen kann man folgen, aber sie sind nicht sakrosankt. Als Menschen sind alle Gelehrten fehlbar. ...
Hier der vollständige Artikel, sehr interessant.
Wer weitere Begründungen für das Nichttragen des Kopftuches durch Lamya Kaddor erfahren möchte, kann sich hier einen Radiobeitrag anhören, oder hier ein Interview.
(Bildquelle: White Girl' - digital print - 60 x 40 Wikimedia Commons - ' 'White Girl' by Sarah Maple Sarah Maple)