Aus Anlass des Kongresses zur Zukunft der Arbeit in Bochum hat Hartwig Schiller, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, ein treffendes Interview gegeben, das ich hier allerdings natürlich nur teilweise wiedergegeben kann - unten findet sich der Link zum Original.
"Der Mensch muss zu seiner eigenen Wirklichkeit erwachen"
Hartwig Schiller, Generalsekretär der
Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, im Gespräch zu
inhaltlichen Aspekten der Tagung "Zukunft der Arbeit - Karma des Berufs"
(Bochum, 24.-27. Juni 2010):
Herr Schiller, wie könnte
sie aussehen, die "Zukunft der Arbeit"? Sind in Wandlungen und Krisen,
denen die Arbeitswelt unterworfen ist, auch Chancen verborgen?
Schiller: Das Problem von Zukunft betreffenden
Aussagen ist, dass sie meistens nichts als hochgerechnete Vergangenheit
sind. Zukunft kann ihrem Wesen nach nur durch inspirierte Schau erfasst
werden. Da ist bereits das Finden der "Fakten" an Innenerlebnisse
gebunden, die durch eine weitere, im Individuum sich vollziehende
Erkenntnisleistung geistig interpretiert werden müssen. Wahrheitsfindung
ist dabei nur durch eine erarbeitete Form selbsthafter Selbstlosigkeit
möglich.
Aus der Antike wissen wir, dass Arbeit eine
kultische Dimension besaß. ..... Arbeit vermittelte
Sinn, Gewissheit, Zufriedenheit und Geborgenheit. Zugleich stiftete sie
Identität.
Qualitäten dieser Art erwarte ich unter veränderten
Voraussetzungen für die Zukunft der Arbeit. Nachdem moderne Technologien
die Produktivität derart steigerten, dass zum Lebenserhalt der
Menschheit ein Arbeitseinsatz vielfach nicht mehr erforderlich ist,
treten die alten Aspekte der Arbeit wieder stärker in den Blickpunkt.
Erwerbstätigkeit ist ein unzureichender Aspekt von
Arbeit, weil es dafür nicht genügend Angebote gibt. Die Menschheit kann
durch die Arbeit einiger Weniger ernährt werden. Überproduktionen werden
vernichtet, statt sie den Bedürftigen zu geben. So tritt der moralische
und soziale Faktor als neue Dimension auf: Sind wir bereit, andere an
den Früchten unserer Arbeit teilhaben zu lassen oder soll unsere Arbeit
ausschließlich uns selbst dienen?
Kann die Forderung nach
größerer Selbstverantwortung und Eigeninitiative einer Gesellschaft
helfen, deren Balance zwischen sozialer Gerechtigkeit und den
Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes immer mehr zu kippen droht?
Schiller: Selbstverantwortung und
Eigeninitiative sind zwei von drei Grundqualitäten des freien Menschen.
Gesellt sich die Liebe hinzu, sind die Voraussetzungen vollkommen, um
die notwendige Balance zu schaffen. Das Wahre Ich als Kraftmittelpunkt
der Individualität darf nicht verwechselt werden mit dem selbstbezogenen
Ich eines kümmerlichen Egoismus.
Das wahre Ich wird aus dem, im und in den sozialen
Kontext hineingeboren. Das Du ist dem wahren Ich so immanent wie die
übrige Welt. Der Mensch lernt am anderen zu sprechen, wie zu antworten.
Würde die Summe seiner Lebenserfahrungen sich nur unbehindert in der
Kraft seine Individualität wirksam bündeln, so würde der Mensch gewiss
ein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit verwirklichen, als sie heute
gegeben ist.
Wie kann ein menschengemäßes,
zukunftsfähiges Verhältnis zur Arbeit entstehen?
Schiller: Im Morgenspruch für die unteren
Klassen der Waldorfschulen heißt es: "Der Sonne liebes Licht,/Es hellet
mir den Tag;/Der Seele Geistesmacht,/Sie gibt den Gliedern Kraft;/Im
Sonnen-Lichtes-Glanz/Verehre ich, o Gott,/Die Menschenkraft, die Du/In
meine Seele mir/So gütig hast gepflanzt,/Dass ich kann arbeitsam/Und
lernbegierig sein./Von Dir stammt Licht und Kraft,/Zu Dir ström´ Lieb´
und Dank".
Der Begriff der Arbeit wird da in verhüllter Form
viel weiter gefasst, als die entwürdigende Beschränkung der
Erwerbsperspektive. Arbeit ist ein konstitutiver Ausdruck der
Menschenwürde. Ihre Entwicklung geht vom religiös-kultisch empfundenen
Verbundensein mit dem Schöpfer-Gott zum Schöpferisch-Werden des freien
Menschen, der ein am Gesamtwohl und Erdganzen dienend arbeitender Mensch
ist. Das begründet ein neues ganzheitliches Verhältnis zur Arbeit.
Soweit kann ich in die Zukunft ahnen, dass ich den Ausgangspunkt in
verwandelter Form in ihr wieder finde.
Hinsichtlich der Zukunft der Arbeit suche ich
deshalb nach bestimmten verwandelten Impulsen ihres Ursprungs. "Die
Menschen gehen deshalb zugrunde, weil sie den Anfang nicht an das Ende
anknüpfen können", sagt Alkmaion von Kroton um 500 v. Chr. Und gerade da
liegt der Schlüssel des Rätsels. Der Mensch muss in einer
Zusammenfassung von Vergangenheitsbildern und Zukunftskeimen zu seiner
eigenen Wirklichkeit erwachen. Die liegt in einer vom Zwang des
Notwendigen befreiten, von Initiative, Liebe und Verantwortung
bestimmten Hinwendung an die Welt als Ganzes: in unermesslicher Arbeit,
an der Welt, an sich selbst.
© Zitate aus den Interviews, die auf der Netzseite der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland im Pressebereich zur Verfügung gestellt werden (s. das dritte Interview) (Hervorhebungen von mir - Helge Mücke, Hannover)