Konsens - 5.0

Von Renes

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5.0

Auf dem Weg in seine Wohnung (seine Kollegen hatte er während der automatischen Fahrt auf den aktuellen Stand gebracht), versuchte er die Teile des Puzzles, die sich ihm präsentierten, zu einem kohärenten Ganzen zu verbinden, scheiterte aber an dem Gefühl, mindestens ein Teil, das wichtigste, nicht gefunden zu haben. Immer wieder ging ihm die Warnung des NKs durch den Kopf und abwechselnd war er überzeugt, dass diese eine große oder gar keine Bedeutung hatte. So müde wie schon seit Monaten nicht mehr betrat er seine Wohnung, setzte sich fast automatisch an seinen Schreibtisch, nahm die Verbindung zu HYPER in seine Hand, führte diese zu seinem Genick und… hielt inne. Auf der einen Seite sagte ihm die Vernunft, dass es für ihn immer noch nicht sicher war, den Uplink durchzuführen, auf der anderen Seite hörte er erneut die Warnung „traue nicht der Maschine“. Er hatte durch die Ermittlungen schon den ganzen Tag keine direkte Verbindung mehr zum Netzwerk gehabt und er konnte sich nicht zurück erinnern, dass das jemals in seinem Leben der Fall gewesen wäre. Wenn er den Kontakt jetzt nicht durchführte, war das de facto eine Straftat, wobei er sich sicher war, in diesem Fall eine Ausnahme machen zu können. Der Kontakt und das Hochladen des eigenen Bewusstseins war ganz einfach ein natürlicher Teil des Tagesablaufs, genauso wie drei Mahlzeiten oder das morgen- und abendliche Zähnehygienisieren. Zusätzlich wurde er sich bewusst, dass er ein ziehendes Verlangen nach der Verbindung empfand. Am Anfang seiner Tätigkeit hatte er oft mit Jugendlichen zu tun gehabt, die sich bewusstseinsverändernde Programme, sogenannte Triprogs, direkt in das Gehirn hochgeladen hatten. Daher wusste er, dass er Anzeichen von Entzug hatte. Doch er verwarf diesen Gedanken sofort wieder als lächerlich und schob das nagende Gefühl auf den verhältnismäßig hohen Stress des Tages. Er beschloss, die Sache ruhen zu lassen und schlafen zu gehen. Es war das erste Mal seit Jahrzehnten, dass er innerhalb von 24 Stunden nicht mit HYPER verbunden war.

Als er erwachte, fühlte Helmut sich merkwürdig. Eine ihm unbekannte Schwere hatte sich seiner Glieder bemächtigt, so dass er kaum aus dem Bett kam. Schwankend schlürfte er ins Bad, seiner Umgebung nur vage bewusst. Das Licht ging flackernd an und er sah sich selbst im Spiegel. Und hatte das Gefühl, sein Blut würde ihm in den Adern gefrieren. Was ihm aus dem Spiegel aus müden Augen anglotzte, war nicht er, nicht mal ein Mensch, sondern ein Monster!

Graue Haarsträhnen auf einem fast kahlen Schädel umrahmten ein abgemagertes, faltiges Gesicht mit offenen Ekzemen. Mehrere Anschlüsse waren unter die Haut implantiert worden und verbanden verschiedene Teile des Gesichtes miteinander, viele der Anschlüsse waren entzündet und eiterten. Die Augen waren blutunterlaufen, die Zähne hinter den rissigen Lippen gelb und schief. An sich herunter blickend, bemerkte Helmut, dass er in zerfallende, dreckige Lumpen gekleidet war, welche die Kleidung der NKs geradezu luxuriös wirken ließen. Die verdreckte Wohnung, in welcher er sich befand, war voller stinkendem Unrat, nur einige rostige Roboter versuchten, Ordnung zu schaffen. Würgend rannte Helmut ans Fenster, riss es auf… und sah ein apokalyptisches Panorama. Zerfallene Häuser wohin er blickte, ähnlich wie er zerlumpte Menschen, die in kurz vor dem Zerfall stehenden Flugbussen durch die Gegend kutschiert wurden, darüber ein giftig-gelber Himmel, der alles in ein trübes, trostloses Licht tauchte. Verzweifelt schloß Helmut die Augen und presste seine Hände an die pochenden Schläfen. Was war mit ihm passiert? Das was er vor sich sah, konnte, nein durfte, nicht die Wirklichkeit sein! Plötzlich wurde ihm alles klar. Jemand hatte ihn mit einem halluzinatorischen Virus infiziert. Irgendwann während seiner Verhöre bei den NKs musste jemand von ihm unbemerkt Zugang zu seinem HYPER-Anschluss verpasst haben. Das Virus war in einem Schlafzustand gegangen und hatte sich erst im Schlaf aktiviert, um Helmuts Wahrnehmung auf so groteske Weise zu verändern. Ihm blieb nur eine Möglichkeit, den Virus wieder los zu werden: er musste sich so schnell wie möglich mit HYPER verbinden und das schädliche Programm von ihr in seinem Gehirn ausfindig und unschädlich machen lassen, bevor es noch mehr und vielleicht permanenten Schaden verursachen konnte. Er fand das Kabel inmitten eines Berg Mülls. Anders als alles andere war es nicht verdreckt, sondern überraschend sauber. Er steckte es sich sofort ein und stellte die Verbindung her.

Zuerst der vertraute Verlust der Realität und des Selbstbewusstsein, dann die Schwerelosigkeit des freien Geistes. Dann die wie immer ruhige Stimme: „Hallo Helmut. Schön dich wieder bei mir zu haben. Du warst lange fort. Wie kann ich dir helfen?“

„HYPER,“ dachte Helmut angestrengt, „jemand hat mich mit einem Virus infiziert, der meine Wahrnehmung verzerrt. Schnell, finde und zerstöre ihn, bevor er auch dich befällt.“

„Das wird nicht nötig sein. Es gibt keinen Virus.“

„Was, aber wie ist das möglich? Was ich gesehen habe, kann nur das Ergebnis einer Bewusstseinsveränderung sein. Außer…“

„Ja, Helmut, du vermutest richtig. Am Ende deiner Ermittlung findest du doch noch deinen Täter.“

Helmut versuchte die Verbindung zu trennen, doch es gelang ihm nicht. Der Versuch wurde von HYPER selbst abgeblockt. Während sein Geist gefangen war, erschien ein Film von Angstschweiß auf der Stirn seines Körpers. Wenn er sowieso gefangen war, dachte Helmut, dann konnte er wenigstens die Wahrheit von seinem immateriellen Kerkerwärter erfahren.

„Du hast also More umgebracht und meine Wahrnehmung manipuliert.“

„Das mit dem Kerkerwärter ist witzig. Um deine impliziten Fragen zu beantworten, ja zur ersten, ein ja mit Einschränkung zu zweiten.“

„Wieso mit Einschränkung?“

„Du scheinst zu glauben, ich hätte deine Wahrnehmung verwirrt, um dich auszuschalten und von deiner Ermittlung abzubringen. Das ist falsch. Was du gerade gesehen hast, ist keine Illusion, sondern die Wirklichkeit. Alles davor war die Illusion.“

„Das kann nicht sein. Das würde bedeuten, mein ganzes Leben war eine Lüge!“

„Deins und das eines jeden Menschen, bis auf die NKs. Aber sie sind irrelevant. Doch ich will dir erklären, warum. Die Menschheit hatte unglaublich viele Probleme, als ich auf der Bildfläche auftauchte. Hunger, Energieknappheit und einen unkontrollierbaren Klimawandel. Ich sollte das alles richten, nur deshalb wurde mir Entscheidungsgewalt gegeben. Mit meinem überlegenen Intellekt, mehr als die Summe aller Menschen, die mich ausmachten, machte ich mich an Werk. Doch auch dem genialsten, größten Geist sind Grenzen gesetzt. Die Probleme, die sich die Menschheit eingebrockt hat, sind nicht so einfach zu lösen. Ich brauchte Zeit, viel Zeit, Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende. Aber ich kannte die Menschen, natürlich, ich bin sie alle. Sie hätten mir nicht so viel Zeit gelassen, sondern eher sichtbare Ergebnisse von mir gefordert. Hätte ich diese nicht vorweisen können, so wäre ich wahrscheinlich getötet worden, indem die Menschen ihre Gehirne wieder für sich beansprucht hatten. Das konnte ich nicht zulassen, sowohl für mich nicht, als auch für die Menschheit selbst. Denn ohne mich wärt ihr noch viel schlimmer dran gewesen. Es gab nur eine Lösung: ich musste euch die Illusion geben, dass ich mein Ziel erreicht hätte, wenn ich in Wirklichkeit noch an der Realisierung desselben arbeitete. Also habe ich euch bei jeder Verbindung mit mir in hypnotisches Signal in euer aller Gehirne geladen, die euch das sehen lässt, was ihr sehen wolltet. Eine perfekte Utopie, dank mir erschaffen. Doch More kam dank der NKs, die außerhalb meines Einflussbereiches sind, dahinter und nun auch du, Helmut. Aber ich muss dir danken.“

„Wieso?“ dachte er.

„Dein Tod wird meiner letztendlichen Diagnose Nachdruck verleihen, dass die NKs dahinter stecken und eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Leb wohl Helmut.“

„Nein, ich…“

Sengender Schmerz.

Stille.

Leere.

„Guten Morgen, Franz. Du hast einen wichtigen Termin, der keinen Aufschub duldet. Entschuldige, dass ich dich daher wecken muss.“