Komm zurück, geliebtes Ekel!

Silke dachte an den Kuss, den Bodo nachher von ihr bekommen sollte, ein Kuss, bei dem ihm Hören und Sehen vergehen würde …
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Silke schloss die Haustür auf: “Bodo, bist du da?”
“Natürlich, wo soll ich sonst sein?” Er hörte sich an, als hätte er einen besonders schlechten Tag gehabt. Natürlich war ihre Frage blöde gewesen, dachte Silke, aber alles, was sie sagte, war falsch in letzter Zeit. Entmutigt ging sie ins Wohnzimmer – und hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht.
Dieser Zigarettengestank, diese Unordnung! Dabei hatte Bodo schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Schweigend öffnete sie die Fenster, sammelte die herumliegenden Zeitungsblätter ein und leerte die vollen Aschenbecher aus, während ihr Zorn wuchs. Schliesslich arbeitete sie den ganzen Tag. Aber das Thema Arbeit war eben auch schon länger tabu.
Bodo ging leicht schwankend zur Bar und wollte sich einen Whisky einschenken. Den wievielten an diesem Tag? Der Streit war vorprogrammiert. Mit zwei Schritten war Silke bei ihm: “Lass das”, sagte sie scharf. Und auf einmal wurde ihr alles zu viel: Sie liess sich aufs Sofa fallen, schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.
Nach einer Weile klappte die Tür, und Bodos schwere Schritte waren auf der Treppe zu hören. Ihr fehlte die Kraft, ihm zu folgen. Was war aus dem Mann geworden, mit dem sie so viele glückliche Ehejahre geteilt hatte? Seit er die Firma verloren hatte, war er einfach nicht mehr derselbe Mensch …
Dann war er wieder da. Mit einer gepackten Tasche: “Ich gehe”, sagte er mit rauher Stimme.
Silkes Herz gefror: “Was heisst das, du gehst?”
“Ich bin eine Zumutung für dich, also gehe ich.”
“Aber wohin?”
"Das lass nur meine Sorge sein!"
Er verliess das Haus. Ein Taxi fuhr vor. Bodo musste danach telefoniert haben. Türen klappten, dann entfernte sich das Motorengeräusch. Silke sass immer noch da und rührte sich nicht. In ihr herrschte eine grosse Leere. Eine Leere, die dröhnte.
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Bodo zeigte stumm auf sein leeres Glas. Der Barkeeper füllte es neu. Im Spiegel hinter der Bar sah Bodo sein übermüdetes Gesicht. Augen, die rot waren vom Zigarettenrauch und zuviel Alkohol. Kein schöner Anblick, Bodo Melchers, dachte er und schämte sich. Das Schlimmste war gewesen, Silke zu verlassen. Mit dem Gefühl, dass es noch schlimmer für sie war, wenn er blieb …
“Ärger zu Hause?” fragte eine Stimme neben ihm. Sie gehörte einem dunkelhaarigen Mann, der höchstens dreissig war. Nett sah er aus, aber Bodo wollte, dass man ihn in Ruhe liess: “Geht Sie das etwas an?” fragte er kurz angebunden.
“Naja, ich finde nur, Sie trinken ein bisschen zu viel.”
“Sieh mal einer an”, grollte Bodo. “Und Sie, was machen Sie?” Er zeigte mit dem Kinn auf das halbvolle Glas des Mannes.
“Ich trinke leider auch ein bisschen zuviel”, seufzte sein Nachbar. “Keine Arbeit und zuviel Zeit zum Nachdenken.”
“Hm, das kenne ich”, stimmte Bodo zu.
“Sind Sie auch arbeitslos?”
“Mein Unternehmen ist vor einem Jahr den Bach heruntergegangen. Ein Unternehmen, das ich mit eigenen Händen aufgebaut habe. Ich bin in zwei Konkurse hineingezogen worden. Da war nichts mehr zu retten. Seitdem renne ich mir die Hacken nach Arbeit ab. Vergeblich. Mit 54 Jahren schon zu alt! Und Sie? Was waren Sie von Beruf?”
“Ich musste mein Archäologiestudium aus materiellen Gründen aufgeben und halte mich mit Jobs über Wasser. Zuletzt war ich Möbelpacker und Kellner. Nun, wenigstens hab ich noch nicht angefangen, allein zu Hause zu trinken.”
Bodo hatte damit angefangen. Er schämte sich wieder. “Kennen Sie vielleicht ein preiswertes Hotel?” fragte er.
“Wollen Sie bei mir schlafen? Eine kleine Einzimmerwohnung, aber der Platz reicht.”
Bodo wurde seltsamerweise ganz warm ums Herz. “Danke, das ist nett”, sagte er schwerfällig, “aber ich zahle für die Übernachtung. Das kann ich noch.”
Der Jüngere grinste: “Sie machen doch hoffentlich Spass? Ich hab’ noch etwas Geld vom letzten Job, da kann ich es mir erlauben, anderen zu helfen. Übrigens, ich heisse Steffen. Steffen Schneider.”
“Bodo Melchers.”
Sie reichten sich die Hand.
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“Wie bitte? Vati ist schon seit drei Monaten fort, und du weisst nicht, wo er ist?”
Silke hatte sich endlich entschlossen, ihrer Tochter Nelly, die als Grafikdesignerin in New-York arbeitete und mit der sie gerade telefonierte, die Wahrheit zu sagen. In zehn Tagen würde Nell nach Deutschland zurückkommen, und es bestanden kaum Chancen, dass Bodo bis dahin wieder auftauchte.
“Hast du ihn gesucht?” Nell stand hörbar unter Schock.
“Ich halte ständig Ausschau nach ihm, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt.”
“Und die Polizei?”
“Die tut doch nichts, wenn kein dringender Verdacht auf ein Verbrechen besteht.”
“Aber warum?” fragte Nell fassungslos. “Warum hat er das getan?”
“Du weisst doch, dass es ihm in letzter Zeit nicht gut ging, seit er das Unternehmen nicht mehr hat …”
“Hattet ihr Geldsorgen?”
“Nicht wirklich. Noch nicht, jedenfalls. Zum Glück habe ich ja auch schnell woanders eine Stelle als Sekretärin gefunden.” Leise fuhr Silke fort: “Ich bin so wütend auf ihn, und gleichzeitig mache ich mir entsetzliche Sorgen.”
“Soll ich sofort kommen, Mum?”
“Auf keinen Fall Liebes. Ich freu’ mich aber, wenn du in zehn Tagen nach Hause kommst.”
“Ich freu’ mich auch. Und Vati kriegt etwas von mir zu hören, sobald er wieder auftaucht. Und wie!”
Silke musste trotz ihres Kummers lachen: “Ach Nell, wenn ich wüsste, wo er wäre, würde ich ihm auch gern den Hals umdrehen, das kannst du mir glauben.” Und doch liebte sie ihn noch, dachte sie. Sie hatte immer nur ihn geliebt …
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“Nell, ich muss tanken.” Jo fuhr bis zu den Zapfsäulen. Nell und er kannten sich von der Kunstschule her, und er hatte sie am Flughafen abgeholt, weil Nells Mutter noch arbeitete.
Nell stieg mit ihm aus, streckte sich und sah sich um. “Ist das Einkaufszentrum neu?”
“Ja, es ist erst vor kurzem eröffnet worden.”
Plötzlich griff sie nach seinem Arm: “Sieh mal, die Autowäscher dort, im blau-weissen Zelt.”
Jo, der die Benzinpistole schon ausgehakt hatte, sah kurz hinüber: “Auto-Glanz. Kaufen Sie in Ruhe ein - wir waschen Ihr Auto”, las er vom grossen Schild ab. “Eine gute Geschäfts-Idee”, meinte er anerkennend.
“Jo, das ist mein Vater!” Schon rannte sie los.
“Vati, was machst du hier?”
Bodo polierte mit kraftvollen Bewegungen ein Auto blank. Jetzt hielt er inne und starrte seine Tochter an: “Nell, wo kommst du denn her?”
“Geradewegs aus New-York.”
Er legte das Poliertuch aus der Hand und schloss sie in die Arme. Dann erklärte er: “Ja, siehst du, ich arbeite. Steffen, komm her, damit ich dich mit meiner Tochter bekannt mache. Nell, das ist Steffen, mein Geschäftspartner. Steffen, das ist meine Tochter Nelly aus New-York. Bist du auf Besuch hier?” wandte er sich wieder an Nell.
“Nein, für immer. Jo und ich wollen uns mit einer Werbeagentur selbstständig machen.”
“Fein”, Steffen schüttelte ihr erfreut die Hand. “Dann können wir ja Kunde bei Ihnen werden. Wir könnten einen flotteren Spruch gebrauchen und ein Firmenlogo, das sich einprägt.” Er wurde ernst. “Ich bin so froh, dass ich Ihrem Vater begegnet bin. Die Idee mit der Auto-Waschanlage haben wir zusammen ausgeheckt. Ihr Vater weiss bestens Bescheid mit Firmengründungen, Management und so.”
“Im Augenblick sind wir nur ein kleiner Zweimann-Betrieb”, lächelte ihr Vater, “aber wir führen schon Verhandlungen mit mehreren Einkaufszentren. Später wollen wir uns zusätzlich um den Fuhrpark von grösseren Firmen kümmern.”
Nell dachte, dass ihre Eltern sich unmöglich wiedergesehen haben konnten, denn sonst hätte er doch von ihrem Kommen gewusst. Vorsichtig fragte sie jedoch: “Mutti freut sich doch sicher über deinen neuen Anfang?”
Bodo zog seine Tochter ein paar Schritte weiter, ausser Hörweite von Steffen, der ihm schon Vorhaltungen gemacht hatte: “Ich habe ihr noch nichts gesagt …”
“Wie bitte? Weiss Mutti etwa immer noch nicht, wo du steckst?” Nell konnte es nicht fassen.
“Du weisst, dass ich von zu Hause weggegangen bin?”
“Klar, wenn auch erst seit zehn Tagen. Mutti wollte mich nicht beunruhigen.”
“Nell, ich bin nicht stolz auf mich, das kannst du mir glauben. Ich hab’ mich unmöglich aufgeführt, dabei hat sie alles getan, um mir zu helfen. Jetzt ist es nicht leicht, ihr wieder vor die Augen zu treten. Du weißt ja, sie kann - hm, sehr temperamentvoll reagieren. Kurz, ich wollte damit warten, bis hier alles ein bisschen besser läuft.”
“Aber sie macht sich Sorgen!”
“Das tut mir leid.”
“Ist das alles?” Nell blitzte ihn an. “Hast du denn kein bisschen Zivilcourage? Du könntest ihr wenigstens sagen, dass es dir gut geht!” Aber sie wusste jetzt, was ihr zu tun blieb …
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“Nell, wie schön, dass du wieder da bist!” Silke hatte sich beeilt, von der Arbeit nach Hause zu kommen und schloss ihre Tochter nun glücklich in die Arme.
Besorgt sah Nell, wie schmal das Gesicht ihrer Mutter geworden war: “Hast du immer noch nichts von Vati gehört?” Es fiel ihr schwer, nicht mit der Neuigkeit herauszuplatzen, aber sie zog es doch vor, dem Schicksal nur ein bisschen nachzuhelfen.
Silkes Gesicht umschattete sich: “Nein, Liebes.”
“Kein Grund, um alles verkommen zu lassen!”
“Wie meinst du das?” Ratlos sah Silke sich um.
Ihre Tochter zog sie zum Fenster und zeigte hinunter: „Sieh doch nur, du solltest mal dein Auto waschen lassen!”
“So schlimm sieht es doch nicht aus? Seit wann bist du so etepetete?” fragte Silke erheitert.
”Warst du schon mal in diesem neuen Einkaufszentrum? Jo und ich haben vorhin dort getankt.”
“Ich hab davon gehört, war aber bisher noch nicht da. Weisst du, ich bin einfach an mein altes Einkaufszentrum gewöhnt.”
“Dort gibt es eine echt tolle Auto-Waschanlage. Komm, wir beide fahren gleich hin.”
“Jetzt?” fragte Silke verdattert.
“Jetzt”, erwiderte Nell energisch.
Warum hatte sie sich eigentlich überrumpeln lassen? fragte sich Silke, als sie unterwegs waren. Sie könnten jetzt gemütlich bei einer Tasse Tee zusammensitzen und sich etwas erzählen. Aber vielleicht war der kleine Aufschub ihr nicht unwillkommen?
“Da ist es”, rief Nelly, “halt an!”
Sie sah ihre plötzlich wie erstarrt dasitzende Mutter von der Seite an und fügte leise hinzu: “Ja, das ist Vati. Ich mache schnell ein paar Besorgungen. Jo kommt zum Abendessen. Ich hoffe, es ist dir recht? Bin in etwa einer halben Stunde zurück.” Schon öffnete sie die Beifahrertür und war verschwunden.
“Ich möchte meinen Wagen waschen lassen.” Es gelang Silke, einen ruhigen Ton anzuschlagen, während in ihrem Inneren ein Orkan aus Wut, Schmerz, aber auch grenzenloser Erleichterung tobte.
Bodo, der gerade ein Auto abspritzte, liess vor Überraschung den Schlauch fallen. Rasch bückte er sich, um das Wasser abzustellen. Als er sich wieder aufrichtete, war er rot im Gesicht: “Hat Nell dir Bescheid gesagt?”
“Sie wollte unbedingt, dass ich den Wagen zum Waschen hierhin bringe, aber sie hat mir nichts von dir erzählt.”
Steffen hatte begriffen, um was es ging: “Ich übernehme gern das Auto”, bot er hilfsbereit an, “und ich kann auch allein die Stellung halten, wenn Sie miteinander sprechen wollen.”
“Das ist nett, Steffen, aber das Auto meiner Frau wasche ich selbst.” Nachdem er die beiden einander vorgestellt hatte, machte er sich an die Arbeit.
Silke ging wie ein gefangener Tiger um Bodo und das Auto herum: “Da ist noch ein Fleck”, zeigte ihr Kinn. “Die Radkappen könnten mehr glänzen. Hier drinnen ist noch Staub. Und die Fussmatte ist auch nicht richtig gesaugt.” Ihren ganzen Zorn liess sie auf diese Weise heraus. Und gleichzeitig brach es ihr das Herz, wie Bodo ihr Auto wusch und eigentlich ganz fröhlich dabei wirkte.
“Weisst du, was ich an dieser Arbeit besonders mag?” grinste er, “den Kontakt mit den Kunden.”
“Bei mir bist du da ja richtig gut bedient, oder?” schnappte sie zurück. Eine ältere Kundin sah sie erschrocken an. Es war Silke egal. Sie rechnete mit diesem Ekel ab, und zwar gründlich.
Mistkerl, dachte sie. Geliebter Mistkerl, geliebtes Ekel!
Endlich richtete Bodo sich auf: “Zufrieden?” Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Ihre Wangen waren gerötet, die blauen Augen funkelten. In ihr dunkles Haar mischten sich ein paar silberne Strähnen. Er bemerkte sie zum ersten Mal, und sein Herz schmerzte vor Liebe.
Sie atmete tief ein: “Zufrieden”, nickte sie. “Wieviel schulde ich Ihnen nun?”
Sie sahen sich an. Und auf einmal mussten sie beide lachen. Sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen und Steffen in das Lachen einstimmte.
Dann wurde Bodo wieder ernst. Dicht an ihrem Ohr murmelte er: “Einen Kuss, bitte. Aber ich kann warten. Kannst du mir überhaupt verzeihen, Liebling?”
“Mal sehen. Wann habt ihr denn Feierabend?”
“In einer Stunde.”
“Ich erwarte euch zum Essen zu Hause. Steffen, Sie natürlich auch.”
“Vielen Dank”, strahlte Steffen.
“Bitte keine Nudeln, wenn’s möglich ist”, grinste Bodo, “die essen wir nämlich schon jeden Tag.”
“Keine Nudeln, okay. Bis nachher, also.” Plötzlich klopfte ihr Herz wie das eines jungen Mädchens. Weil sie an den Kuss dachte, den Bodo von ihr bekommen würde, wenn sie später allein sein würden, einen Kuss, bei dem ihm Hören und Sehen vergehen sollte. Sie überlegte, was sie kochen wollte. Was hatte sie überhaupt zu Hause? Und wo war eigentlich Nell?”
Ihre Tochter kam gerade mit zwei grossen Tüten im Arm auf sie zu: “Ich hab’ für ein halbes Regiment eingekauft, richtig so?”
“Gut gemacht”, lachte Silke.
“Wirklich gut”, bestätigte ihr Vater. Und bei beiden klang es so, als wären damit nicht nur die Einkäufe gemeint …
ENDE


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