“Junge Welt”, 11.07.2012
Hintergrund. Der neue Internetkapitalismus – Teil II (und Schluß): Über Selbstoptimierung, die Verinnerlichung der Imperative der Kapitalverwertung und die optimale Ausbeutung der Ressource Mensch
In der Ära der digitalen Transparenz verliert der Begriff der Privatsphäre zunehmend an Kontur und Bedeutung, wie jüngst viele Erwerbslose erfahren mußten: »Geben Sie uns bitte ihr Facebook-Paßwort«. Mit dieser Aufforderung sehen sich immer öfter Arbeitssuchende bei Vorstellungsgesprächen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien konfrontiert. Die Personalabteilungen wollen dabei sichergehen, daß ihre künftigen Lohnabhängigen keine für das Unternehmen nachteiligen Anschauungen pflegen oder suspekte Bekanntenkreise aufweisen. Und nichts eignet sich besser, den Konformismus der potentiellen Angestellten auszuloten, als die sozialen Netzwerke, in denen immer mehr Menschen ihre Privatsphäre freiwillig offenlegen.
Dieser Zugriff auf die Privatsphäre trifft bisweilen auch schon länger beschäftige Lohnabhängige. Gegenüber dem britischen Telegraph berichtete Lee Williams, Angestellter eines Onlineshops, daß er von einem Vorgesetzten nach seinen Facebook-Zugangsdaten gefragt wurde, da sein Account aufgrund vorsichtiger Einstellungen für Außenstehende kaum einsehbar war. »Der Boß dachte, das Williams etwas zu verbergen habe, weil sein Profil nicht öffentlich zugänglich war«, so faßte der Telegraph die Argumentation des »Arbeitgebers« zusammen. Wer nichts zu verbergen habe, der habe auch nichts zu befürchten – diese polizeistaatliche Logik reproduziert sich vermittels des perversen Zwangs zur Transparenz auch im Internet und seinen sozialen Netzwerken.
Zwang zur Transparenz
Im vergangenen März haben die Paßwortanfragen durch »Arbeitgeber« schließlich auch Facebook zu einer Stellungnahme veranlaßt, in der das soziale Netzwerk diese geschäftschädigende Praxis verurteilte. Die amerikanische Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) startete sogar eine relativ erfolgreiche Kampagne, die auf die Illegalisierung solcher Praktiken abzielt. So hat etwa Ende Mai der Senat des US-Bundesstaats Kalifornien entsprechende Gesetze verabschiedet, die es Unternehmen verbieten, die Zugangsdaten ihrer Bewerber oder Angestellten anzufordern.
Dabei deutet diese Episode bereits das ungeheure Potential an Überwachungs- und Kontrolltechniken an, die aus der gesamtgesellschaftlichen Durchsetzung der Technologien des Internet 2.0 erwachsen. Die Personalabteilungen versuchten in diesen Fällen, eine bereits gegebene Tendenz auszunutzen, um so ihr »Humankapital« zu optimieren. Die persönlichen Daten befinden sich ja bereits in der Web-Cloud, der »Datenwolke« im Netz. Es kommt nur noch darauf an, den Zugriff darauf zu organisieren. Dieser »Zwang zur Transparenz«, der auf den Lohnabhängigen zusehends lasten wird, resultiert hauptsächlich aus einer Notwendigkeit, im Zuge der eingeleiteten prekären Umformung der Arbeitsverhältnisse (siehe jW-Thema in der gestrigen Ausgabe) auch neue adäquate webgestützte Kontrollmechanismen zu etablieren. Die Etablierung des webbasierenden »Cloud Working« und der entsprechenden Crowdsourcing-Strategien, bei denen eine »Wolke« von prekarisierten Tagelöhnern nur noch über entsprechende Internetportale mit der stark reduzierten Kernbelegschaft auf Projektbasis in Arbeitsaustausch tritt, birgt neben den ungeheuren Einspar- und Rationalisierungseffekten auch enorme Herausforderungen für das Kapital. Die Bindungslosigkeit des neuen Internetproletariats ist für das Kapital Segen und Fluch zugleich.
Der Verzicht auf einen Arbeitsplatz mitsamt fester Anstellung, Büroflächen, Sozialabgaben und Arbeitsausrüstung läßt auch keinerlei Verbindlichkeit, Loyalitäten oder sonstige Bindungsgefühle seitens des neuen digitalen Prekariats aufkommen. Eine Identifizierung des Tagelöhners mit dem Konzern – der für gewöhnlich eine spezifische Corporate Identity kreiert – ist somit nicht mehr möglich. Hierdurch fällt der Kernbelegschaft auch die Sicherung einer zuverlässigen Mitarbeit der Tagelöhner, mitunter die Qualitätskontrolle der abgelieferten Arbeit, sehr schwer. Nach dem Ende des jeweiligen »Projekts« findet sich ein »Cloud Worker« arbeitslos in der Wolke wieder, so daß die üblichen Anreize der kontinuierlichen Karrierelaufbahn, wie sie bei Angestellten noch zum Tragen kommen, nicht mehr greifen. Die umfassende gruppenbedingte Kontrolle des Angestellten am Arbeitsplatz, die sich ja bereits in der gläsernen Transparenzarchitektur vieler postmoderner Bürohochhäuser widerspiegelt, kann bei den vereinzelten Monaden in dem webbasierenden Schwarm des Kapitals naturgemäß nicht mehr aufrechterhalten werden und muß durch andere webgestützte Formen der Disziplinierung und Leistungsbewertung ersetzt werden.
Kostengünstige Überwachung
Genau daran wird in der Branche mit Hochdruck gearbeitet, während erste Ansätze webgestützter Leistungskontrolle bereits umgesetzt wurden. Die von dem deutschen IT-Riesen SAP aufgekaufte Firma Success Factor gilt beispielsweise als Pionier eines auf Cloud-Basis durchgeführten »Human Capital Management«. Sobald Unternehmen einen Großteil ihrer IT-Infrastruktur auflösen und statt dessen die Datenverarbeitung an externe Anbieter von Cloud-Computing auslagern, sinken die Kosten extremer Kontrolle dramatisch.
Die Anbieter solcher Datenwolken erledigten nicht nur die klassischen betriebswirtschaftlichen IT-Aufgaben. Firmen wie Success Factor bieten zudem Software an, die in der Datenwolke »Fehlzeiten, Arbeitszeiten, Vertragsabschlüsse oder sonstige Formen der Leistungsnachweise« der Lohnabhängigen analysiert, berichtete unlängst die Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.5.2012). Die Leistungen der Angestellten könnten somit quasi in Echtzeit im Rahmen einer Dienstleistung eines externen Cloud-Anbieters »gemessen, bewertet und verglichen« werden, ohne daß das betreffende Unternehmen größere Investitionen tätigen müßte. Der Preis für »professionelle« Leistungsüberwachung und Kontrolle würde deswegen dramatisch sinken, so die FAZ: »Denn mit den neuen Cloud-Angeboten können die Kunden (die Cloud-Anbieter, T.K.) die Programme für ihre Computer quasi aus der Steckdose ziehen.« Im Klartext: Bald kann sich jeder Kleinbetrieb das »Human Ressource Management« eines Großkonzerns leisten – inklusive der entsprechenden Ausbeutungsraten und des entsprechenden Rationalisierungspotentials.
Was Success Factor an der Datenwolke einzelner Unternehmen vollführt, wird künftig auch an der »menschlichen Wolke« der prekarisierten Internettagelöhner durchexerziert werden. Die Leistungen der Cloud-Worker würden dann durch webgestützte Programme und Portale ebenfalls bis ins Kleinste »gemessen, bewertet und verglichen«, ohne daß die Beteiligten dieses Orwellschen Überwachungsprozesses in der »Human Cloud« auch nur ein einziges Mal einander sehen müßten.
Das Karlsruhe Service Research Institute (KSRI) beschäftigte sich zwischen Juni 2010 und Mai 2012 in einem Forschungsprojekt mit den »People Clouds«, die laut Projektbeschreibung »das Cloud-Computing-Paradigma auf menschliche Arbeitsleistung« übertragen sollen. Eine »besondere Herausforderung« dieses neuen Arbeitskonzepts stelle aber »das Qualitätsmanagement dar, da man sich wegen der eingeschränkten Kontrolle über die beteiligten Crowd-Worker nur bedingt auf einzelne Arbeitsergebnisse verlassen kann.« Um diesen Mangel zu beheben, wolle das KSRI in dem Projekt »skalierbare Qualitätsmanagementmechanismen entwickeln, welche die Arbeitsergebnisse mehrerer Crowd-Worker in einer effizienten Art und Weise kombinieren, um verläßliche Resultate zu garantieren.« Hierdurch solle ein »integriertes Qualitätsmanagementkonzept« entstehen, so das KRSI, dessen Ausbeutungsforschung unter anderem von IBM gefördert wird. Andere Anbieter, wie die US-Unternehmen Salesforce oder Saba, drängen mit ihren Lösungen für das »Human-Cloud-Management« bereits auf den Markt. Saba etwa will eine »revolutionäre« Software für die People-Cloud entwickelt haben, die einen »People-Quotient« ermittelt, der »den Einfluß, die Reputation und die Wirkung« der jeweiligen Cloud-Worker mißt. (Siehe »Der Schwarm des Kapitals«, Jungle World, Nr.15, 2012)
Grundlage der webbasierenden Arbeitskontrolle ist der eingangs erwähnte Zwang zur Transparenz. Die prekären Internetproletarier werden ihre Fähigkeiten und Zertifizierungen auf Jobportalen wie Top-Coder der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Doch zugleich werden sich dort die Bewertungen aller ehemaligen Unternehmer finden, die künftig auf Grundlage der derzeit entwickelten Verfahren des »Human-Cloud-Management« ermittelt werden. Jeder ehemalige »Arbeitgeber« wird so die Leistungen der Cloud-Worker nach Abschluß des jeweiligen Projekts bewerten können, was den Erfolgsdruck dieser Tagelöhner trotz prekärer Stellung ungemein steigern dürfte. Absolut transparente Bewertungen auf offenen Internetplattform werden das grausamste und auch zuverlässigste Kontroll- und Disziplinierungsmittel in der »People Cloud« darstellen. Hier können durchaus Parallelen zu den Bewertungen von Onlineversandhändlern gezogen werden, wie sie bei Ebay oder in Preisvergleichportalen bereits heutzutage üblich sind. Dies ist im Rahmen des spätkapitalistischen Ökonomismus nur konsequent: Die allgegenwärtige Forderung nach Transparenz gilt dann auch für die prekarisierten »Unternehmer ihrer selbst«, die nichts anderes immer billiger losschlagen können als ihre Arbeitskraft. Der derzeitige »Arbeitgeber« wird somit zum »Kunden« des Selbstunternehmers, womit die neoliberale Umwertung aller Werte in der Arbeitswelt abgeschlossen wäre.
»Steigern Sie Ihren Marktwert«
Ein weiteres Mittel der Kontrolle in der schönen neuen Arbeitswelt des Web 2.0 bildet der Prozeß der Fortbildung und der Erlangung neuer Fähigkeiten, der den Preis der Ware Arbeitskraft der Cloud-Worker steigen ließe. Die auf den Web-Portalen ihre Fähigkeiten feilbietenden Internetproleten müssen einen Nachweis erbringen, diese Fertigkeiten tatsächlich auch anwenden zu können. Dies geschieht über den Prozeß der Zertifizierung, bei dem Arbeitskräfte spezielle Kurse oder Prüfungen absolvieren, in denen das entsprechende Fachwissen abverlangt oder vermittelt wird. Diese kostenpflichtigen Kurse bieten den IT-Konzernen die Möglichkeit der Ausformung und Kontrolle des entsprechenden Fachwissens. Darüber hinaus stellen sie eine zusätzliche und zuverlässige Einnahmequelle dar, wenn beispielsweise Cloud-Worker nur dann bestimmte Aufträge ergattern können, wenn sie die entsprechenden Kurse absolviert haben. Auch im Zertifizierungsgeschäft ist IBM führend, dessen Professional Certification Program laut Eigenaussage »international anerkannte Qualifizierungsstandards« setzt. Der Konzern wirbt bereits mit der entsprechenden Logik für diese Dienstleistung: »Weisen Sie über eine Zertifizierung Ihre Qualifikation im IBM Produktumfeld nach, und steigern Sie so Ihren Marktwert. Das lohnt sich für Ihre Karriere.«
Einen weiteren zentralen Kampfplatz der neuen Kontrolltechniken bildet das Individuum selbst. Wurde im Laufe der ersten Phase des neoliberalen Rollbacks die gesamte Gesellschaft dem Ökonomismus untergeordnet, so sollen nun die Imperative der Kapitalverwertung möglichst tief im Bewußtsein der einzelnen Menschen verankert, die letzten Leistungs- und Kreativitätsreserven mobilisiert werden. Die totalitäre Verinnerlichung der Kapitalimperative soll so die webgestützte Überwachung und Qualitätskontrolle ergänzen und dem kriselnden Kapitalismus neue Verwertungsfelder eröffnen. Bei Henrik Müller, dem stellvertretenden Chefredakteur des Manager Magazins, liest sich das in einem Gastbeitrag für Spiegel online folgendermaßen: »Der wirklich knappe Faktor ist nicht mehr Kapital, sondern Kreativität – Humankapital in seiner schönsten Form. Die derzeitige Krise wird der Westen nur überwinden können, wenn die freien Gesellschaften diese Knappheit überwinden lernen.« Müller forderte dabei einen »Humankapitalimus«, der den Menschen in den Mittelpunkt stelle.
Wie inhuman der neue Humankapitalismus die Menschen in den oberen Etagen der Verwertungspyramide bereits heutzutage dressiert, schilderte die Regisseurin Carmen Losmann in einem Gespräch mit der Deutschen Welle. In dem Milieu des Human-Ressource-Management herrsche ein Menschenbild vor, das den Menschen als »sich selbst optimierende Ressource« imaginiert. Losmann stellte eindrucksvoll in ihrem Dokumentarfilm »Work Hard – Play Hard«, der ganz in die Welt transnationaler Konzerne und Beratungsfirmen eintaucht, die an Gehirnwäsche erinnernden Verfahren dar, in denen das gesamte Streben des Lohnabhängigen auf die optimale Verwertung seiner Leistungsressourcen geeicht wird. Dabei treibt diese Managementdressur die den kapitalistischen Arbeitsprozeß charakterisierende Entfremdung auf die Spitze, gerade indem sie scheinbar aufgehoben wird. Letztendlich sollen die Imperative des heteronomen, den Menschen in seine Tretmühle zwingenden Verwertungsprozesses als die Maxime des eigenen, autonomen Strebens wahrgenommen werden. Es gehe um eine »sehr subtile Uminterpretation von Selbstentfaltung«. Dieses Vorgehen weise »schon teilweise faschistoide Tendenzen« auf, betonte Losmann im Gespräch mit dem Internetportal Telepolis.
Der Lohnabhängige soll vermittels eines pseudoprivaten Arbeitsumfeldes und der entsprechenden Techniken des Human-Ressource-Managemen ganz im Streben nach dem Erreichen der Unternehmensziele aufgehen und diese eigenverantwortlich, in Selbstkontrolle verwirklichen. »Wir sind Kapital« – diese Parole sollen künftige Generationen von Lohnabhängigen verinnerlichen. Einer der mit der Schaffung dieses kapitalistischen »Neuen Menschen« betrauten Kapitalroboter beschreibt im Film diesen intendierten Mentalitätswandel als einen Langzeitprozeß: »Wir wollen den richtigen Menschen. Wenn wir das jetzt nicht richtig betreiben, dann gibt’s uns in zehn Jahren nicht mehr. Prozesse und Strukturen lassen sich schnell ändern. Aber Einstellungen und Verhalten – das dauert.« Das Ergebnis dieser Gehirnwäsche schilderte etwa der Filmkritiker Jürgen Kiontke in einer Besprechung des Losmann-Films auf dem Gewerkschaftsportal Gegenblende: »Die Menschen in diesem Film sind tot, sie wissen es bloß noch nicht. Fremdbestimmung ist jedenfalls nicht mehr nötig. Denn die Leute hier arbeiten ›task-orientiert‹, die kontrollieren sich ganz von allein.«
Das letzte Expansionsfeld
Selbstverständlich werden hier bereits in Ansätzen gegebene Konzepte der »Selbstoptimierung« – wie sie bereits BWL-Studenten eingebläut werden – ins Extreme gesteigert. Die in den Labors des »Human-Management« ausgebrüteten Techniken der Selbstverleugnung, -kontrolle und -optimierung sollen in abgewandelter Form in alle Sphären der Arbeitsgesellschaft diffundieren und sukzessive zur Voraussetzung der Lohnarbeit werden. Es zeichnet sich dabei ab, daß die Heerscharen des Prekariats und der »Cloud-Worker« auf Formen der Selbstoptimierung ausgerichtet werden, während die kleinen Kernbelegschaften einer leistungsoptimierenden Gehirnwäsche unterzogen werden, wie sie in Ansätzen in »Work Hard – Play Hard« dargestellt wurde. Das Kapital nimmt mit diesem Drang nach Verinnerlichung seiner Imperative in den Individuen auch eine fundamentale Umdeutung bestehender Begriffe in Angriff, die Orwellsche Ausmaße erreicht: Selbstausbeutung wird so zu Selbstverwirklichung, Selbstkontrolle zur Freiheit umgelogen.
Wieso aber rückt nun der Mensch – inklusive seiner Privatsphäre – ins Zentrum der Konzepte und Strategien der Akkumulationsoptimierer in den Beratungsfirmen? Einen ersten Hinweis darauf gab Henrik Müller in seinem Gastbeitrag für Spiegel online, als er »Humankapital in seiner schönsten Form« als den wichtigsten Faktor bezeichnete, der zur Überwindung der gegenwärtigen Krise beitragen könne. Der kommende Kapitalzugriff auf das Innerste des Menschen bildet genauso einen Krisenreflex, wie die Ausrichtung der Gesamtgesellschaft anhand der Imperative der zusendest stockenden Kapitalverwertung in den vergangenen Jahren. Das Kapital reagiert auf seine Krise buchstäblich extremistisch, indem es sich selbst ins Extrem treibt. Die Degradierung der gesamten Gesellschaft zu einem »Wirtschaftsstandort« im Rahmen des grassierenden Ökonomismus verschaffte Konzernen und Staaten ja tatsächliche Vorteile in der Verdrängungskonkurrenz der vergangenen Dekaden, wie etwa die dominante Stellung der BRD in Europa illustriert. Nach der totalitären Unterjochung aller Gesellschaftsbereiche bleibt nur noch das innerste des Menschen als ein letztes Expansionsfeld übrig, um weiter vor der Krisendynamik zu flüchten. Es handelt sich um eine extremistische Flucht des Kapitalverhältnisses vor den Folgen seiner Verwertungsbewegung.
Der Mensch befindet sich innerhalb des Kapitalverhältnisses in einem ständigen »Wettlauf mit den Maschinen«, deren permanente Evolution immer größere Rationalisierungspotentiale eröffnet. Je weiter der technologische Fortschritt die menschliche Arbeit im Produktionsprozeß überflüssig macht, desto stärker geraten reguläre Arbeitsbedingungen und Löhne unter Druck. Die Prekarisierung und die Abrufung der letzten Leistungsreserven vermittels der Selbstoptimierung bilden die Mechanismen, mit denen eine zunehmend schrumpfende Anzahl von Lohnabhängigen noch »in Arbeit« gehalten wird. Arbeit muß billiger und produktiver werden, um im »Wettlauf mit den Maschinen« zumindest vorläufig bestehen zu können. Andrerseits sind vom Rationalisierungsdrang diejenigen Tätigkeiten ausgenommen, bei denen genuin menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten unabdingbar sind. Deswegen steigt insbesondere bei den Kernbelegschaften das Interesse des Personalabteilungen an der Privatsphäre oder dem Charakter der Lohnabhängigen.
Der »neue Mensch«
Das Kapital will bei der Kernbelegschaft tatsächlich auf den ganzen Menschen zugreifen, weil die »Menschlichkeit« die wichtigste, technologisch nicht reproduzierbare Eigenschaft bildet, die verwertet werden soll. Aus der Umprogrammierung des menschlichen Strebens nach Selbstentfaltung im Sinne der Kapitalverwertung sollen dann auch die Kreativitätsschübe resultieren, die dem krisengeplagten Spätkapitalismus neue Verwertungsfelder eröffnen. Dieser totalitäre »Neue Mensch«, der in seiner Funktion als variables Kapital im Verwertungsprozeß ganz aufgeht, soll unter totaler Mobilisierung seiner innersten Reserven dem an seiner eigenen Produktivität erstickenden Kapital noch einmal den Weg aus der Krise weisen.
Diese durch immer weiter voranschreitende Produktivitätsfortschritte ausgelöste Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft wird ursächlich zu dem Auseinderbrechen des Arbeitsmarktes in eine prekäre Masse von Selbstoptimierern und eine kleine Elite von gehirngewaschenen Kernbelegschaften führen. Der Kapitalismus könnte nur noch in dieser barbarischen Form, die an Dystopien eines George Orwell oder Aldous Huxley erinnert, seinen Zusammenbruch hinauszögern. Letztendlich erinnert die Heimarbeit des Spätkapitalismus in einer dialektischen Negation der Negation an die Heimarbeit des Frühkapitalismus, wie sie etwa in der englischen Textilindustrie im Rahmen des Verlagssystem praktiziert wurde, bei dem Heimhandwerker für sogenannte Verleger Textilien herstellten, die diese dann aufkauften und vermarkteten. Der frühe Kapitalismus drang vermittels der Lohnarbeit in die Häuser der Menschen ein, bevor er sie in die Fabriken trieb. Der Spätkapitalismus wird den künftigen Internettagelöhner erneut in den eigenen vier Wänden abliefern, bevor das kapitalistische Arbeitssystem an seinen eigenen Widersprüchen zerbricht.