Konzentrierte Grenzgänger: Zwei Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse

Jedes Jahr hinterlässt die Buchmesse in mir bei allem Positiven auch ein schales Gefühl: So viele interessante und verlockende neue Bücher, und ich weiß, ich werde sie niemals alle lesen können, selbst wenn ich von morgens bis abends nichts anderes machen würde. Da ich hauptberuflich keine Literaturkritikerin bin, kann ich auch nicht den größten Teil meiner Zeit darauf verwenden, Belletristik zu lesen. So hinke ich mit meiner persönlichen Lektüreliste immer ziemlich hinterher. Trotzdem landen dort nach der Messe immer wieder ein paar Neuerscheinungen, und auch in diesem Jahr sind für mich zwei persönliche Highlights herausgestochen: Robert Seethaler, der seinen neuen Roman „Ein ganzes Leben“ vorstellte, und Nino Haratischwili mit ihrer georgischen Geschichte des 20. Jahrhunderts „Das achte Leben (Für Brilka)“.

Robert Seethaler

Der geborene Wiener Robert Seethaler ist (oder war) im ersten Beruf Schauspieler, und fing – man weiß nicht genau wann – irgendwann an zu schreiben. 2006 erschien sein erster Roman „Die Biene und der Kurt“, der prompt den Debütpreis des Buddenbrookhauses erhielt. Fünf Romane später behauptet er, dass das mit der Schauspielerei gegessen sei – und das ist vielleicht das Einzige, was man ihm nicht ganz abnimmt, wenn man weiß, dass er in naher Zukunft im neuen Film von Oscar-Preisträger Paolo Sorrentino an der Seite diverser Hollywoodstars auf der Leinwand zu sehen sein wird. Ich erlebe Robert Seethaler im Gespräch auf der Messe als einen Menschen, der überwältigend offen mit seinen Brüchen und selbst wahrgenommenen „Schwächen“ umgeht. Der zum Beispiel unverhohlen seine Angst vor dem ganzen Buchmessen-Rummel und der damit zusammenhängenden Aufmerksamkeit zugibt (so, dass man es ihm ohne Weiteres abnimmt) – und das als jemand mit langjähriger Bühnen- und Kameraerfahrung, der zudem gleichzeitig nach außen äußerst selbstsicher und in sich ruhend wirkt.

„Ein ganzes Leben“ leistet das beinahe Unglaubliche, auf gerade einmal 160 Seiten das sieben Jahrzehnte umfassende Leben des Andreas Egger, eines einfachen Mannes aus den Bergen, zu erfassen. Es passiert nicht viel in diesem Leben, und aus globaler Perspektive nichts Außergewöhnliches. Er wächst auf, arbeitet, verliebt sich, wird zum Witwer, muss in den Krieg ziehen und gerät in Gefangenschaft, kehrt wieder zurück und lebt still weiter. Diese einfache, stille Figur habe er sich „aus dem Herzen gedrückt“, erklärt Seethaler. Sie sei Figur gewordene eigene Angst und Sehnsucht. Egger lebt, liebt und leidet, ohne dass es irgendwo spektakulär wird. Er erträgt alles „mit stiller Verwunderung“. Letzteres ist eine dieser knappen, kurzen, voll durchdachten Wendungen, mit der Seethaler seine Gedanken äußerst präzise und konzentriert in Worte fasst. Diese stille Verwunderung, das Staunen an sich erhebt er zum Lebensprinzip – ganz ohne Gott, Leidenschaft oder Esoterik: „Wir alle“, sagt Seethaler, „haben nur dieses eine Leben, darum ist auch jedes Leben ganz, egal wie es endet.“

Nino Haratischwili

Und dann Nino Haratischwili, in vielem ein echter Kontrast zu Robert Seethaler: Da sitzt eine sehr selbstbewusste junge Frau, die ebenfalls sehr durchdacht und klug spricht, aber viel mehr Text produziert, was sich auch in ihrem neuen Werk niederschlägt: „Das achte Leben (Für Brilka)“ umfasst nicht weniger als 1280 Seiten und schildert vor dem Hintergrund des gesamten 20. Jahrhunderts sechs Generationen einer georgischen Familie, vornehmlich ihrer Frauen. 1300 Seiten! Dieser Umfang wirkt auf den ersten Blick abschreckend, aber wenn man wie bei Seethaler von der Art eines Autors zu sprechen auf seinen Schreibstil schließen kann, dann bin ich bei Nino Haratischwili zuversichtlich. Und nicht zuletzt ist das, was sie erzählt, in gewisser Weise neu und herausragend. „Das achte Leben (Für Brilka)“ ist zum einen nicht in der Muttersprache der Autorin, sondern in ihrer Zweitsprache Deutsch verfasst – die sie im Übrigen hervorragend beherrscht –, zum anderen ist es der erste Roman im deutschen Sprachraum, der die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht aus dem westlichen Blickwinkel erzählt, sondern aus dem östlichen. Und nicht zuletzt ist Georgien ein Land, das mich persönlich fasziniert und interessiert – aufgrund seiner geografischen Lage, seiner Landschaften, seiner Kultur und nicht zuletzt seiner Menschen, von denen ich bisher einige sehr kluge, herzliche und mutige kennenlernen durfte, die sich mit viel Engagement für ihr Land, für ein demokratisches, freies Georgien einsetzen.

Vielleicht kann man Nino Haratischwili am ehesten als Grenzgängerin bezeichnen: In Tiflis geboren und aufgewachsen, studierte sie in den 2000ern Theaterregie in Hamburg, wo sie bis heute lebt und arbeitet. Neben ihrer Arbeit als Regisseurin hat sie bereits 2010 ihr Romandebüt „Juja“ veröffentlicht, das sofort auf der Longlist des deutschen Buchpreises landete. Sie schreibt nicht in ihrer Muttersprache und wagt sich jetzt also an einen komplexen, schwierigen, umfangreichen Stoff, um gleichzeitig einzugestehen, dass sie keine Historikerin ist und deshalb auch nicht mit einem entsprechenden Anspruch an ihre Geschichte herangegangen ist. Ob ihr die Geschichten ihrer Figuren vor diesem Hintergrund gelungen sind, muss ich selbst noch herausfinden. Theater und Literatur, Gratwanderungen zwischen Formen, Sprachen und Kulturen: Trotz ihrer Unterschiede scheint es Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Autoren zu geben, die mich auf der Buchmesse beeindruckt haben. Auf mich wirkten sie beide auf ihre Weise mutig, nicht bequem und vor allem authentisch. „Am Rande Stehende sind Grenzgänger“, so hat es Robert Seethaler formuliert. Wohin es geht, bleibt dabei immer offen.


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