Nun bin ich wieder mal bei einem meiner Lieblingsbeschäftigungen. In Kochbüchern blättern. Die Jahreszeit passt wunderbar dazu, denn die Vielfalt auf dem Markt ist wunderbar. Auch, wenn es scheint, dass wir um den Herbst betrogen worden sind und es jetzt schon Winter ist, lässt der Blick auf Kürbisse, Kohlköpfe, Lauch, Kastanien, Feigen, Orangen, Datteln und vieles mehr das Wasser im Munde zusammen laufen. Ein ganz besonderes Kochbuch, das vielmehr auch ein Buch mit vielen Geschichten ist, hat Jürgen Dollase nun auf den Markt gebracht. „Kopf und Küche“ sind Rezepte, Dokumente und schöne Geschichten. Nach dem großen Erfolg von ‘Himmel und Erde’ nimmt Jürgen Dollase jetzt mit auf seine aufregendsten kulinarischen Reisen. Seine ersten kulinarischen Erfahrungen bis zu Begegnungen mit den besten und kreativsten Köchen der Welt – von Ferran Adrià, Olivier Roellinger und Nadia Santini bis zu René Redzepi, Stefan Wiesner und Harald Wohlfahrt – sind in „Kopf und Küche“ festgehalten.
Hier nun ein kleiner Ausschnitt des Buches:
Es gab eine lange Zeit in meinem Leben, da habe ich viele Lebensmittel gar nicht erst angerührt. Der Grund dafür lag weit zurück in der Kindheit – so hat man es mir jedenfalls immer erzählt. Wir lebten damals im Ruhrgebiet, und zwar in Duisburg-Bruckhausen, wo es kaum einmal blauen Himmel zu sehen gab. Die Kinder, die dort im Schatten der Thyssenhütte groß wurden, waren alle ziemlich blass, weil ohne Immissionsschutzgesetze und Abgasfilter ständig ein Dunstschleier über der Stadt lag. Je nach Wetterlage war er sogar rötlich, weil dann der Staub von der Duisburger Kupferhütte im Süden der Stadt herüberwehte. Wenn meine Mutter die Fenster putzte, waren sie wenige Stunden später wieder schmutzig. Und ich spielte derweil in einer graubraunen Umgebung, in der Farben noch sehr selten waren.
Aber es gab einen Lichtblick. Meine Großeltern wohnten im nicht sehr weit entfernten Oberhausener Stadtteil Alstaden, ganz in der Nähe des Ruhrparks und – noch viel besser – auf einem der wenigen Bauernhöfe, die es dort noch gab. Das war für mich das Paradies, weil ich dort den ganzen Tag in den großen Gärten herumlaufen, auf dem nahen stillgelegten Bahndamm in den Pfützen Kaulquappen sammeln oder den Bauern beim Dreschen in der Scheune zusehen konnte. Ich hatte auch ein gutes Verhältnis zu den vielen Tieren, vor allem zu einer Gänseherde, die mich immer – wie ich das interpretierte – mit großem Schnattern begrüßte, wenn ich auf den Hof kam.
Eines Tages stand eine Gans auf dem Tisch, gebraten als festtägliches Essen. Ich konnte – wie man mir später erzählte – mit der Situation überhaupt nichts anfangen. Die Erkenntnis, dass man die Tiere, mit denen ich den ganzen Tag zu tun hatte, tatsächlich umbringen und essen würde, machte mich völlig ratlos und hatte Konsequenzen, die mich jahrzehntelang begleitet haben. Natürlich habe ich die gebratene Gans nicht angerührt, von diesem Tag an dann aber auch so gut wie kein anderes Fleisch mehr gegessen. Geflügel war für mich viele Jahre lang absolut tabu, und dass ich dann doch Frikadellen gegessen habe, lag daran, dass man mir immer gesagt hat, die kämen aus der Fabrik. Das war dann für mich in Ordnung, weil ich das eben nicht mit den Tieren in Verbindung brachte.
Frikadellen sollten jahrzehntelang das einzige Fleisch bleiben, das ich angerührt habe. Und weil sich im Zusammenhang mit diesen Ereignissen auch sonst meine Vorlieben ziemlich kanalisierten, hieß es immer: „Der Junge fimmelt“ – heißt: Er mag kaum was essen. Das war bekannt, fiel aber nicht so sehr auf, weil die Ernährung in den fünfziger und sechziger Jahren ohnehin nicht besonders abwechslungsreich und schon gar nicht besonders luxuriös war.
Meine geschmackliche Wahrnehmung war also quasi weitgehend neutralisiert. Erst einmal wurde mit dem Kopf alles ausgeschaltet, was ohnehin nicht in Frage kam. Und der karge Rest durfte auf keinen Fall irgendetwas an sich haben, was allzu weit von meinen Vorlieben abwich. Schinken mit Speckrändern, Gelees aller Art und damit auch jede Sülze, jede Form von schwabbeligem Fett und so weiter und so fort. Meine Sinne waren also nicht auf das gerichtet, was man wahrnehmen kann, sondern ausschließlich darauf, alles so schnell wie möglich auszusortieren, was ich nicht essen wollte. Das blieb so, und zwar im Prinzip bis zu meinem 35. Lebensjahr. Ich habe mich so durchgewurstelt, und wenn dann irgendwo in der Bretagne im Sommer Freunde an einem Tisch zusammensaßen und Austern und Muscheln aßen, saß ich dabei und aß Brot und Käse und trank Wein.
Erst meine Frau Bärbel brachte mich zu Beginn der neunziger Jahre langsam, aber stetig auf Kurs. Ich probierte mehr und mehr Dinge und übernahm zu Hause auch mehr oder weniger die Küche. Wir fingen an, die ersten Gäste zu größeren Menüs einzuladen. Aber eine Auster hatte ich noch nie probiert. Es war so etwas wie das letzte Tabu, vielleicht auch deshalb, weil selbst Bärbel, die mir immer ein leuchtendes Vorbild beim Essen von Innereien oder allerlei Meeresgetier war, von Austern bisher nichts wissen wollte.
Bis zu jenem Urlaub in der Austern-Hochburg Cancale. Dort sind wir immer wieder an die Mole und zu dem kleinen Austernmarkt spaziert und haben uns darüber gefreut, wie selbstverständlich hier Austern gegessen wurden – ganz ohne Schickimicki-Attitüde, von Kindern bis zu den ganz Alten, genussvoll, morgens, mittags und abends und zwischendurch. Und so bestellte ich eines Tages einfach selbst einen Teller mit sechs Austern. Da lagen sie nun, geöffnet und auf Eis, voller Wasser und mit einem Stück Zitrone an der Seite.
Ich saß vor ihnen, wild entschlossen, durchaus konzentriert, aber nicht ohne Zweifel. Es gehen einem da noch ganz schnell ein paar Sachen durch den Kopf – zum Beispiel, dass die Austern noch leben. Ich hatte den Bart berührt, und er hatte sich tatsächlich ein Stückchen zurückgezogen. Glücklicherweise baute sich durch diese Berührung aber auf die Schnelle keine persönliche Beziehung zu den Austern auf, so dass ich mich darauf beschränken konnte, ihren vorschriftsmäßig frischen Zustand zu konstatieren. Sie sahen irgendwie nicht besonders übersichtlich aus, und man konnte sehen, dass sie ziemlich glibberig sein würden.
Sicherheitshalber hatte ich auch nicht irgendeine Sondergröße bestellt, sondern ganz normale Exemplare (im Nachhinein vermute ich die Größe 4), damit man nicht plötzlich mit einem übervollen Mund dasteht und nicht weiß, wo man mit dem ganzen ungewohnten Glibber hinsoll. Ich nahm also eine Auster in die Hand, schüttete etwas Wasser ab und war ein wenig erstaunt, dass schon ein Hauch von Meeresduft um meine Nase strich. Dann schlürfte ich sie mit einer entschlossenen Geschwindigkeit aus der Schale, musste kurz würgen, kaute dreimal schnell und – war völlig überwältigt. Ich wusste buchstäblich in einer Zehntelsekunde, dass dieses phantastische Aroma wie ein Biss in einen neuen Kosmos war, den ich noch nicht kannte, aber längst liebte.
AT-Verlag, ISBN: 978-3-03800-875-0
Einband: Gebunden
Umfang: 320 Seiten
39,95 EUR