Warum Komasaufen in sein könnte, und warum die Politik Schröders am Kern des Problems vorbeigeht. Ein Kommentar.
Warum trinken Jugendliche zuviel Alkohol? Wie kann man dem Komasaufen begegnen? Familienministerin Schröder will die passende Antwort gefunden haben: eine Verschärfung der Sperrstunden für Heranwachsende. Die CDU Politikerin will vor allem den Jugendschutz bei Konzerten und Vereinsfesten strenger regeln. Künftig sollen öffentliche Veranstaltungen, bei denen Alkohol ausgeschänkt wird nach 20 Uhr für Jugendliche unter 16 Jahren tabu sein, wenn sie nicht von einem Erziehungsberechtigten begleitet werden. Diese Regelung gab es bisher nur für Diskotheken und Nachtclubs. In Gaststätten, Restaurants und Bistros gilt eine Ausnahme: Jugendliche dürfen am Abend auch alleine dort einkehren, um eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, quasi als Grundlage für den nachfolgenden Biergenuß.
Nach dem aktuellen Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung vom Mai 2012 ist bei Jugendlichen der Alkohol-Konsum zwar auf dem Rückzug, demnach greifen 14,2 Prozent im Alter zwischen 12 und 17 Jahren zur Flasche (2001 waren es noch 17,9 Prozent), aber dieser Wert ist immer noch zu hoch; besonders, wenn man bedenkt, dass sich bei jedem Vollrausch bereits irreparable Schäden im Gehirn einstellen, die einzeln für sich genommen nicht sofort zu spürbaren Beinträchtigungen führen, aber sehr wohl in der Summe – bei sich laufend wiederholenden Vollrausch über Jahre hinweg.
Zur Stärkung des Jugendschutzes setzt das Schröder-Ministerium vor allem auf Aufklärung und Beratung, wie es von dort heisst. Sucht Experten hingegen fordern schon seit langem verstärkte Kontrollen und Sanktionen, wenn in etwa Händler Jugendlichen Schnaps verkaufen oder ein Gastwirt ohne Alterskontrolle Hochprozentiges ausschenkt. Auch ein verstärkter Einsatz von jugendlichen Testkäufern kommt immer wieder ins Gespräch, auch, wenn diese “Fallentaktik” unter Benutzung von Jugendlichen stark umstritten ist. Generelle Alkohol Verkaufsverbote in der Nacht sind ebenfalls in der Diskussion, was vor allem Tankstellen und Bahnhofsgeschäfte betreffen würde. Bisher gibt es solche absoluten Verbote nur in Baden-Württemberg, wo sie nach anfänglichen Protest mittlerweile akzeptiert worden sind. Die Gesetzesvorlage ist noch nicht ganz ausformuliert; trotzdem hat bereits die FDP ihren Widerstand angekündigt, wohl mehr aus Sorge vor möglichen Geschäftseinbußen für die deutsche Alkoholwirtschaft, als denn um jugendliche Fürsorge.
Was ist von diesen Reaktionen aus dem Familienministerium zu halten? Es ist zunächst bemerkenswert, dass konservative Politiker aus der Union immer nur ans Verschärfen von Gesetzen und Vorschriften und härtere Strafen denken, um einen unliebsamen Umstand aus den Bürgern zu prügeln. Prävention besteht, wenn sie überhaupt, nur in Abschreckungsszenarien, wie etwa schreckliche Bilder und Berichte von und über Alkoholabhängige.
Die Ursachen für den im Verhältns zu den vergangenen Jahrzehnten spürbar gestiegenen Alkoholkonsum unter Jugendlichen wird weniger thematisiert. Ist die jetzige Generation anders, als die vorhergehende? Die früheren Jugendlichen und heutige Erwachsenen; sie sehen sich als beherrschter und maßvoller an und zeigen mit erhobenen Zeigefinger auf die genussüchtige unnütze Jugend von heutzutage. Familienministerin Schöder, die jung dynamische aufstrebende Sachverständige für verhinderte Familien- und Menschenförderung, stammt aus “gutem Hause”, wuchs wohlbehütet unter Bedingungen auf, die man nicht vergleichen kann mit den Verhältnissen der heutigen Jugend. Ich spreche ihr die Fähigkeit zur Lagebeurteilung ab. Der Leistungsdruck in Schule und Ausbildung ist enorm gestiegen, unsere radikale Leistungs- und Konsumgesellschaft lässt den Heranwachsenden keinen Raum und keine Zeit mehr für wirkliche Muse, Entspannung und Selbstfindung. Eine gesunde Persönlichkeits – Entwicklung wird dadurch enorm erschwert. Abi nach der 12. Klasse, mehr Stoff in kürzerer Zeit muss durchgepaukt werden. Arbeitsplätze und Ausbildungsgelegenheiten sind im gewünschten Betätigungsfeld oft rar; und der Selektionsdruck wächst über das menschenverträgliche Maß hinaus.
Eltern sind häufig ebenso überfordert, die Schulen kommen mit ihren teilweise überalterten pädagogischen Konzepten nicht mehr nach. Sie können keine Ersatzerziehung anbieten, wie sie sagen. Aber wer kümmert sich noch? Wer ist noch Mensch, Freund, Wegbegleider ins Erwachsenenleben? Wer kann der Jugend, der wir soviel Leistung abverlangen, die wir auf perfektes Funktionieren im Räderwerk der Wirtschaft trimmen, emotional und mental beistehen und ihr Orientierungsmarken geben? Alkoholismus, Komasaufen; das ist nicht ein Problem einer sozialen Schicht, nein; es betrifft die gesamte Gesellschaft, das Arztkind genauso, wie der Filius des Hausmeisters.
Und die welt des beistandsbedürtigen Jugendlichen, wie sieht sie aus? Niemand gibt in einer kalten egoistischen Ellbogengesellschaft gerne zu, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein, niemand möchte schwach, oder Opfer sein. Cool und souverän, gruppenkonform und immer gut drauf, muss man als Pubertierender sein. Sehen wir uns doch die Arbeitsverhältnisse an. Wieviel Ärzt trinken? Wieviel Manager ertragen ihren Fulltime Job nur noch mit Suff. In einer materialistischen Welt, in der Ausbeutung und Selbstausbeutung genauso zum guten Ton und zur Norm gehören wie das verdiente Bier oder der Cognac danach; da gelangt man schnell nach dem Vorbild der Alten zum alltäglichen Alkoholgebrauch. Weil es cool ist, dazu gehört zum Erwachsensein , weil es entspannt und enthemmt. Dass die Droge Alkohol legal ist und seit vielen Jahrhunderten wie selbstverständlich zu unserer Kultur gehört, macht sie nicht minder gefährlich. Die gesundheitlichen und auch die finanziellen Folgen von Alkoholmissbrauch sind verheerend. Sie waren schon immer ansteigend, die Zahl der Alkoholkranken, und die Zahl der alkoholbedingten volkswirtschaftlichen Produktions Ausfälle. Aber darüber spricht man nicht. Das gute Bier darf nicht bitter gemacht werden. Man hat es sich doch schwer erarbeitet. Die heutige Jugend ist schuld. Sie ist eben nicht so diszipliniert wie die Alten, zu verwöhnt und vergnügungssüchtig. Das stimmt natürlich ganz offensichtlich nicht. Aber niemand will sich und seine Politik, und seine Lebensweise schlecht geredet fühlen.
Wir machen Witze über die rote Weinnase von Brüderle. Aber unser neoliberaler Wirtschaftsminister und seine Parteikumpanen stehen für die Radikalisierung der Marktwirtschaft, für die Abkühlung des gesellschaftlichen Klimas, für Ausbeutung und für Überforderung. Er und seines Gleichen verdienen ihr Geld durch die Zerstörung der völlig überforderten und ausgeplünderten Menschen. Die Jugend; sie will sich anpassen und jeder strebt von ihnen, wie es dem Menschen von Natur aus gegeben ist, nach Glück und Erfüllung. Jeder möchte nicht nur überleben, sondern in Würde leben. Aber Anerkennung gibt es selten, Forderungen viel, und Überforderung ist die Norm. Komasaufen ist die neue beschleunigte Art, sich aus der tristen Realität zu beamen, um sich endlich einmal scheinbar souverän und akzeptiert und gut zu fühlen. Klar, jeder hat auch ein Stück weit Eigenverantwortung. Nicht an allen ist die böse Gesellschaft schuld; aber wir sollten dennoch erkennen, dass zwischen den Bedingungen, die herrschen, und der Menge und Art des Alkoholkonsums eine Korrelation besteht. Der Drang sich mit Drogen aus der Realität wegzuschiessen, wird umso grösser, je schlimmer diese von uns allen begründete gesellschaftliche Realität ist.
Brüderle geht mit seinem Geld schnell mal zwischendurch einen Roten in der Strausswirtschaft zwitschern; und Schröder weiss auch bescheid; alles geht seinen Gang, nach ihren alten Maßgaben – nur eben ein wenig verschärfter. Die FDP schützt den Konsum und Profit der Moderne, die CDU ihre alte gewohnte alkoholbeseelte Lebensweise. Die Zeche, die zahlen die anderen.
Ich verstehe die Heuchelei nicht. Und auch nicht die Verrohung und Entmenschlichung unserer Kultur. Kinder und Jugendliche sind unsere Zukunft. Und wir geben ihnen keine Perspektiven, keine Wärme, keine Ethik; dafür eine kaputte Welt, in der sie besser weggedröhnt entfliehen und/oder selber kaputtgehen.
ergo bibamus
René Brandstädter – humanicum