Konzept-Überarbeitung, die 93. Runde....

".... vielen Dank für die Zusendung des überarbeiteten Konzeptes. Ich habe noch folgende kleine Anmerkungen ....[es folgt eine Liste mit 35 detaillierten Punkten, die zu beachten sind].... Außerdem bitte ich Sie, bei der Erstellung der Grafiken zukünftig auf folgendes zu achten .... [es folgen 12 neue Regeln, die ab sofort einzuhalten sind] .... bitte übernehmen Sie dieses als Regel in unser Projekthandbuch [ ... das erst 138.237 unterschiedliche Regeln enthält] ..."
Das ist ein Auszug aus einer eMail eines gründlichen Auftraggebers, ergänzt um meine Gedanken beim Lesen.
Es gibt Tage, da bin ich versucht, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen. Oder etwas ähnlich tiefgründiges. Oder ich überlege, den Beruf zu wechseln. Oder das Projekt.
Nichts scheint so schwierig zu sein, wie eine Balance zwischen Regelungsbedarf und Gestaltungsfreiheit zu finden. Was für den einen völlig in Ordnung ist, ist für den anderen viel zu viel.
Was der eine als Orientierung braucht, um sorgfältig arbeiten zu können, empfindet der andere als unzulässige Einmischung.
Mir geht es öfter so:
Es gibt Tage, da bin ich für Gestaltungsfreiheit. Absolut und zu 100 %. Und es gibt Tage, da finde ich Regeln völlig in Ordnung. Warum ist das manchmal schwierig und manchmal nicht, habe ich mich gefragt. Es liegt nicht an der "Tagesform". Es liegt an etwas anderem. Nämlich an dem, was hinter der Regel liegt.
Hinter jeder Regel liegt ein Wert. Werte sind interpretierbar. Damit das einfacher wird im täglichen Arbeiten und damit alle in etwa in die gleiche Richtung laufen (oder arbeiten), gibt es Regeln. Regeln erklären einen Wert in einer verkürzten Form, könnte man sagen. Also ist es ganz gut, dass es sie gibt. Aber wie bei den meisten Dingen im Leben, kommt es auf die Dosierung an, und auf den dahinter liegenden Wert.
Oben erwähnter Auftraggeber regelt gerne und viel. Er möchte Qualität. Das ist verständlich. Allerdings vertraut er seinem Projektteam nicht wirklich. Ein Fehler löst dort große Diskussionen und die Frage nach dem Schuldigen aus. Die Nichteinhaltung einer Regel zieht unweigerlich die Definition weiterer Regeln nach sich, die helfen sollen, nichteingehaltene Regeln einzuhalten. Dahinter steht der Wert "Kontrolle". Ganz im Sinne von "Vertrauen ist gut..."
Oje. Wenn jemand noch nicht so ganz sicher Fahrrad fährt (meistens Kinder), können Stützräder helfen. Wenn die Stützräder nicht helfen, helfen Stützräder für die Stützräder auch nicht.
Anderer Tag, anderes Projekt. Wir arbeiten uns im Workshop durch eine Vielzahl an Regelungen. Was ist für den Start des Projektes notwendig, was würde dem Team nur unnötige Mehrarbeit bescheren? Wir definieren auch Regeln. Erstaunlicherweise möchte das Projektteam eine ganz Menge an Regeln im Projekthandbuch verankert wissen. "Braucht Ihr das auch? Haltet Ihr das auch so ein?", das ist die Frage des Projektleiters. Für ihn ist weniger mehr. Er verlangt die Einhaltung weniger Regeln, die dafür konsequent. Wenn etwas nicht klar erscheint oder jemand im Team nach einer Regel ruft, stellt er in paar Fragen. Zum Beispiel "Dient das dem Projektziel?" oder "Was brauchst Du, damit Du das im Sinne des Projektes entscheiden kannst?" "Wenn Du Dich mit der Aufwandsschätzung vertan hast, was müssen wir tun, damit Du beim nächsten Mal genauer sein kannst?" Dahinter steht der Wert "Vertrauen" und "Zusammenarbeit"
Man kann Fahrradfahren auch ohne Stützräder lernen. Am Anfang erscheint das wackelig und gefährlich, aber man lernt schneller, auf was man achten muss, um die Balance zu halten. Und am Anfang hält ja jemand den Sattel, damit man nicht gleich umfällt.
Konzept-Überarbeitung, die 93. Runde....
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