Es war ja nun eigentlich schon alles gesagt zu diesem 1953 entstandenen Gedicht von Eugen Gomringer, das nach sieben Jahren von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule entfernt werden sollte, weil sich darin „versteckter Sexismus“ finde.
Und doch wurde am Montagabend noch mehr hierzu gesagt.
Da hatte nämlich das Max-Liebermann-Haus in Berlin zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Teilnehmer der Diskussion waren der 93-jährige Gomringer und zwei Vertreterinnen der Alice-Salomon-Hochschule: Bettina Völter, Prorektorin der Hochschule, und die Vorsitzende der Asta, die unter dem Pseudonym „Frau Roth“ auftrat. Grund für diesen Drang zur Anonymität waren ihrer Aussage nach die vielen Hassmails, die sie in den letzten Wochen erhalten hat. In seinem Kommentar zu der Veranstaltung findet Gregor Dotzauer vom Tagesspiegel deutliche Worte: „Niemand wird gezwungen, auf Panels seinen Kopf hinzuhalten, aber wer es ohne Namen tut und zugleich volles Rederecht beansprucht, hat die Struktur demokratischer Prozesse von Grund auf missverstanden“ (Den Artikel in voller Länge gibt es hier).
Mir ist es ehrlich gesagt ziemlich egal, ob Frau Roth jetzt Frau Roth heißt oder anders, und ob sie das in einer Diskussion publik machen will oder nicht. Und ganz losgelöst davon, dass ihre Argumentation fehlerhaft ist und man die Motivation hinter dieser Debatte hysterisch finden mag, ist es absolut nicht in Ordnung, dieser Person Hassmails zu senden oder ihr Hass in irgendeiner Form entgegenzubringen. Sie muss ihre Meinung ohne Angst äußern können – zugleich muss man in einer offenen Gesellschaft natürlich auch vertragen, dass sich Leute an einer bestimmten Meinung stoßen und dies dann ebenso offen kundtun.
Und eigentlich finde ich auch, dass es der Alice-Salomon-Schule vollkommen frei steht, ob sie nun ein bestimmtes Gedicht an ihrer Fassade zeigen will, oder nicht. Und dass dort jetzt in regelmäßigem Wechsel Gedichte verschiedener Preisträger des von der Hochschule verliehenen Poetik-Preises angebracht werden sollen, ist ja an sich eine gar nicht schlechte Idee. Gomringer hatte den Preis 2011 von der Hochschule erhalten und aus diesem Anlass sein 1953 geschriebenes Gedicht geschenkt.
Nun hatte aber das Liebermann-Haus zur Diskussion eingeladen unter dem Thema „Was kann und darf Kunst?“ und durch ihr Erscheinen bei dieser öffentlichen Diskussion und das Darlegen ihrer Argumente, haben die beiden Damen das Thema eben doch noch mal zur öffentlichen Auseinandersetzung dargeboten.
Frau Roth führte am Montag an, sie habe das Gedicht „aus sozialarbeiterischer Perspektive“ gelesen. Daher störe sie u.a. die Tatsache, dass die Alleen, Blumen und Frauen alle im Akkusativ stünden, sie daher zu Objekten verkämen und nur der Bewunderer im Nominativ. Auch habe sich ihr, als sie herausgefunden habe, dass „admirador“ eben „Bewunderer“ hieße, der Magen zusammengezogen.
Zum einen muss man sagen, dass bei Frau Roths „sozialarbeiterischer Perspektive“ Grammatik ein wenig zu kurz zu kommen scheint. Tatsächlich stehen nämlich alle Nomen dieses Gedichts im Nominativ, sie sind alle Subjekte und nicht Objekte.
Und dann frage ich mich, warum sich bei dem „Bewunderer“ sofort der Magen zusammenzieht. Man kann natürlich viel in einen solchen Bewunderer hineinlesen – wobei es mir schwerfällt einen Bewunderer automatisch mit einem Prädatoren gleichzusetzen. Denn an dem was ein Bewunderer tut – bewundern – ist erst einmal nichts Schlimmes. Der Duden definiert „bewundern“ so: „Eine Person oder ihre Leistung, eine Sache als außergewöhnlich betrachten und staunend anerkennende Hochachtung für sie empfinden“. Da steht nichts von aufdringlichem Gaffen, obszönen Hinterher-Pfeifen oder aufgezwungenem Tatschen.
Man könnte jetzt einwenden, dass der Bewunderer die Frauen nur aufgrund ihres Aussehens bewundert, was verwerflich ist, weil es die Frau zum Objekt seiner Begierde reduziert. Aber ist das so? Oder bewundert der admirador vielleicht den Gesamteindruck des sich bietenden Bildes? Eine Allee mit Blumen, bevölkert von Frauen, die dort entlangschlendern und sich des Lebens freuen. Oder gibt es da noch eine andere Art der Interpretation? Und falls es doch so wäre, dass der Bewunderer die Frauen primär ihres Aussehens wegen bewundert, könnte man das kaum kontrollieren. Die Gedanken sind ja schließlich glücklicherweise vollkommen frei.
Die Stärke von Kunst ist doch ihre Ambivalenz, die es Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Überzeugungen ermöglicht, ganz unterschiedliche Dinge in das selbe Gedicht, das selbe Bild hineinlesen zu können. Dass sich Frau Roth bei dem Wort „Bewunderer“ aufgrund ihrer persönlichen Assoziationen der Magen zusammenzieht, sagt mehr über Frau Roth aus und auch über die Gesellschaft, in der wir leben, als über das Gedicht an sich.
Diese der Kunst so eigene Ambivalenz wird ganz wunderbar illustriert durch die Gegenüberstellung dreier unterschiedlicher Interpretationsansätze von Ralph Müller, Professor für germanistische Literaturwissenschaft an der Uni Fribourg. Er hat das Gedicht, diese wenigen Worte, mit drei verschiedenen theoretischen Ansätzen interpretiert (in voller Länge erschienen hier bei der Süddeutschen):
- Hermeneutischer Intentionalismus. Was will der Autor aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Gedicht zu verstehen geben? Gomringer, so Müller, sehe seine Gedichte als Gebrauchstexte, die „Denkspiele“ auslösen sollten. Dabei geht es einerseits um den Klang der Worte, aber auch um das Schriftbild, das sich einprägen soll. Das heißt, dass der Wirklichkeitsbezug der Worte keine größere Rolle spielt, es geht laut Müller „nicht um eine konkrete Straßenszene, sondern um die Beziehung zwischen Wörtern. Gomringer eine sexistische Intention zu unterstellen wäre – auch vor dem Hintergrund des Gesamtwerks – abwegig.“
- New Criticism. Wie können wir ein Werk verstehen, wenn wir ganz vom Autor und seiner Intention absehen? Das bedeutet vor allem einen Fokus auf der Form eines Textes und der Äußerungsinstanz – wer spricht hier? Ist der admirador das „lyrische Ich“, das von sich in der dritten Person spricht, sich also selbst beobachtet? Bei diesem Ansatz sieht Müller weniger Voyeurismus durch den Bewunderer, sondern vielmehr einen Aufruf zur Kunstbetrachtung, indem hier „das Bild einer urbanen und – durch die Blumen – sehr bunten Straßenszene gezeichnet wird“.
- Geschlechtertheorie. Dieser Interpretationsansatz konzentriert sich auf die Entgegensetzung von Frau und Mann. Weil der Bewunderer, als letztes Wort, die Pointe des Gedichtes ist, steht er im Vordergrund, während die Frauen als schmückendes Beiwerk im Hintergrund verschwinden. Müller stellt die These auf: „Was den Asta der Hochschule zu stören scheint, ist, dass den Frauen durch das Gedicht immer gegenwärtig gehalten wird, dass ihnen dort Bewunderer ‚auflauern‘ könnten.“
Ich empfehle, die Interpretationsansätze in Gänze hier nachzulesen; sie sind toll ausformuliert und meine kurze Zusammenfassung kann ihnen nicht gerecht werden.
Wie fragte Gomringer am Montag zu Beginn der Diskussion? „Wie antiseptisch muss Kunst sein?“ Ich denke, Kunst sollte gar nicht antiseptisch sein. Sie muss auch nicht eindeutig sein; vielmehr macht doch gerade Ambivalenz gute Kunst aus, die Raum für unterschiedliche – auch unangenehme – Interpretationen bietet.
Behörden- und Amtssprache wiederum sollte eindeutig und klar sein – in Maßen. Deshalb will ich zum Beispiel von meiner Bank durchaus als „Liebe Kundin“ angesprochen werden, obwohl mir das generische Maskulinum im Fließtext wiederum egal ist. Da toppt für mich die Lesbarkeit jegliche Empfindsamkeit. Schade, dass solche Differenzierungen im Schwung der #metoo-Hysterie kaum noch Beachtung finden. Und schade auch, dass #metoo, das doch eigentlich grundsätzlich mal eine wichtige Diskussion auslösen sollte, inzwischen so dermaßen von Polemik geprägt ist, dass sie zu einer einzigen großen Empfindsamkeitsdebatte verkommen ist.
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