Robert Scheer – Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldorf und Ravensbrück
Im Laufe ihrer Schulzeit wird Pici wiederholt mit Antisemitismus in Berührung kommen. Zunächst handelt es sich um vereinzelte Ereignisse, die sich in späteren Jahren häufen. Manchmal zeigt er seine hässliche Fratze in für die junge Pici völlig unerwartetem Gewand. Da ist die Schulfreundin, die eines Tages ohne Vorwarnung auf „die Juden“ schimpft und der langjährige Kunde des mit Holz handelnden Vaters, der von einem Tag auf den anderen kündigt.
1944 wird die Familie Meisels ins Ghetto geschickt:
„Die Nachbarn lauerten hinter dem Zaun. Das war ein Ereignis in der kleinen Stadt! Die Juden wurden weggeführt! Vielleicht tat es den Nachbarn leid, vielleicht nicht, ich weiß es nicht. Plötzlich kamen zwei Menschen daherspaziert […] Sie brachten einen großen, frischen Brotlaib, ein großes Stück Speck und einen Pullover. All diese Gegenstände drückten sie meinem Bruder Béluska in die Hand, lakonisch sagend, vielleicht würden die Dinge doch nützlich sein […] Dies habe ich nicht vergessen, und es war viele Male gut, daran zu denken, dass wir nicht nru gehasst worden sind, und dass es auch Menschlichkeit in der Welt gibt.“
An diesen Moment der Menschlichkeit muss Pici sich klammern. In den Wochen in den Ghettos Carei und Satu Mare drängen sich die Menschen, aber immerhin ist die Familie Meisels noch beisammen. Pici erzählt von ihren Geschwistern, von ihrem Bruder, ihrer Mutter und ihrem Vater. Als die Familie im Juni 1944 nach Auschwitz deportiert wird, sieht Pici ihre Eltern und ihren Bruder zum letzten Mal. Sie hält sich an ihre beiden Schwestern, mit denen sie die KZs Auschwitz, Walldorf und Ravensbrück erlebt.
In dieser Abschrift eines Gespräches zwischen Enkel und Großmutter lässt Scheer Pici beinahe ohne Unterbrechnungen zu Wort kommen. Nur hie und da schaltet er sich mit Nachfragen ein; behutsam führt er Pici so durch ihre Erinnerungen. Die leichte Distanziertheit, mit der Pici sich erinnert lässt die Schrecken, die sie erlebt hat, in noch grelleren Farben erscheinen. An einer Stelle beschreibt Scheer, wie er eine Gesprächspause nutzt um ein Glas Wasser zu trinken und einige tiefe Atemzüge zu nehmen. Als Leser fühlt man sich versucht, zu ähnlichen Mittteln zu greifen. Unaufhaltsam bewegt sich Picis Erzählung vorwärts. Trotz alles vorsichtigen Tastens, trotz ihres Wunsches, ihre Erinnerungen an die Konzentrationslager noch aufzuschieben, ist doch klar, was kommen wird.
Scheers Buch ist gerade deshalb so erschütternd, weil es so langsam beginnt. Weil er seiner Großmutter Raum gibt, nicht direkt in die Schrecken des Holocaust einzutauchen, sondern ihre Familiengeschichte zu erzählen. Von der mehr als dreißigjährigen Ehe ihrer Eltern und dem Holzgeschäft ihres Vaters. Von ihren Schwestern und ihrem Bruder, ihren Schulerlebnissen und den Träumen und Wünschen, die das junge Mädchen Elisabeth mit sich herumträgt. Auch die Zeit nach Ende des Krieges wird angesprochen. Fotos geben ihren ermordeten Verwandten ein Gesicht und sie vermitteln Eindrücke von ihrem Leben nach dem Krieg. So wird Pici nicht auf ihre Opferrole im Holocaust reduziert; vielmehr wird ein detailliertes Bild einer Überlebenden vermittelt. Das Bild einer Frau, die für uns Unvorstellbares erlebt hat und die sich aus absoluter Verlassenheit ein neues Leben geschaffen hat.
In diesen Jahren, in denen die Zeitzeugen des Holocaust immer weniger werden und in denen rechte Kräfte nicht nur in Europa wieder erschreckenden Zulauf verzeichnen, sind Bücher wie dieses ein wichtiges Mittel, Geschichte nicht zu vergessen, damit sie sich auf keinen Fall (nicht einmal annähernd) wiederholen kann.
Kurzfazit: Ein wichtiges Buch, damit Geschichte sich nicht wiederholen kann.
Ich danke Marta Press für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares.
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