*Heute gibt’s einen inspirierenden Gastartikel von Gina von ofrootsandroads.*
Ich stehe also da. Blick nach vorne, die Zehen ragen schon über den Abgrund hinaus, unter mir – ja, was ist da eigentlich? Es ist bewölkt an diesem Tag. An jedem anderen auch. Und so bin ich auf mich gestellt bei der Frage, ob es sich lohnt zu springen oder ob ich mir noch im Fallen wünsche werde, ich hätte es nicht getan.
Manchmal habe ich das Gefühl, in seinen Zwanzigern zu sein bedeutet, sich im Grunde permanent irgendwo herunter zu stürzen. Also, rein metaphorisch gesprochen. Was vor einem liegt ist noch irgendwo im Nebel, alles offen, die Möglichkeiten fast grenzenlos.
Und gerade deswegen gibt es keinen Fixpunkt am Horizont, weil der sich ständig verschiebt, mit jeder impulsiven Entscheidung, mit jedem Herzschlag.
Ich treibe. Dann strampel ich in irgendeine Richtung. Irgendwann weiß ich, wird es wieder Zeit den Absprung zu wagen. Blindlings hinein in etwas, das Liebe sein könnte. In einen Job, der vielleicht das entscheidende Puzzleteil hin zu meiner Traumkarriere ist. In eine Chance, von der mein Herz glaubt, sie könnte die richtige sein, während der Kopf sich (mal wieder) quer stellt.
Nicht immer habe ich das so gemacht. Irgendwann mal habe ich gedacht, einen Plan zu haben. Zu wissen, wie ich dorthin komme, wo ich meinte hinzugehören. Einen fünf Jahresplan möchte ich es nicht nennen, aber doch hatte sich in meinen Gehirnwindungen eine Idee manifestiert, wie es zu sein hatte, das Leben. Wie ich zu sein hatte.
Es war auch Teil meines Plans, eine Zeit lang im Ausland zu leben. Wie man das eben so macht, als pflichtbewusster Teil der Generation Y.
Als ich damals in ein Flugzeug kletterte und über den Indischen Ozean hinweg ans andere Ende der Welt flog, wog ich mich noch in der Sicherheit. Alles läuft nach Plan. Ein halbes Jahr Reisen, um kulturelle Offenheit zu zeigen und das Englisch zu perfektionieren. Lebenserfahrung sammeln, damit ich irgendwann eine weltgewandte Journalistin sein könnte.
Eine Veränderung, die sich durch die kommenden Jahre ziehen würde, wie ein klebriger Kaugummi unterm Schuh: Komplett unerwünscht.
Eine, die mich elf Monate nach meinem Aufbruch aus Australien zurückkehren ließ, die Gedanken so grau wie der Asphalt der Straßen, über die ich damals orientierungslos wanderte und mich zurück wünschte dahin, wo das Leben irgendwie leichter, die Welt irgendwie offener und die Farben irgendwie leuchtender schienen.
Man kann sich nicht unerinnern, auch wenn das manchmal einiges erleichtern würde. Man kann eigentlich nur zuschauen, wie Risse langsam wieder zusammenwachsen und den Mut nicht verlieren. Hätte mir am Anfang jemand gesagt, wie lange es dauern würde, wie viele schlaflose Nächte das kostet, ein angeknackstes Herz, einen abgebrochenen Studiengang, einen erneuten Ausbruch in die Ferne – vielleicht hätte ich gleich aufgegeben.
Wenn ich allerdings jetzt zurückblicke, dann gefällt mir der Gedanke, dass ich erst den ständigen Aufbruch lieben lernen musste, um irgendwann Anzukommen.
Komm, wir springen.
Wir sind in der komfortablen Situation vieles zu können, wenn wir nur können wollen. Eine Tatsache, die nicht immer leicht zu akzeptieren ist, weil wir damit auch die Verantwortung tragen. Verantwortung für ein Ergebnis, das wir selbst nicht absehen können. Wir wissen einfach nicht, wo wir am Ende stehen werden, wenn wir jetzt einmal kräftig am Glücksrad drehen. Ding! Ding! Ding!
Und derzeit sitze ich da und irgendwie habe ich ihn wiedergefunden, den kleinen Funken, der irgendwann ein Strohfeuer auslösen könnte. Ideen, die sich nicht in 140 Zeichen quetschen lassen, ein Leben, das man niemals in kleinen bunten Vierecken einfangen kann und Erkenntnisse, denen kein Pinterestzitat je gerecht werden könnte. Und ist es nicht das, was wir am Ende wollen? Morgens in Ruhe eine heiße Tasse Kaffee aufbrühen, einmal am Tag vor Freude das Kribbeln im Bauch spüren und nachts ruhig schlafen können. Vielleicht noch Menschen, die das mit einem teilen. Alles andere ist doch irgendwie optional.
Ich kann ehrlich sagen, dass ich es noch nie bereut habe, etwas zu wagen. Kurzfristig vielleicht, im ersten Knie schlotternden Moment, aber niemals langfristig, niemals rückblickend.
Und dennoch lese ich immer wieder diese Frage „Ich möchte ja eigentlich, aber…“ und man hört das Gegenüber beim Kaffeetrinken sagen „Wenn ich erstmal genug Geld habe, in Rente bin oder, oder, oder…“. Verdrehe ich innerlich die Augen? Das kann ich nicht, auch wenn das manchmal mein erster Reflex wäre. Dafür bin ich selbst noch zu tief verwoben in diesem Netz aus Ansprüchen an mich selbst, Unsicherheiten und Tagträumen. Was ich aber definitiv kann, das ist, allen, denen es ähnlich geht, die Hand zu reichen und zu flüstern:
Komm, wir springen. Zusammen.
Dann passiert etwas. Nicht, wenn man sich fallen lässt, sondern nur, wenn man Anlauf nimmt, mit voller Wucht und abspringt, auch wenn die Sicht versperrt bleibt.
Mit strampelnden Armen und Beinen und wehenden Haaren. Am Besten noch mit einem enthusiastischen „Yiiiha!“.
Wenn wir nichts wissen, dann doch, dass wir am Ende landen werden, vielleicht unsanft, vielleicht nicht da, wo wir es kalkuliert hatten, aber irgendwo kommen wir an. Voll froher Hoffnung und ohne Rückflugticket zurück nach oben. Wir hoffen, dass der Mut sich auszahlt, dass wir Magie finden da, wo wir landen. Und wenn nicht? Dann springen wir eben nochmal.
Sicherheit, eine echte Garantie, die gibt es doch eh nicht.
Also geht es am Ende vielleicht gar nicht darum, ob wir überhaupt springen wollen, sondern vielmehr, ob wir mitentscheiden bei der Frage: Worunter?
Über die Autorin:
Reisen – das tut Gina (24) am liebsten mit vier Rädern auf scheinbar nie endenden Straßen und flatternden Haaren im Wind. Von ihren Abenteuern erzählt sie dann auf ihrem Blog Of Roots and Roads. Unterwegs findet ihr sie meist mit dem Kopf in den Wolken und einer Kamera um den Hals – Zuhause in Köln kocht sie euch einen Kaffee mit Sojamilch und erzählt ausführlich von ihren Erlebnissen. Wortreich, bauchgefühlgesteuert, immer suchend. Es gibt da draußen eine Welt zu entdecken! Kommst du mit?