Kondratieff'sche Konjunkturwellen

Bis gestern war ich mir nicht bewusst, dass ich mit Elektrotechnik sozusagen das Gründungsfach der deutschen technischen Universitäten studiert habe. Ich war mir auch noch nicht bewusst, dass damit in Zukunft wohl nicht mehr viel zu reißen sein wird.
Denn gestern habe ich Erik Händeles Buch "Kondratieffs Welt" (Leseprobe) zu Ende gelesen. Und wie immer nach dem Gewinn neuer Erkenntnisse und Einsichten frage ich mich, warum erst jetzt und warum erst durch andere? Ich konnte meine Kritik an den uns beherrschenden "Eliten" in Wirtschaft und Politik bisher auch deshalb nicht griffig formulieren, weil ich den Gesamtzusammenhang auf keinen gemeinsamen Nenner bringen konnte - und wich deshalb oft auf Polemik aus. Es war auch schon lange her, dass ich mich für eine neue Idee oder Erkenntnis begeistern konnte. Ich hatte mich mittlerweile so eingerichtet, dass ich schon zufrieden war, wenn ich schmerzfrei war. Trotzdem war die Erkenntnis, solange nichts ändern zu können, solange mir die neue Stoßrichtung nicht klar sein würde, unbefriedigend. Solange würde ich hinnehmen müssen, dass diejenigen, die uns in eine Misere geritten hatten, mir die Rechnung dafür hinlegen würden. Und danach weitermachen wie bisher, inkl. ihres nicht mehr zu legitimierenden Wohlstands- und Einflussniveau.
"Wirtschaft ist eine Kulturleistung" halte ich für den Kernsatz in Händeles Werk. Kulturleistung heißt: Es ist das Ergebnis all der Motive, Entscheidungen und Handlungen, die unsere gesamte Grundlage unserer menschlichen Existenz und Gesellschaft ausmachen. Auf dem Markt sind wir keine rein rational handelnden Akteure. Schon überhaupt nicht, treffen wir unsere Kauf- und Angebotsentscheidungen in Abhängigkeit von Zinssätzen und Steuertarifen und sonstigen geldpolitischen Randbedingungen. Das tun allenfalls Steuerquittungssammler und Fondsgebührenoptimierer. Nein, wir sind letztenendes von nicht rationalen Impulsen getrieben und kaufen heute diese Ware und morgen jene Marke. Unsere Politik beeinflussen tun aber die quittungssammelnden Volkswirte (auch "Weise" oder "führenden Konjunkturforschungsinstitute) genannt, die inzwischen so schlecht geworden sind, dass sie ihre "Prognosen" laufend anpassen und allen Ernstes dafür immer noch große Aufmerksamkeit und Respekt erwarten. Nach dem Motto: "Hm, bisjetzt war es nur mein Eindruck, aber wenn es jetzt auch die großen Weisen aus dem Abendland verkünden." Nein, das sind allesamt nacheilende Propheten.
Anderes Beispiel: Kannten Sie 1996 auch Kollegen, die Ihnen zum Kauf einer Immobilie in Ostdeutschland rieten? Und zwar ausschließlich mit dem Argument, das sei doch "steuerlich gefördert"? Und dann selbst blind zugriffen, meistens ohne ihr Objekt vorher auch nur einmal selbst besucht zu haben. Oder kennen Sie auch Leute, die ihre Investmentfonds, in die sie für ihre "Altersvorsorge" sparen, in erster Linie nach den Fondsgebühren und steuerlichen Absetzbarkeiten auswählen? Sehen Sie, solche glauben auch, dass der beste Moment für die Schaltung eines Werbespots dann ist, wenn Sie gerade in erregter Hochspannung mit ihren Gedanken ganz woanders waren..
Diese Leute dominieren unser Wirtschaftsgeschehen mit einer mechanischen Denke, die inzwischen überholt ist. In der Physik wäre das so, als wisse man bis heute nichts von Einsteins Relativitätstheorien und beschränke sich immer noch einzig auf die lineare Himmelskörpermechanik von Kopernikus. Wenn ich "Controller" kritisieren, dann meine ich diese Erbsenzähler, die nichts unternehmerisches im Unternehmen zulassen wollen.
Diese Leute erklären uns übrigens auch, dass die tiefere Ursache für die Finanzkrise falsche Zinssätze und Geldmengen der amerikanischen Notenbank gewesen seien.. Ich glaube denen kein Wort mehr.
So, jetzt noch eine eigene Kritik, die ich seit fünfzehn Jahren mit mir herumschleppe: Ich habe damals immer die Amerikaner für ihren Enthusiasmus für das Internet bewundert. Bill Clinton, Jeff Bezos (Person of the year 1999) usw. verkörperten, nutzten und demonstrierten die neuen Möglichkeiten des Internet. Jeder US-Amerikaner konnte zumindest abends im Fernsehen sehen, dass ein neues Zeitalter anbrach, aber vermutlich erlebte er das sowieso täglich an seinem Arbeitsplatz. Unsere Bundeskanzler Kohl und Schröder habe ich aber nie vor einem Internetrechner sitzen gesehen oder mit einem Handy in der Hand. Beide demonstrierten mir damit, dass sie nichts über das Wesen von Vitalität, wirtschaftlicher Dynamik, Innovation und der inneren Begeisterung für ein neues Zeitalter wissen. Beide waren und sind dafür zu sehr Juristen und Schreibtischhengste. Wir haben seit Schröders Amtsantritt bis heute über zehn Jahre Debatten über die Reform unseres Sozialstaates geführt und alle neuen Möglichkeiten, uns grundlegend aus dem Sumpf zu ziehen, dabei fahren lassen. Ich kann Worte wie "Hartz-Gesetze", "Reform" usw. nicht mehr hören. Ich kann auch die damit zusammenhängenden Politiker nicht mehr sehen. Währenddessen verpassen wir da draußen strategisch wichtige Fragen z.B. über die Versorgung unserer Industrie mit wichtigen Rohstoffen oder der Entwicklung neuer Stoffe.
Ein sibirischer Gulag im Jahr 1938:
Der russische Ökonom Nikolai Kondratieff, ein erklärter Gegner der marxistischen Wirtschaftstheorie, wartet auf seine Hinrichtung. Mit ihm droht auch sein Lebenswerk - die Theorie der langen Konjunkturwellen - unterzugehen. Demnach stecken hinter dem langfristigen Auf und Ab der Wirtschaft grundlegende Erfindungen wie die Eisenbahn oder zuletzt der Computer. Sie breiten sich zu ihrer Zeit aus und bringen die Konjunktur auf Trab, bis sie die gesamte Gesellschaft durchdrungen haben – dann aber tritt die Wirtschaft auf der Stelle und es kommt zu Krisen. Doch die Theorie bietet auch Antworten auf die Frage, wie es dann weitergeht.
E. Händele
Das haben wir alle zumindest schon mal als Stichwort gehört: Kondratieff begründete Konjunkturzyklen -und damit auch die wahren Quellen von Aufschwüngen- mit Basisinnovationen, deren Entwicklung und Anwendung neue Arbeitsplätze, höhere Löhne, neue Gewinne und Steuereinnahmen erzeugen. In der Geschichte haben die heute wichtigsten Industrienationen jeweils mindestens eine Kondratieffwelle angeführt: Die Engländer das Zeitalter der Dampfmaschine und Eisenbahn. Die Deutschen das Zeitalter der Elektrifizierung. Die Japaner haben Computer in Produktionsanlagen und Robotern eingesetzt. Wer war am produkivsten beim Aufbau und der Anwendung des Internet? Beim Aufbau sicherlich die Amerikaner. Ich würde sagen: Auch bei der Anwendung. Ich kenne aus meiner Projektarbeit niemanden, der Email und Web so selbstverständlich und meistens mit Vertrauensvorschuss einsetzt wie sie.
Kondratieff sagt: Der Aufschwung startet mit einer Basisinnovation, die einen vorherigen Produktivitätsengpass beseitigt hat. Dann wird diese Innovation produziert und angewendet. Irgendwann geht die Anwendung in Sättigung über und alle sind damit versorgt und niemand erzielt damit mehr einen Produktivitätsvorteil. Dafür begegnet man bald einem neuen Engpass. Für diesen werden dann die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen erhöht, bis jemand eine neue Basisinnovation schafft.
Dieses Modell erklärt auch, warum wichtige Erfindungen manchmal gleichzeitig an mehreren Orten gemacht werden: Weil alle an die Entwickler den gleichen Auftrag erteilen. Vor allem aber erklärt es unser Wirtschaftsgeschehen mit gesundem Menschenverstand und von der wertschöpfenden Seite her, nicht der Geldpolitik, wie es die Neoliberalen so schick finden.
Was ist derzeit unser Engpass, der uns vom nächsten Produktivitätssprung abhält? Nach Händeles Meinung ist das unser Umgang mit der Informationsvielfalt und besonders die Art und Weise, wie wir in Projektgruppen damit umgehen. Wir deutschen Ingenieure und Informatiker würden besonders damit kämpfen, in Gruppen mehr als die Summe ihrer Teile zu produzieren. Die Tradition des deutschen Ingenieurs sei die Hierarchie (stimmt, erlebe ich bis heute!) und die Rechthaberei (erlebe ich nur bei Leuten ab Mitte dreißig). Wer sich von denen in ein sog. Netzwerk begebe, oder von seinem Chef die Erlaubnis dazu bekomme, dies zu tun, erwarte einen sofortigen Nutzeneffekt. Auch das habe ich erlebt. Meine frühere Agenturchefin hatte mir das auch mal mit auf den Weg gegeben: "OK, geh mal dahin und berichte mir anschließend, welchen Return Du da bekommen hast..." Sie hatte nicht verstanden, wie Arbeitsbeziehungen funktionieren: Man steckt erstmal rein, bevor man etwas rausbekommt. Das ist im übrigen überall so..
Ein weiterer Engpass ist Qualität: Führungsqualität. Beziehungsqualität, Produktqualität, Lebensmittelqualität, Servicequalität. Wir brauchen von allem weniger, aber dann mit hoher Qualität.
Als mich vor zehn Jahren der Hype erfasste, arbeitete ich 12, manchmal 13h am Tag. Und zwar vor allem deshalb, weil ich und meine Projektkollegen, später mein Projektteam, viel improvisieren mussten. Weil wir nicht die Experten waren, als die uns unser Teamleiter an den Kunden verkauft hatte. Der weltweite IT-Marktführer investierte nämlich nichts in die Expertisen seiner Mitarbeiter. Jedenfalls interpretierten die Manager seiner deutschen Dependance das so: Schulung gibts erst, wenn der Auftrag dafür da ist. Doch als der Auftrag da war (was schwierig genug war!), gab es keine Zeit mehr dafür, eine Schulung zu besuchen. Im Privatleben führte ich "To-Do Listen", um den Überblick über mein, später unser Leben zu behalten. Es gab nichts besseres, als hier einen Punkt abhaken zu können. Dafür gingen alle privaten Beziehungen den Bach runter und wurden durch mehr oder weniger oberflächliche, hin und wieder aber auch richtig gute, neue Kollegenbeziehungen ersetzt. Was wir so brauchten, bestellten wir online. Zu Weihnachten 2000 bekamen wir erstmals mehr Weihnachtspost von irgendwelchen Firmen als von Freunden und Verwandten.
Dieser Rausch ist vorbei. Ich arbeite heute für ein gutes Ergebnis viel weniger als früher. Ich muss aber immer wieder neu dafür kämpfen, dort eingesetzt zu sein, wo ich gut bin. Weil meine Hierarchie diesen Zusammenhang zwischen Expertise und Qualität nicht versteht. Deshalb versuche ich dort, wo ich bleiben will, eine Beziehung zwischen dem Kunden und mir und nicht meinem Arbeitgeber zu entwickeln. Ich bemühe mich, zu jedem wichtigen Projektpartner auch eine menschliche Beziehungsebene zu entwickeln. Ich versuche auch, auf eigener Seite weitere passende Leute ins Projekt rein zu bekommen. Wenn ich das Glück habe, dass die anderen auch so denken, dann fluppt es. Dann fließen Informationen und Arbeitspakete. Dann gibt es vor allem auch Vertrauen. Ich schreibe dann keine großartigen Projektpläne und -berichte mehr, außer zu dem Zweck mir selbst über die Projektstruktur klar zu werden. Fehlendes Vertrauen durch Formalismen ersetzen zu müssen, ist mir zu aufwendig. Wenn ein Hierarch von mir nach dem Projekterfolg noch die Erfüllung von tausend Formalien erwartet, dann tue ich so, als würde ich das befolgen. Fehlendes Vertrauen zu der Außenwelt eines Unternehmens haben immer diejenigen, die nur Innendienst machen. Also der Verwaltungsleiter, der IT-Leiter, die Controller und der Vertriebsleiter, der die Vertriebsprozesse macht.. (Zum Ausgleich fangen manchmal manche von ihnen an, von den Projektleuten als ihren "internen Kunden" zu sprechen..)
Wir beseitigen den Engpass des effizienten Informationsaustausches nicht mit Prozessen sondern mit den richtigen Leuten. Mit guten Leuten kann man jeden schlechten Prozess kompensieren. Umgekehrt geht das nicht. Aber gegen diese Windmühle reiten alle Manager mit dem Abschluss eines Meisters der Geschäftsverwaltung (MBA). Richtige Leute sind die, die etwas Vernünftiges gelernt haben, seitdem weiter lernen und im Umgang mit anderen Leuten keine sozialen oder emotionalen Defizite kompensieren müssen. Also die, mit einem natürlichen Selbstbewusstsein.
Händele sieht das Thema Gesundheit als die nächste Kondratieff'sche Welle. Wir pumpen immer mehr Geld ins System, aber irgendwie werden wir dadurch nicht gesünder. Gleichzeitig erleben wir bei den beruflich bedingten Krankheiten eine Verschiebung von mechanischen Verletzungen hin zu psycho-somatischen Krankheiten (ausgelöst -s.o.- durch schlechte Führungsqualität. Oder in der Sprache der Manager, die von Humanressourcen sprechen: Schlechte Qualität des Führungsmaterials). Und zu diesem Thema fallen mir als wichtiger Beitrag die neuesten Erkenntnisse aus der Plazebo- und Noceboforschung ein: Ziel der Gesundheitslehre muss es wieder werden, die Selbstheilungskräfte des Körpers zu mobilisieren. Den Glauben der Patienten, wieder gesund zu werden. Und nicht die stille Hoffnung, sich mit dem Krankenschein noch ein wenig länger dem Horror ihrer Arbeitshierarchie entziehen zu können.

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