Zum ersten Mal seit dreizehn Jahren beehrten Arcade Fire endlich wieder die Limmatstadt. Im (halbleeren) Hallenstadion erlebte die Band einen kleinen Kulturschock – und präsentierte dennoch ein musikalisches Feuerwerk.
Platz gibt es hier genug: Das halbleere halbe Hallenstadion.
Mit gemischten Gefühlen bewege ich mich am Mittwochabend in Richtung Hallenstadion. Arcade Fire ist eine der wenigen Bands, deren Musik mich seit fast zehn Jahren beständig begleitet. Und heute darf ich sie erstmals in meiner Heimatstadt live erleben. Doch können die hohen Erwartungen erfüllt werden?
Denn mit Arcade Fire führe ich seit einigen Jahren eine On-Off-Beziehung: Das erstmalige Hören ihres Opus magnum Funeral. On. Die Ankündigung Win Butlers, nie mehr in der Schweiz spielen zu wollen. Off. Die Tatsache, dass Reflektor entgegen der Erwartungen überzeugte. On. Die unheimlich prätentiös-inhaltslose Dokumentation Arcade Fire: The Reflektor Tapes. Off. Die Arcade Fire-Konzerte, für die ich in ganz Europa herumreiste – und es lohnte sich. On. Die plumpe „kapitalismuskritische“ Vermarktung des neuen Albums Everything Now. Off. Die Nachricht, dass AF nun doch in Zürich spielen. On?
Halbleeres Hallenstadion
Als sich der Konzertbeginn nähert, steigt trotz aller Bedenken allmählich die Vorfreude. Ohne anzustehen betreten wir das Hallenstadion und checken erstmals den Merch ab. Da musste ich zum ersten Mal bizli schmunzeln: Für 10 Franken bekommt man ein Set Stickers und das auf Honduras hergestellte Shirt gibt’s für 40.-. Schon etwas ironisch in Anbetracht dessen, dass sich Win Butler und Co. gerne als Weltverbesserer inszenieren. Aber was soll’s! Auf zur Vorband.
Auf ihrer laufenden Infinite Content Tour wählten Arcade Fire jeweils einen lokalen Act als Support für ihre Show aus. In Zürich fiel die Wahl auf die Zürcher Rapperin Big Zis. Das sowieso schon zur Hälfte verkleinerte Hallenstadion ist nicht mal zu einem Viertel gefüllt, die Stimmung des Publikums hält sich in Grenzen. Dennoch meistert die Rapperin – die mit bürgerlichem Namen Franziska Schläpfer heisst – ihre Aufgabe souverän. Zum Ende ihres Auftritts vermag sie mit ihrer energiegeladenen Bühnenpräsenz den/die eine/n oder andere/n zum Tanzen zu bewegen.
Nach einer kurzen Pause ist es so weit. Die Show, auf die alle gewartet haben, beginnt. Und den Begriff „Show“ nehmen Arcade Fire wortwörtlich. Als aus den Boxen Walter Murphys Interpretation von Beethovens fünfter Symphonie dröhnt, schreitet die Band in rockstarähnlicher Manier durch das Publikum. Als „Kings of Pop“ kündigt sie eine Lautsprecherstimme an. Da das Hallenstadion noch immer nur zur Hälfte gefüllt ist, gelingt es uns mühelos, das Geschehen aus nächster Nähe zu beobachten. Ungläubig schauen wir zu, wie Régine Chassagne nur einen Meter vor uns Halt macht und sich von den Fans (und ebenso vielen Smartphones) feiern lässt.
Etwas Disco und einige Klassiker
Und dann geht es richtig los: Mit dem ersten Titel Everything Now – der ersten Singleauskopplung des gleichnamigen neuen Albums – transformieren AF das sonst eher triste Hallenstadion in einen Discokeller. Die überdimensionale Discokugel, die an der Decke angebracht ist, kommt mit den Abba-esken 80er-Jahre-Beats des Songs so richtig zur Geltung. Nur in den hintersten Reihen bleibt man jetzt noch Stehen. Der Frontsänger Win Butler fordert das Publikum zum Mitsingen auf: Nananananaaanananaaa! Doch so richtig hören kann man nichts. Die Schweizer Zurückhaltung und die geringe Besucherzahl sind für die Band, die sich gewohnt ist, in ausverkauften Mega-Stadien zu spielen, ein kleiner Kulturschock. Leicht eingeschnappt gibt Butler seinen ersten Versuch, die Zuschauer zu motivieren, auf.
Das Hallenstadion wird zur Disco.
Mit Neighborhood #3 und Rebellion (Lies) folgen zwei Songs vom von der Musikpresse gefeierten Album Funeral, was beim Publikum ausgezeichnet ankommt. Auch der Neon-Bible-Klassiker No Cars Go vermag die Zuschauer zu begeistern. Mit Electric Blue – einem der schwächeren Titel des neuen Albums – flaut die Stimmung wieder etwas ab. Win Butler zeigt sich wiederholt enttäuscht. Bevor die Band Put Your Money on Me anstimmt, fragt er leicht angepisst: „Is dancing part of the culture here?“ Die Motivation des Publikums steigert das nur gering – so bewegen sich AF auch mit diesem Song nicht auf der Höhe ihres Könnens.
Umso erfreulicher ist es, dass das musikalische Feuerwerk danach erst richtig losgeht. Keep the Car Running, We Used to Wait, Rococo. Ein Highlight folgt dem anderen. Vor Crown of Love unterbricht Butler kurz die Hitparade, um gegen die Politik Donald Trumps zu wettern, was wenig erstaunlich mit Applaus gefeiert wird. Es folgen Suburban War, The Suburbs, Ready to Start, Sprawl II. Und natürlich der mit David Bowie aufgenommene Song Reflektor, bei dem wirklich keiner mehr stillsteht. Die Bewegung im Publikum setzt sich mit den tanzbaren Titeln Afterlife und Creature Comfort – mein persönlicher Favorit des neuen Albums – fort.
Ein Zeichen der Versöhnung?
Dann verlassen Arcade Fire die Bühne. Ich befürchte schon, dass sie aufgrund der verhaltenen Gesangseinlagen der Zuschauer keine Lust mehr haben, eine Zugabe zu spielen. Aber sie kehren zurück. Ein Zeichen der Versöhnung?
Eine romantische Stimmung kommt auf, als die Band die Ballade We Don’t Deserve Love anstimmt. Einer Karaokeparty nachempfunden steht Win Butler auf dem Bartresen und blickt auf den Bildschirm über der Bühne, auf dem der Songtext abgebildet wird. Und dann folgt das Grande Finale: Wake Up. Die Zurückhaltung der Zuschauer ist definitiv gebrochen: Auf den Sitzplätzen sitzt kaum noch jemand und bis in die hintersten Reihen wird begeistert mitgesungen und getanzt. Zum Konzertende schweift endlich ein Lächeln über Butlers Gesicht.
Auf dem Heimweg hallen die Songs, die ich an diesem Abend live erleben durfte, in meinem Kopf nach. Analog dazu kommen all die guten Erinnerungen der letzten Jahre auf, die ich mit Arcade Fire verbinde. Offs wird es zwar bestimmt wieder geben, dafür sieht die Band ihren Platz im Indie-Olymp als genügend gesichert an – wie auch im Hallenstadion erneut klar wurde. Doch zugleich wird mir bewusst, dass meine Leidenschaft für die Band derart tief sitzt, dass ich ihnen fast alles verzeihe. Vielleicht ist es ebendieses Offs, die mich immer wieder zu Arcade Fire zurückfinden lassen – und das ist vielleicht gut so.