Kommentar: Zu Bertrand Cantats Comeback.

Als Kritiker fragen wir uns stets „Ist das gut?“. Détroits Debüt „Horizons“ allerdings konfrontiert uns mit einem neuen Problem: Dürfen wir das überhaupt gut finden? Sänger Bertrand Cantat, einst eine verehrte europäische Pop-Ikone, ist ein verurteilter Gewalttäter, verantwortlich für den Tod von einer, vermutlich gar zwei Frauen. Erstmals seit 2001 erscheint ein Studioalbum mit seiner Beteiligung. Wie soll man das unbefangen beurteilen?

 horizons

I. Die Vorgeschichte

2003: Bertrand Cantat schlägt seine Geliebte Marie Trintignant bei einer Auseinandersetzung derart heftig, dass sie ins Koma fällt. Wenig später verstirbt sie. Cantats Ex-Frau und Mutter seiner beiden Kinder, Kristina Rady, nennt ihn einen sanftmütigen, zu keiner Gewalt fähigen Menschen. Das führt dazu, dass er wegen Totschlags, nicht wegen Mordes verurteilt wird. 2007 erfolgt die vorzeitige Haftentlassung. Cantat kehrt zu Rady und seinen Kindern zurück. Die Dinge ändern sich, in Nachrichten an ihre Eltern nennt Rady Cantat einen Verrückten, der ihr schreckliche Dinge antue. 2010 begeht sie Selbstmord.

II. Das Comeback

Frankreich sträubt sich. Ihr einstiger Held Bertrand Cantat, als Sänger von Noir Désir eine politische und künstlerische Ikone, ist ein Mörder. Gemeinsam mit dem Bassisten Pascal Humbert bildet er das Duo Détroit (Meerenge). Ausgerechnet am 25. November 2013, dem internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt an Frauen, hätte ihr Debütalbum „Horizons“ herauskommen sollen. Frankreich sträubt sich. Der Ausgabetag wird um eine Woche vorverschoben. 67 Prozent sagen in einer Umfrage, dass sie aus moralischen Gründen keine CD kaufen würden

III. Und die Musik…?

Noir Désir machten intensive Musik, sie war radikal, bisweilen zärtlich, bisweilen brutal. Im reduzierten Format des Duos Détroit, bestehend aus Bass sowie Gitarre und Gesang von Cantat, wirkt manches noch eindringlicher. Manisch geistern die Gitarren durch den Raum, manche Songs bauen sich auf zu vernichtenden Mauern aus Lärm, besessen zerreisst Cantats Stimme jedes Wort – und ich ertappe mich dabei, wie ich diese Stimme und diese Worte nach bestimmten Emotionen absuche. Ist da Reue? Ist da Scham? Angst? Oder ist es alles hämischer Spott? Verachtung? Wenn er singt

Tous les jours on retourne la scène/ Juste fauve au milieu de l’arène / On ne renonce pas, on essaye, / De regarder droit dans le soleil

fällt es schwer, sich nicht die Szene vorzustellen, in der er Marie Trintignant totschlägt. Und das hält ab von einer unbefangenen Wahrnehmung der Musik. Das schreit “Mörder!” und nicht “Songwriter!”. Und wenn er da singt, man gebe nicht auf, man versuche aufrecht in die Sonne zu blicken: soll man es ihm abnehmen? Oder ist es nichts als ein scheinheiliger Versuch, das Publikum, das ihm einst zu Füssen lag, wieder milde und kauffreudig zu stimmen?

Ich weiss es nicht und scheue deshalb vor einem moralischen Urteil zurück. Es sei jedem selbst überlassen. Cantats Taten sind unverzeihlich, seine Musik bleibt eindrücklich, kräftezehrend. Eine Stimme und Texte, wie sie die europäische Musik des 20. und 21. Jahrhunderts kaum in dieser Intensität wahrgenommen hat – in positiver wie auch negativer Hinsicht…
Kennt man die Vorgeschichte, ist es nicht möglich, diese Musik ohne Vorurteile zu hören. Ästhetisch aber wird man sich dem Reiz dieses Albums vielleicht nicht erwehren können – mit oder ohne schlechtes Gewissen…

Was meint ihr? Ist es moralisch verwerflich, sich dieses Album anzuhören, es gar zu mögen? Oder müssen die Verbrechen des Künstlers von seinem Werk getrennt betrachtet werden?

Das ganze Album “Horizons” via Spotify:


Tagged: 2003, Bertrand Cantat, Détroit, Droit Dans Le Soleil, Marie Trintignant, Noir Désir, Vilnius

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