Am 30.05 spielte «the one and only» Thom Yorke in der Halle 622 in Zürich. Wie eine schlechte Location ein grandioses Konzert überschattet – und was das über die strukturellen Probleme der Musikindustrie aussagt. Eine Meinung.
Zürich Oerlikon, 30.05.2018. Eine Menschenmasse strömt vom kürzlich renovierten Bahnhof Richtung Halle 622. Nur ein kurzer Fussweg trennt sie von ihrem Ziel: dem Konzert der Radiohead-Legende Thom Yorke.
Der Radiohead-Sänger ist einer dieser Musiker, die den Legendenstatus zurecht tragen. Mit der Single Creep gelang seiner Band 1992 der internationale Durchbruch. Mit Pablo Honey 1993 und The Bends 1995 folgten zwei zugängliche, massentaugliche Studioalben. Doch mit eingängigen Melodien, die die Massen in riesige Stadien trieben, konnte sich Radiohead nie richtig anfreunden. Mit OK Computer und Kid A schlug die Band deutlich experimentellere und dissonantere Töne an. Insbesondere Thom Yorke bewegte sich musikalisch immer mehr von der Gitarrenmusik hin zu elektronischen Ausdrucksformen, die er ab 2006 in seinen Soloprojekten und 2013 im Rahmen der Supergroup Atoms for Peace zu verwirklichen begann.
In der Halle 622 sollte er diese experimentellere Seite zum Besten geben. Die Erwartungen von alteingesessenen Fans sind dementsprechend hoch. Viele sollten enttäuscht werden – und dafür konnte Thom Yorke von allen Beteiligten am wenigsten. Ein Drama in vier Akten.
Erster Akt: Das lange Warten
Bei der Konzerthalle angekommen erwartet die Besucher eine erste grosse Hürde: Aufgrund restriktiver Taschenkontrollen müssen sich viele in eine etwa zweihundert Meter lange Schlange stellen, um ihr Hab und Gut vor der Konzerthalle abzugeben. Dass die Tatsache, dass Taschen und Rucksäcke das A4-Format nicht überschreiten dürfen, bereits vorab auf der Webseite der Halle 622 angekündigt wurde, ist eine sichtlich schlechte Ausrede. An einem Mittwochabend kommen nun mal viele direkt von der Arbeit oder von der Uni. Darauf könnte man sich als Veranstalter einstellen und ausreichend Garderoben einrichten. Die im Endeffekt relativ laschen Kontrollen der zugelassenen Gepäckstücke am Eingang lassen auch das Sicherheitsargument nur wenig überzeugend erscheinen. Die Stimmung vieler Besucher ist bereits vor Konzertbeginn gedämpft.
In der Halle angekommen setzt sich die Warterei fort. Eine gute Viertelstunde dauert es, bis wir unser siebenfränkiges Bier erhalten. Viele schaffen es nicht rechtzeitig zu Oliver Coates, der den Abend pünktlich um 20 Uhr eröffnet. Und auch diejenigen, die rechtzeitig da sind, um sich bereits vorher mit Getränken und Nahrung auszurüsten, stehen mehrheitlich in der Wartehalle oder im Raucherbereich herum. Denn beim Betreten der Konzerthalle erwartet sie eine weitere grosse Hürde: eine beinahe unerträgliche Hitze.
Zweiter Akt: Die Sauna
Obwohl es relativ warm ist, finden die meisten Besucher um 21 Uhr den Weg in die Konzerthalle. Denn immerhin beginnt um 21:15 Thom Yorke, den man freudig erwartet. Kurz vor Konzertbeginn hebt die Vorfreude die Schikanen am Eingang wieder auf. Es wird gefachsimpelt, über Musik, über Thom Yorkes politische Haltung, über die hohen Erwartungen an den Abend. Nicht wirklich ernst gemeint fragt jemand neben mir: „Denkst du, sie spielen heute Creep?“ Mit der guten Stimmung der Besucher nimmt jedoch auch die Temperatur im Raum zu.
Thom Yorke betritt die Bühne, das Publikum begrüsst ihn mit grossem Beifall. Mit dem ersten Song Interference bietet er einen relativ ruhigen Einstieg. Umso besser kommt dabei zur Geltung, dass einige der vorkonzertlichen Gespräche noch nicht beendet wurden: Die ruhigeren Passagen werden von einem konstanten Raunen im Saal begleitet. Die hitzige Temperatur im Saal resultiert in hitzigen Gemütern, wie es scheint. Bereits nach wenigen Minuten verlassen einige den Raum, um frische Luft zu schnappen, und kehren einigermassen erholt wieder zurück. Gewisse Besucher wiederholen diesen Zyklus über den ganzen Abend hinweg, im Publikum herrscht ein ständiges Hin und Her. Einige versuchen zu tanzen, müssen aufgrund der Hitze aber wiederholt Pausen einlegen.
80 Franken aufwärts also für ein Konzert, das ein Teil der Besucher aufgrund eines wenig leistungsfähigen Lüftungssystems zur Hälfte draussen verbringen muss. Ärgerlich? Ja! Überraschend? Eher weniger.
Dritter Akt: Die Krise der Musikindustrie
Dass die Musikindustrie in einer Krise steckt, ist bekannt. Mit Tonträgern lässt sich in Zeiten der Digitalisierung nicht wirklich etwas verdienen und auch Streamingdienste werfen für viele Künstler kaum Geld ab. Themen, zu denen sich auch Thom Yorke regelmässig äussert. Einzig die Konzertindustrie ist noch immer sehr profitabel. Was sich grundsätzlich gut anhört, hat einen wesentlichen Haken: Der Markt ist beinahe monopolisiert. Die beiden Ticketing- und Vermarktungs-Riesen Starticket, Teil des Tamedia-Konzerns, und Ticketcorner, von der deutschen CTS Eventim aufgekauft, sind in der Schweiz beinahe konkurrenzlos. Die Konsequenz: hochdotierte Acts, die ein breites Publikum anziehen, zu hohen Preisen. Auch kleinere Veranstalter müssen vermehrt den grossen Marktakteuren anpassen, zu gross sind die Abhängigkeiten, zu bedeutsam ist ein breites Netzwerk im Business.
Analog dazu schossen in Zürich in den letzten Jahren mehr oder weniger austauschbare Konzertlokale aus dem Boden. Die Samsung Hall in Dübendorf zum Beispiel, oder eben die Halle 622 in Oerlikon. Beide Standorte scheinen sich primär an den Anforderungen der monopolisierten Konzertindustrie zu richten: Der Platz ist möglichst effizient genutzt, der Aufbau verleitet zum Konsum. Dass dabei die Bedürfnisse des Publikums zu kurz geraten können, scheint egal. Lange Wartezeiten beim Einlass und untragbare Temperaturen sind Teil eines Kollateralschadens, denn die Besucher kommen ja trotzdem, solange das Marketing und der Name stimmen.
Vierter Akt: Der Spiegel des Kapitalismus
Ausgerechnet Thom Yorke spielt also an diesem Abend in einem Raum, in dem sich viele Probleme der Musikindustrie materialisieren. Thom Yorke, der in den Medien als vehementer Kritiker von Spotify auftritt. Thom Yorke, der öffentlich den Kapitalismus und globale Ungleichheiten kritisiert. Thom Yorke, der Noam Chomsky, den anarchistischen Linguisten und Enfant terrible der amerikanischen Intellektuellenszene der Sechzigerjahre, als seinen wichtigsten philosophischen Einfluss aufführt.
Souverän stellt er sich diesem Paradox. Als würden auf der Bühne angenehmere Temperaturen herrschen, präsentiert er einen Eindruck seines unglaublichen Könnens. Seine Bühnenpräsenz bewegt sich, wie gewohnt, in einem Spannungsfeld zwischen energetischer Show und einer mit dem Publikum geteilten Introvertiertheit. Thom Yorke ist eben gleichermassen Rockstar und Philosoph. Auch die Setlist ist gut durchdacht, das Verhältnis zwischen ruhigeren und tanzbaren Titeln stimmt. Dass der Radiohead-Frontsänger hier nicht die Hits der Neunzigerjahre, sondern seine experimentelleren, elektronisch geprägten Stücke zum Besten gibt, scheint niemanden zu stören. Mit Amok und Default sind auch zwei Songs seines Nebenprojekts Atoms for Peace vertreten, was vom Publikum begeistert aufgenommen wird. Den passendsten Kommentar zum Konzertabend bietet allerdings – ob gewollt oder ungewollt – der vierte gespielte Titel: die Singleauskoppelung Black Swan.
I’m your black swan, black swan
But I made it to the top, made it to the top
This is fucked up, fucked upYou are fucked up, fucked up
This is fucked up, fucked upBe your black swan, black swan
I’m for spare parts, broken up
„This is fucked up“ – mit nur vier Wörtern halt Thom Yorke dem Kapitalismus, den er gerne und häufig kritisiert, einen Spiegel vor. Das Paradox zwischen kommerzieller Konzertlocation und seinem nonkonformistischen Auftreten löst sich allmählich auf, erscheint zeitweise sogar passend.
Alles in allem war Thom Yorkes Darbietung hervorragend. Beim Verlassen des Konzerts bleibt aber das beklemmende Gefühl, dass sein Auftritt noch besser zur Geltung hätte kommen können – an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.