Kolumbien – Das zweite Gesicht

Das zweite Gesicht – Kolumbien

Die kolumbianische Gesellschaft hat zwei Gesichter. Auf der einen Seite stehen Moderne, Wohlstand, Bildung und ein bequemes Leben im Luxus. Auf der Anderen: Armut, Unterernährung und Kriminalität. Was Touristen und Austauschstudenten nicht mitbekommen…

Mein erster Eindruck von Kolumbien hat mich selbst überrascht. Eigentlich hatte ich etwas ganz anderes erwartet, was weiß ich allerdings selbst nicht so genau. Wolkenkratzer voller Luxusapartments, Malls im Stile Amerikas und Sicherheitspersonal an allen Ecken und Enden waren es sicherlich nicht. Doch genau das ist eines der beiden Gesichter Kolumbiens. Irgendwie wirkt im Norden Barranquillas alles sauber, geregelt und aufgeräumt. Der moderne Transmetro lässt einem direkt am Eingang des Shopping Centers Buenavista aussteigen, man setzt sich in eines der klimatisierten Kaffes in der Mall, klappt den sündteuren Laptop ohne Bedenken auf, da das Sicherheitspersonal nur zwei Meter weiter patrouilliert und versucht einen Artikel über Ungerechtigkeit zu schreiben. Paradox, aber trotzdem will ich es versuchen.

La_guajira

Schon ziemlich früh wurde mir klar: Hier in Kolumbien leben wir wie in einer Blase des Wohlstands. Miramar und Buenavista, die reichen Viertel im Norden, in denen die meisten Austauschstudenten untergekommen sind, entsprechen nicht der kolumbianischen Realität. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man anfängt hier in Baranquilla Zeitung zu lesen. Vor einigen Woche wurden fünf indigene Kinder von der Halbinsel „La Guajira“ ins Krankenhaus in Baranquilla eingeliefert. Der Grund: Unterernährung. Leider sind das keine Einzelfälle. Angeblich sind allein in diesem Jahr mehr als 10 Kinder und Säuglinge in unmittelbarer Nähe von Baranquilla verhungert. In der Region gilt es laut eines Artikels in derselben Zeitung (ADN) als Erfolg, dass 90% der Bevölkerung Zugang zu frischem Wasser haben. Der für La Guajira verantwortliche Bürgermeister hat, angesichts dieser humanitären Katastrophe, schon internationale Hilfsorganisationen dazu aufgerufen zu helfen.

Doch man muss gar nicht unbedingt in die großen politischen Zusammenhänge einsteigen, um die sozial prekären Verhältnisse in Kolumbien ein wenig zu beleuchten. Schon während meiner ersten Tage hier in Baranquilla ist mir aufgefallen, dass in den Supermärkten die Preise für Lebensmittel, den unsrigen gleichen und zum Beispiel Hygiene Produkte um einiges teurer sind. Und das in einem Staat in dem der „Minimo“, also der Mindestlohn, obwohl das es nicht ganz trifft, unter 700.000 Pesos liegt. Das entspricht keinen 200 € und würde nicht einmal meine Miete hier bezahlen.

Die Arbeitslosigkeit in Kolumbien ist hoch – konstant seit Jahren bei ungefähr 10 % – und der informelle Sektor riesig. Zu diesem gehört zum Beispiel die Dame, die an meiner Ecke ausnahmslos jeden Abend Hamburger und Perros Calientes auf einem mobilen Grill zubereitet. Oder der ältere Herr, bei dem ich morgens meine Ausgabe des „El Heraldo“ und einen „Tinto“ kaufe. Auch im Bus zur Universität komme ich jeden Tag mit dem informellen Sektor in Kontakt. Ambulante Verkäufer bieten Kaugummis, Süßigkeiten oder Pasten aus Coca und Marihuana an. Hin und wieder steigen Künstler zu, die rappen oder singen, sogar eine sehr amüsante Comedy Show wurde mir schon geboten. Sie alle werden nicht müde, zu betonen, dass dies ihre „Arbeit“ ist und es ihnen hilft, ihre Familien durchzubringen und zu überleben.

Die wohl offensichtlichste Ausprägung des informellen Sektors in Baranquilla sind die Mototaxis. Die Motoräder sind günstiger als normale Taxis und bei Baranquilleros augenscheinlich sehr beliebt. Trotzdem sind sie eigentlich verboten. Es gibt so gut wie keine Regularien, die Fahrer zahlen keine Steuern und haben keine Sicherheiten. Als die Regierung hier in Baranquilla versuchte, wenigstens das Fahrverbot für Mototaxis in weiten Teilen der Stadt durchzusetzen, kam es zu heftigen Protesten. Aus Angst um ihre Existenzgrundlage blockierten Fahrer und Motorräder das wohl modernste Fortbewegungsmittel der Metropole: Den Transmetro. Den Medien gegenüber argumentierten sie: „Wir ernähren so unsere Familien, wenn wir nicht mehr fahren dürfen, sind wir am Ende.“

Doch warum arbeiten so viele Menschen hier im informellen Sektor? Warum geben sich viele der Illegalität, oder sogar dem Verbrechen hin? Die Antworten auf diese Fragen sind sicherlich nicht einfach, lassen sich aber relativ kurz zusammenfassen: Es fehlt am Einfluss des Staates, Grundbedürfnisse sind oft nicht gedeckt und Aufstiegschancen kaum in Reichweite. Illegalität und informelle Arbeit sichern das überleben, oder um es in den knappen Worten eines Politikdozenten an der Uninorte zu sagen: „Das Verbrechen füllt deinen Teller.“

Es muss einen Grund haben, dass viele Junge Menschen nicht aus den Verhältnissen ausbrechen können, in die sie geboren werden. Natürlich liegt die Bringschuld hier eigentlich in der Schule. Bildung wäre die einzige Möglichkeit, aufzusteigen. Aber Bildung ist in Kolumbien ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann. Mit leerem Bauch lernt es sich schlecht, so viel ist sicher und auch viele Minderjährige kümmern sich lieber um ihr täglich Brot, als Zeit an der Schulbank zu vergeuden. Ein krasses Beispiel: Eine Schule im Süden der Stadt. Das Gebäude liegt direkt neben einem stehenden Gewässer, hat natürlich keine Klima Anlage und ist so oder so marode. Was den Unterricht allerdings unmöglich macht, sind die Moskitos, die gegen Nachmittag in Schwärmen aufsteigen und die Hitze. Die Schule bleibt zu dieser Zeit deshalb geschlossen und die Kinder stromern unbeaufsichtigt durch das Viertel, da die meisten Eltern Vollzeit arbeiten müssen. In Deutschland eine unmögliche Vorstellung.

Schlechte Bildung, keine Aufstiegschancen, Armut. So entwickelt sich der Süden von Baranquilla zu einem gefährlichen Pflaster. Das Fehlen von Perspektive treibt viele Menschen zu Illegalität und Kriminalität. Unterhalb der 30. Straße passiert ein Großteil der Morde und vor Soledad, der Gemeinde im Süden, wurden die Austauschstudenten schon in der Einführungswoche gewarnt. Zwar druckste der Coronel der Polizei während des kurzen Sicherheitsbriefings etwas herum und betonte immer wieder das BQ ja eigentlich sicher ist, doch die Message war klar: Geht nicht in den Süden, schon gar nicht abends und allein.

Ich muss feststellen, dass in diesem Beitrag mehr Fragen offen bleiben, als beantwortet werden. Die wichtigste Frage ist jedoch: Was läuft hier falsch? Dass Geld und Ressource da sind, ist offensichtlich, wenn man sich die besser gestellten Viertel in Bogotá, Medellín, Bucaramanga oder eben Baranquilla anschaut. Auch einer meiner kolumbianischen Freunde hier wird nicht müde zu betonen, dass Kolumbien kein armes Land ist und ich stimme ihm gerne zu.

Doch die Frage bleibt: Warum tut sich nichts? Warum gibt es keine politischen Langzeitstrategien, warum keine Maßnahmen, die Schere zu schließen und die Ungleichheit zu bekämpfen? Das Problem liegt im politischen System Kolumbiens. Noch immer gibt es nur zwei große politische Lager: Das konservative und das liberale, andere Stimme wurden im vergangenen Jahrhundert mit Gewalt unterdrückt und sind noch immer nicht laut. Über Jahrzehnte war es Gang und Gebe, dass sich die beiden Parteien an der Regierung abwechselten. Daraus folgte allerdings, dass alle Maßnahmen, die während einer Legislaturperiode in die Wege geleitet wurden, in der andern nichts mehr wert waren. So stagnierte Kolumbien und Fortschritt fand nur dort statt, wo man einfach und schnell politisch tätig werden konnte, beziehungsweise dort, wo man sich etwas von seinen Investitionen versprach. An die Problemzonen traute sich kaum jemand, da sie kurzfristig keinen Erfolg versprachen.

Abschließend vielleicht ein paar positive Worte: Mir und vielen anderen geht es hier in Kolumbien prächtig. In diesem Beitrag klingt es zwar nicht so, doch es gibt auch positive Zeichen. Vor allem private Stiftungen und Universitäten versuchen zu helfen, wo sie können. An der Uninorte gibt es zum Beispiel einige Programme, die Bildung in die benachteiligten Viertel bringen und gleichzeitig versuchen, den Studenten die Augen zu öffnen. Das ist wichtig, denn – wie es Direktor Bayona schon zu Anfang des Semesters betonte – sie werden die sein, die Kolumbiens Zukunft gestalten.

Über den Autor Tobias: Eigentlich ein ganz normaler Student an der Uni Augsburg, mit einer besonderen Vorliebe für Bücher, Berge, Badminton und Südamerika. Im moment studiere ich in Baranquilla und schreibe meinen eigenen kleinen Blog, der nur zufällig wie eine britische Kinderserie heißt. In Zukunft kennt man mich entweder als Superstar, Reisejournalist oder doch nur als den coolen Englischlehrer der 8b.

Schaut doch auch mal auf seinem Blog http://www.friendly-giant.com/

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