Ich kenne das konservative Milieu aus meinem Elternhaus und weiß es nach wie vor zu schätzen. Keineswegs werfe ich rechts und rechtsextrem, konservativ und faschistisch in einen Topf oder mit finsteren Verdächtigungen um mich. Das tun vielmehr Sie und Ihre Parteifreunde, die sich häufig in einer Weise ausdrücken, die die nach 1945 allmählich gezogenen Grenzen des politischen Anstands überschreitet. Andersdenkende werden von AfD-Politikern als "Volksfeinde" denunziert. Wenn Sie wirklich ein Konservativer sein wollen, müssen Sie diese Partei unverzüglich verlassen. Und mit Ihrem Rücktritt verbunden sein müsste die Aufklärung über das wahre Gesicht des "gärigen Haufens" (Gauland), der nach 2013 immer stärker in den völkisch-autoritären Nationalismus abgedriftet ist. Besonders in den sozialen Medien lebt eine faschistische Rhetorik auf, die sich nicht länger als sprachliche Entgleisung entschuldigen lässt. Und ich weiß aus sicherer Quelle, wie in Ihrem Ortsverein und seitens der Abgeordneten, die Sie nach Berlin und in den entsandt haben, geredet wird, wenn diese glauben, kein kritisches Ohr höre zu. Kostprobe: "Je mehr Migranten ersaufen, desto eher begreifen selbst afrikanische Ziegenhirten, dass es sich nicht lohnt, nach Europa aufzubrechen." Nur ein Ausrutscher eines schwäbischen Kreisverbands? Nein. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses im Bundestag, Ihr Parteikollege, hat Angela Merkel in einer E-Mail allen Ernstes als Nutte bezeichnet. Dieser Neuauflage des Wörterbuchs des Unmenschen, das Dolf Sternberger, ein gestandener Konservativer, nach dem Krieg zur Rettung des Deutschen vor der NS-Sprache zusammengetragen hat, entspringen auch die wohlkalkulierten Einlassungen von Alexander Gauland zu den NS-Verbrechen als "Vogelschiss", zu Jérôme Boateng als ungeliebtem Nachbarn und zum "Entsorgen" einer Deutschen türkischer Herkunft nach Anatolien. Genau wie die Vorfreude des "AfD-Intellektuellen" Marc Jongen auf die "Entsiffung" des Kulturbetriebs und sein Vorschlag, das Abstammungsprinzip wieder einzuführen, und Björn Höckes Ankündigung, den angeblichen "Sumpf der Zivilgesellschaft trockenzulegen". Damit zielen die drei unter anderem auf einen "Multikulti"-Typen wie mich. Mein Problem? Geschenkt. Aber wieso lassen Sie als Konservativer zu, dass Autoritäten wie Kanzlerin und Bundespräsident, auch Institutionen wie Gerichte in den Dreck gezogen werden? (Claus Leggewie, Die Zeit)
Den Rechtspopulisten und Rechtsextremisten solange das Label "konservativ" beinahe kampflos zu überlassen haben ist eine der größeren taktischen Fehlleistungen der CDU/CSU der letzten Jahre. Das ist relativ leicht erklärbar, weil der Begriff mittlerweile ähnlich sinnentleert ist wie "neoliberal" oder "bürgerlich" - ein Kampfbegriff oder Label, unter dem sich alles und nichts verbirgt. Es ist wie so häufig in der politischen Kommunikation Schrödingers Zuschreibung; sobald man es genauer wissen will, entzieht es sich der genaueren Betrachtung. Das machen sich Hetzer wie Gauland oder Maaßen zunutze, indem sie ihre extremistischen Positionen durch Einkleiden in alt-ehrwürdige Begriffe in die Mitte platzieren wollen. Die LINKE hat ja durch die weitgehende Aufgabe des Labels "links" durch die SPD seinerseits (mit eher durchwachsenem Erfolg) etwas Ähnliches unternommen.
Deswegen ist es aber gerade wichtig, dass jene zurückschieben, die dieses Label eigentlich für sich beanspruchen. Wenn ich sage, dass die AfD nicht konservativ ist - wen interessiert das? Ich bin es ja auch nicht. Ich habe keinen echten Einsatz in dieser Debatte; das müssen die Leute tun, die das Label für sich beanspruchen, die Merz', Laschets, Seehofes, Söders. Der SDS diskutierte ja die Grenzen des Marxismus in der Demokratie auch nicht mit Rainer Barzel, sondern mit Willy Brandt. Diese Grenzen zu definieren ist die Aufgabe der Konservativen, unsereins kann da nur der Cheerleader von der Seite sein und zum Einsatz mahnen. Bleibt diese Abgrenzung aus, werden wir noch viel mehr Grenzverschiebungen von der Marke Thüringen, Gauland oder Maaßen sehen, und mit ihnen ein Abrutschen des gesamten rechten Spektrums in Richtung Autoritarismus. Man hat das in diversen anderen Ländern in Echtzeit beobachten können.
Ein letztes Wort zu Maaßen an dieser Stelle: Ich fühle mich nur bei so wenigen meiner Einschätzungen so bestätigt wie bei der zu Maaßen. Was wurde ich hier im Blog dafür kritisiert, dass ich ihn als ungeeignet als Verfassungsschutzchef empfand. Diverse Kommentatoren hier haben mit Zähnen und Klauen seine Lügen zum Chemnitz-Video verteidigt, bis es nicht mehr zu leugnen war. Inzwischen ist Maaßen komplett ins rechtsextreme Spektrum abgedriftet, widerspricht der Behörde, die er vor kurzem noch geleitet hat und leugnet Klimawandel und Corona-Virus gleichermaßen. Die rapide Geschwindigkeit dieses Absturzes in das rechtsextremistische, faktenresistente Spektrum zeigt deutlich, dass der Mann bereits vorher nicht mit beiden Beinen auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stand. Umso lobenswerter die die Arbeit des neuen Verfassungsschutzchefs.
But if we dig into the numbers, some of the bump in Trump's approval rating is coming from changes in Democratic attitudes. A Pew poll, for instance, found that Democratic and Democratic-leaning voters nearly doubled their approval of Trump over the last few weeks, from 7 to 12 percent. It's not a huge change, but it could make the difference between Trump winning or losing in an election which is likely to be close. As has been made abundantly clear, Democratic voters tend to take their cues from Democratic elites. The party rallied around Biden in lockstep right before Super Tuesday, and voters fell in line. Biden won multiple states he has not visited in months and in which he had no campaign offices. And now that he's the probable nominee, Biden is not savaging Trump's response. On the contrary, his campaign says they are hesitant to even criticize him at all. "As much as I dislike Trump and think what a bad job he's doing, there's a danger now that attacking him can backfire on you if you get too far out there. I don't think the public wants to hear criticism of Trump right now," one adviser told Politico. Indeed, Biden has barely been doing anything. As the outbreak became a full-blown crisis, Biden disappeared for almost an entire week. (Ryan Cooper, The Week)Ich halte diese Argumentation für wenig stichhaltig. Auf der einen Seite ist sie ein furchtbarer Zirkelschluss. "Ich berichte nicht über Joe Biden, und dass ich nicht über ihn berichte, zeigt seine Schwäche" ist keine sonderlich überzeugende Argumentationsstruktur. Der Mann und sein Wahlkampfteam hauen jeden Tag Attacken gegen Trumps Krisenmanagment raus. Nur hat er dasselbe Problem wie Hillary 2016: Wenn ein Baum im Wald umfällt und keiner kriegt es mit, fiel er dann um? Du kannst noch so viel über ein Thema reden, ohne mediale Multiplikatoren geht gar nichts. Und die hat Biden aktuell genauso wenig wie Hillary seinerzeit. Berichtet wird über ihn allenfalls negativ, wenn er was verkackt, alles andere geht unter. Unter diesen Umständen ist es besser, wenn er weniger in Erscheinung tritt. Krisenzeiten wie diese sind einfach generell blöd für Oppositionspolitiker, ich hatte das erst kürzlich beschrieben. Niemand interessiert, was Joe Biden im Januar 2021 tun würde, wenn er denn im November gewänne. Die Aufmerksamkeit ist auf dem Hier und Jetzt, und da ist Trump Präsident. Hierzulande interessiert auch keine Sau mehr, ob Merz oder Laschet die besseren Bannerträger des Konservatismus' sind, sondern was Merkel tut. Krisenzeiten sind Exekutivzeiten. Aber davon abgesehen will ich den Hauptpunkt noch einmal untermauern: Es ist alles eine Frage des earned media. Würde man über Biden berichten, wäre er präsenter. Man berichtet aber nicht, und deswegen ist er nicht präsent. Wir leben in einer Mediendemokratie, und die permanente Weigerung der Medien, ihre eigene Stellung und Macht anzuerkennen ist nur noch frustrierend.
4) How Donald Trump Could Steal the Election // Preparing for the Pandemic Elections
Could states really deprive Americans of the right to vote for their president? In Bush v. Gore, a conservative majority on the Supreme Court held that the state "can take back the power to appoint electors" at any time. And the Court is even more conservative today than it was in 2000, as Justice Brett Kavanaugh has replaced Justice Anthony Kennedy. The more complicated question is not whether states can do this, but whether they would. Republican lawmakers have been steadfastly loyal to Trump throughout his tumultuous tenure. If Trump were to ask states to appoint electors instead of having an election, they certainly might follow his request, especially those states where the president enjoys wide popularity. In 24 of the 30 states with Republican legislatures, a majority of people approve of the president's job performance, according to last month's Gallup survey. Those states control 224 electoral votes-enough to throw the election's results into doubt. States could also wreak havoc on the election by not taking steps now to prepare for voting during a pandemic. If only a few states allowed their legislatures to appoint electors, or postponed electoral selection indefinitely, the November election could result in no candidate receiving a majority of electoral-college votes. This is a real concern. If no candidate wins a majority of electors, the Twelfth Amendment empowers the House of Representatives to decide who will be president. Although the House is controlled by Democrats, predicting the outcome is not that simple. The Amendment requires the House to choose the president by voting as states, not as individual members. So, instead of 435 individual votes, there would be 50 state votes. The Amendment does not say how the representatives for each state should decide their state's vote. If the current House were tasked with selecting the next president, and states with more Republicans than Democrats in their delegationvoted for Trump, he would win 25 votes. Twenty-three states have more Democratic House members than Republican, so the Democratic candidate would likely receive 23 votes. Florida and Pennsylvania are evenly split between Democrats and Republicans, leaving their presidential votes up in the air. (Jeffrey Davis, The Atlantic)
According to the Constitution, a state of emergency would mean that the upcoming presidential elections had to be postponed. The Constitution requires in a state of emergency elections cannot be held earlier than 90 days after the formal ending of that state (Art. 228 (7)). Wojciech Sadurski proved how this unfair conditions work in favour the current president, since other candidates cannot run their campaigns (which already should make the government wary of future protests after holding elections). As a recent poll shows, the incumbent Andrzej Duda could even win in the first round - though with a voting turnout of merely 31% (the turnout does not affect the validity of the elections). (Katarzyna Nowicka, Verfassungsblog)
Sowohl an den USA als auch an Polen können wir gut sehen, welche große Bedrohung von rechtsautoritären Regierungschefs in dieser Krise ausgeht ( Ungarn hatten wir ja schon). Es ist alles, aber sicher nicht abwegig, dass Trump oder Duda (mit Hilfe Kaczinskys) die Krisenlage nutzen, um die kommenden Wahlen zu sabotieren. Die Republicans tun das bereits seit Jahren mit mehr oder weniger großem Erfolg, und unter Deckung der Krise mögen sie hoffen, mit noch mehr Mist als ohnehin üblich durchzukommen. Und auch in Polen sind seitens der rechten PiS seit Jahren zahlreiche Verstöße gegen die rechtsstaatliche Ordnung dokumentiert, von der Ausschaltung der Judikative zu Wahlverzerrungen. So wie ich die Democrats kenne, würden die eine neue, gesteigerte Variante von Bush v Gore einfach hinnehmen und höflich bei der Amtseinführung klatschen. Aber vielleicht auch nicht. Und welcher Moment könnte geeigneter für eine Verfassungskrise mit unklaren Amtsinhabern und Zuständigkeiten sein als eine Pandemie...? Die brutale Verantwortungslosigkeit dieser Leute ist atemberaubend.
Gerade in der jetzigen Situation, in der wir mit einer Bedrohungslage konfrontiert sind, deren genaue Zusammenhänge die wenigsten von uns wirklich nachvollziehen können, ist diese Auseinandersetzung aber noch aus einem anderen Grund von besonderer Bedeutung. Denn in den letzten Jahren haben wir uns immer stärker daran gewöhnt, politische Entscheidungen als alternativlos zu begreifen - unter anderem auch deshalb, weil sie wissenschaftlich vorherbestimmt zu sein schienen. Ein solcher Rückzug auf das Unvermeidliche ist deshalb in gewisser Weise bequem, weil man sich so nicht dem mühsamen und oft unangenehmen Widerstreit der Meinungen aussetzen muss. Einem demokratischen Prozess entspricht er jedoch nicht. Denn selbst dann, wenn alle anderen Lösungen als unvernünftig, irrational oder auch hochgradig unethisch erscheinen, müssen genau diese Wertungen erläutert und offengelegt werden, um demokratische Legitimität zu erzeugen. Die Corona-Pandemie führt uns die Problematik einer Politik der Alternativlosigkeit nun deshalb besonders drastisch vor Augen, weil sich hier niemand auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zurückziehen kann, um seine Entscheidungen unangreifbar zu machen. Da es sich um einen neuen Virus handelt, zu dem die Forschung noch ganz am Anfang steht, können uns die Virologen und Epidemiologen keine verbindlichen, über alle Zweifel erhabenen wissenschaftlichen Handlungsanweisungen geben - und kommunizieren dies zum Glück auch offen. Das bedeutet für uns als demokratische Gemeinschaft, dass wir wieder lernen müssen, mit den Unsicherheiten und Ungewissheiten demokratischer Entscheidungen zu leben, die jetzt trotz dieser wissenschaftlichen Uneindeutigkeiten getroffen werden müssen. Wie Uwe Volkmann schreibt, werden wir erst hinterher wissen, ob wir richtig gehandelt haben. (Sophie Schönberger, Verfassungsblog)
Auf die Alternativlosigkeit als rhetorisches Mittel wird ja bereits seit Jahren eingeprügelt. Bisher waren es vornehmlich Progressive, die sich damit des ordoliberalen Credos zu erwehren hofften; plötzlich beklagen vor allem Liberale die propagierte Alternativlosigkeit der Corona-Krisenpolitik. Da wird man plötzlich Bettgenossen.
Abseits dieser politkommunikatorischen Seitenbemerkung: Grundsätzlich hat Schönberger völlig Recht. Ein differenzierter Diskurs wäre natürlich toll, Unsicherheiten, Relativierungen, das wäre alles klasse. Nur gilt genauso wie bei dem Evergreen der Forderung nach weniger Lügen in der Politik: Sagen Politiker die Wahrheit, werden sie abgewählt. Reden sie nicht in eingeübten Worthülsen, sondern so offen, wie man es von ihnen fordert, werden sie abgewählt. Differenzieren sie und lassen Unsicherheiten zu, werden sie abgewählt. Die Medien (damit wären wir wieder bei Fundstück 3) bestrafen jeden Politiker, der auch nur ein Jota von nichtssagenden Wortblasen abrückt mit tagelangem Negativschlagzeilenbombardement. Werden klare Absichtsmaßnahmen bekannt gegeben, gibt es harten und unnachgiebigen Widerstand. Wird differenziert und Unsicherheit zugelassen, gilt das als Ausweis von Inkompetenz. Solange das so ist werden die Politiker sich nach dem richten, was in einer Mediendemokratie gefragt ist: nebulöse Unverbindlichkeit, Lavieren und das Durchführen von Maßnahmen ohne große vorherige Diskussion. Wer das ändern will, muss einerseits in den Spiegel schauen und andererseits endlich aufhören, Anne Will zu schauen (Pars pro Toto).
It is shocking to see just how low the Trump Administration has brought American democracy in a few short years. Holding aid to an ally hostage in order to invent dirt on a Democratic opponent was alarming enough to force the hand of Democratic leaders to impeach the president even though it was clear they didn't actually want to. And conservative policy has always generally been hostile to the lives, health and voting rights of people it doesn't consider part of the Republican coalition. But the prospect of an American president using vital resources in a pandemic to curry political favor, keep his supporters alive and let his opponents die in the thousands is something unprecedented in all of American history. And the Trump administration is rapidly approaching that point, if it has not done so already [...] But what do we do if they only start taking it seriously on behalf of their constituents. What if the White House simply gives all the masks and ventilators to red states and counties, leaving blue ones to struggle? What mechanisms of accountability are left? American democracy wasn't set up to deal with a president openly behaving like a James Bond villain while being protected by a political party behaving more like a mafia than a civic institution. If there aren't 67 Senators to convict after an impeachment and the president's cabinet is aligned with the plan, what recourse remains to people who live in places that the president doesn't consider to be part of "his" America? There are few options that don't lead directly to a massive constitutional crisis. (David Atkins, Washington Monthly)Genauso wie bei dem in Fundstück 4 angesprochenen Szenario eines groß angelegten Wahlbetrugs muss man leider feststellen, dass auch dieses alles, aber nicht undenkbar ist. Während ein Obama durch seine gesamte Präsidentschaft hindurch versuchte, möglichst viel Aufbauarbeit in roten Staaten zu leisten, weil die blauen die Probleme überwiegend selbst bewältigen konnten, versucht Trump bereits durch seine gesamte Präsidentschaft hindurch, die blauen Staaten dafür zu bestrafen, dass sie 2016 gegen ihn gestimmt haben. Besondere Zentren seiner infantilen Wut sind Kalifornien und New York. Das führt zu gefährlichen Absurditäten wie der Ankündigung, New York abriegeln zu wollen, die vermutlich durch Hollywood-Filme induziert sind und bei denen Trump erkennen lässt, dass ihm unklar ist, dass New York ein Flächenstaat ist und dass dessen Hauptstadt Albany und mitnichten New York City ist. All das ist angesichts dessen, dass Trump aus dieser Stadt kommt, umso bemerkenswerter. Aber jenseits dieses Beispiels aus dem Genre "mein Gott, der Mann weiß wirklich gar nichts" stehen wir dem realen Problem gegenüber, dass Trump bereit ist, Entscheidungen über Leben und Tod nach Parteizugehörigkeit zu treffen. Wo hierzulande furchtbare ethische Entscheidungen zur Triage erwogen und mit Ethikräten und großen Diskussionen abgestimmt werden, ist im Weißen Haus die Sache klar. Wer im November für Trump stimmt, wird gerettet, wer gegen ihn stimmt, kann verrecken. Das Ausmaß an schierer Niedertracht dieser Leute ist immer wieder atemberaubend, und wenn man gerade dachte, die Latte könne eigentlich gar nicht mehr tiefer gehängt werden, dann buddeln die ein neues Loch.
7) Droht eine Revolution der Mittelschicht?
Schon der französische Historiker Alexis de Tocqueville lehrte, dass die Bürger eines Staates in Phasen langen Wohlstands immer empfindlicher gegenüber Zumutungen werden, die sie als ungerecht empfinden. Daraus folgt: Revolutionen finden nicht dann statt, wenn es den Menschen am schlechtesten geht. Sie neigen dazu, wenn auf eine lange Periode großen Wohlstands ein plötzlicher Einbruch stattfindet. Der deutsche Soziologe Theodor Geiger erkannte in der politischen Radikalisierung im Deutschland der Dreißigerjahre eine Reaktion der Mittelschicht auf ihren gesellschaftlichen Absturz in der Weltwirtschaftskrise. Der US-Politologe Samuel Huntington war der Ansicht, dass die Mittelschichten zur Radikalisierung tendieren, wenn sie die Sorge umtreibt, im Vergleich zu anderen Gruppen ihren gesellschaftlichen Status zu verlieren. Und der US-Politologe Francis Fukuyama erinnerte jüngst daran, dass der gesellschaftliche Abstieg von Mittelschichten ein Treiber aggressiver Polarisierung sei. [...] Denn die Radikalisierung oder gar der Zusammenbruch politisch geordneter Verhältnisse kann auch unfassbares Leid auslösen. Eine zentrale Voraussetzung dafür, dass wir als Staat, Gesellschaft und Volkswirtschaft die Coronakrise heil überstehen, wird also ein neues Augenmerk auf die Mittelschicht in Deutschland sein. Klaglos hat sie über Jahrzehnte dafür gesorgt, dass der Staat mit Steuern und Abgaben auskömmlich versorgt wird, um Infrastruktur, Bildung und sozialen Ausgleich zu finanzieren. Dazu gehört der Kfz-Mechatroniker wie die Einzelhandelskauffrau, der Bauarbeiter wie die Polizistin, der Lehrer wie der Unternehmer oder die Freiberuflerin. In den letzten Jahren haben sie kaum eine Rolle in der Politik gespielt. Dort dominierten gewaltige Rentenpakete und die Ausweitung von Sozialleistungen. Wenn die deutsche Mittelschicht den Eindruck erlangen sollte, dass ihre Belange und Bedürfnisse angesichts der Bedrohung ihrer sozialen Lage nicht ins Zentrum der deutschen Politik rücken und dort zu einer klaren Änderung der Prioritäten führen, dann soll kein verantwortlicher Politiker behaupten, er habe nicht wissen können, was dann geschieht. Dann liegt irgendwann Revolution in der Luft. (Marco Buschmann, SpiegelOnline)Dieser Artikel eines Abgeordneten der FDP hat bereits auf Twitter viel Spott auf sich gezogen. Angesichts der Inkohärenz der Argumentation und der parteipropagandistisch gefärbten Brille Buschmanns ist das auch verdient, obwohl die Grundthese selbst spannend ist. Bevor wir uns ihr zuwenden, noch kurz ein Kommentar zu Buschmann selbst. Er benutzt den üblichen FDP-Trick, "Mittelschicht" als Synonym für "Mittelstand" zu gebrauchen, als ob beides dasselbe wäre. Das funktioniert für die Partei seit Jahrzehnten mit großem Erfolg, von daher gibt es wenig Grund für Buschmann, darauf zu verzichten. Quatsch bleibt es dennoch, denn die letzten Reformen des Sozialstaats, die er hier kritisiert (wie eine hängengebliebene Schallplatte, als hätte das was mit Corona zu tun) kamen ja gerade der Mittelschicht zugute. Für die Unterschicht sind die Rentenreformen alle bedeutungslos, weil ihre Ansprüche so oder so unter dem Mindestsatz bleiben und sie alimentiert werden müssen; da ändert sich allenfalls die zuständige Kasse (etwas mehr Rentenversicherung, etwas weniger Sozialhilfe). Stören tun sich daran diejenigen, die den Arbeitgeberanteil bezahlen - der Mittelstand, dessen Verärgerung über diese Maßnahmen durchaus nachvollziehbar ist, der aber keinesfalls synonym mit der Mittelschicht steht. Damit aber zur eigentlichen These Buschmanns, die er sofort wegen seiner parteipolitischen Reflexe bis zur Unkenntlichkeit zerfasert: Dass die Gefahr in einer ökonomisch schwerwiegenden Krise wie der aktuellen von einer Revolte der Mittelschicht ausgeht. Historisch gesehen ist das Argument solide; es waren die Kleinbürger, die Hitler zur Macht verhalfen, nicht die Arbeitslosen oder Arbeiter (die wählten, wenn sie extremistisch wählten, die KPD). Wir sehen das ja auch an der AfD; die wird schließlich auch nicht mehrheitlich von den Arbeitslosen Ostdeutschlands gewählt (die bleiben den Urnen fern), sondern von den Kleinbürgern. Hier liegt Buschmann daher richtig. Ich sehe allerdings aktuell keine Gefahr für eine Revolution. Eine Revolution zu was und gegen was auch? Auch wenn die FDP das aktuell nicht so wirklich einsehen mag, so sind die Distanzierungsmaßnahmen schlichtweg notwendig, und diese Notwendigkeit wird von der Bevölkerung auch weitgehend eingesehen (einige Irrlichter bestätigen die Regel). Je schlimmer die Lage wird - und alles deutet daraufhin, dass der Tiefpunkt noch nicht erreicht ist - desto eher wird der Ruf nach mehr, nicht nach weniger Maßnahmen kommen. Und genauso wird die Mittelschicht dann nach Kompensation für ihre Wohlstandsverluste schreien, und die demokratische Politik ist heute nicht so bescheuert wie 1930. Diese Kompensation wird gewährt, das sehen wir ja an den Krisenmaßnahmen aktuell schon. Dass das ordoliberale Herz da Schnappatmung bekommt ist klar, aber man sollte nicht glauben, dass die FDP-Weltsicht in signifikant mehr als 5% der Bevölkerung geteilt wird. Und ja, dasselbe gilt für die Fantasien von der Überwindung des Kapitalismus auf der Linken, bevor jemand fragt.
8) Systemrelevant und dennoch kaum anerkannt: Das Lohn- und Prestigeniveau unverzichtbarer Berufe in Zeiten von Corona
Zusammen betrachtet weisen die systemrelevanten Berufsgruppen ein um rund fünf Punkte geringeres Prestige auf als der Gesamtdurchschnitt aller Berufe, der bei 63 von 200 maximal möglichen Punkten liegt (Abbildung 1). [...] Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Entlohnung (Abbildung 2). So wird ein Großteil der Beschäftigten in systemrelevanten Berufen unterdurchschnittlich bezahlt. Während der durchschnittliche Bruttostundenlohn aller Berufe bei 19 Euro liegt, weisen systemrelevante Berufe zusammengenommen einen mittleren Stundenlohn von unter 18 Euro auf und liegen damit rund sieben Prozent unterhalb des Durchschnitts. Zudem sind die Löhne insbesondere in jenen Berufen unterdurchschnittlich, in denen ein hoher Anteil der systemrelevanten ArbeitnehmerInnen tätig ist (beispielsweise Reinigungsberufe, Lagerwirtschafts-, Post- und Zustellungs-, Güterumschlagberufe sowie Erziehungs-, Sozialarbeits- und Heilerziehungsberufe). [...] Eine weitere Ebene der Diskussion um die aktuell systemrelevanten Berufe ist die Frage, zu welchem Anteil Männer und Frauen die unverzichtbaren Tätigkeiten ausüben. Die Betrachtung des Frauenanteils in den einzelnen Berufsgruppen zeigt deutlich, dass jene größtenteils unterdurchschnittlich bezahlten und angesehenen Aufgaben überwiegend von Frauen gestemmt werden. Der Frauenanteil in den systemrelevanten Berufsgruppen insgesamt liegt bei knapp 75 Prozent (Abbildung 4). (Josefine Koebe/Claire Samtleben/Annekatrin Schrenker/Aline Zucco, DIW Berlin)Ich finde die Rede von der Systemrelevanz, wie sie gerade bezüglich der sozialen Berufe und solchen der Logistik benutzt wird, auf düstere Weise erheiternd. Schließlich haben wir Progressiven uns immer furchtbar darüber geärgert, dass Investmentbanker mit dem Etikett geadelt wurden. Man denke nur an Gerhard Schröder im TV-Duell 2002, der Edmund Stoibers Rede von den Leistungsträgern genüsslich damit auseinandernahm, Leistungsträger als Krankenschwestern und Polizisten zu definieren. Bisher war das ein talking point der SPD, den man gerne im Wahlkampf ausgrub und dann überwiegend wieder vergaß. Covid-19 zeigt aber deutlich auf, wie systemrelevant diese Leistungsträger tatsächlich sind - und gibt wenigstens dem- oder derjenigen, die vorher schon ein Auge für so etwas hatte, ein Anschauungsbeispiel für die Ungerechtigkeiten des ganzen Systems. Aus den in Fundstück 7 genannten Gründen glaube ich ehrlich gesagt nicht, dass das sonderlich große Langzeiteffekte haben wird. Aber der plötzliche Blick auf Löhne und Arbeitsbedingungen von Care-Arbeitern, Einzelhandelsangestellten oder Lieferern dürfte trotz allem erhellend sein. Ich möchte an dieser Stelle das Augenmerk vor allem auf den gigantischen Gender-Gap bei diesen Berufen legen, der sicherlich mit maßgeblich für ihre schlechte Bezahlung ist. Tätigkeiten, die weiblich konnotiert sind, werden durch die Bank schlechter bezahlt, und wenige Berufe sind so klar weiblich (oder mit Ausländern!) konnotiert wie Einzelhandel und Pflege. Glücklicherweise gab es hier bereits vor Corona eine starke Trendwende; die Gehälter in diesen Branchen zogen zuletzt (verhältnismäßig) stark an und erlauben es ihren Trägern langsam aber sicher, nicht mehr direkt armutsgefährdet zu sein. Möglicherweise hält sich der Effekt des gesteigerten Prestiges aus der Covid-19-Krise noch länger und verstetigt den Trend zu einer Aufholjagd, in der diese Berufe die Lücke insgesamt verkleinern. Das wäre mehr als nur wünschenswert.
9) The Mega-Bailout Leaves 4 Mega Questions
In 2009, Republicans locked arms in nearly unanimous opposition to an $800 billion economic stimulus bill under President Barack Obama, betting they could force Obama and the Democrats to own the Great Recession by keeping their fingerprints off the response. This time, Democrats provided nearly unanimous support for a $2 trillion coronavirus relief package under President Donald Trump, hammering out a bipartisan compromise to get government money into the economy as quickly as possible. In 2009, the GOP strategy of "no" meant that Obama controlled the policy outcome, but it helped spark a political comeback that eventually led to Republican control of Washington. In 2020, Democrats have tried to advance their policy priorities through negotiations instead of walking away from the table, even though they know Trump's political fortunes depend on economic relief. They certainly helped get the money flowing: The bill went from draft to law in a week, and Trump signed it Friday. But did Democrats achieve their goals by playing ball? A review of the CARES Act that Trump signed Friday suggests Democrats did manage to influence its direction, shifting some of its aid to individuals towards lower-income families, while imposing some conditions on its aid to businesses-changes that Trump is already taking credit for. They also successfully inserted some oversight provisions that Trump has already vowed to ignore. But Republicans won some huge concessions from Democrats, most notably a $500 billion bailout fund for big businesses and a $170 billion tax break for real estate investors like the president. And Democrats didn't get much that Trump didn't actually want in exchange for helping him pour cash into the locked-down economy in an election year. They didn't guarantee vote-by-mail in the November elections, or win any assurances that the Trump administration will start complying with House subpoenas, or get permanent stabilizers that could ensure fiscal support for the economy in future crises even if a Democrat were president. (Michael Grunwald, Politico)Ich möchte an der Stelle vor allem noch einmal auf den gigantischen Unterschied aufmerksam machen, der zwischen Republicans und Democrats im Speziellen und den Republicans und konservativen Parteien im Allgemeinen besteht. Im angesicht einer die gesamte Bevölkerung bedrohenden Krise arbeiten mit Ausnahme der Republicans alle Parteien zusammen und versuchen, der betroffenen Bevölkerung so schnell wie möglich zu helfen. Nur die GOP ist so abartig, millionenfache Abstürze ins Elend oder, im Falle Covid-19s, sogar den Tod, als willkommenes Wahlkampfthema zu begreifen und aktiv zu ergreifen, die dazu dienen, den eigenen Anhängern zu helfen und die gegnerischen Armut und Tod zu überlassen (siehe Fundstück 6).
10) Nationale Reflexe und europäische Solidarität in der Corona-Krise: Starke Institutionen helfen
Dass es in der Krise vor allem auf die Mitgliedstaaten ankommt, ist den EU-Verträgen geschuldet, die der Union im Bereich der öffentlichen Gesundheit (Art. 168 AEUV) nur recht begrenzte Kompetenzen einräumen. Die EU-Institutionen können die Mitgliedstaaten in diesem Politikfeld koordinieren, sie unterstützen und ihnen Empfehlungen geben, aber kaum Vorschriften machen. Und natürlich ist auch der EU-Haushalt viel zu klein, als dass die Union aus eigener Kraft nennenswerte Anstrengungen gegen die Krise unternehmen könnte. Wie so oft in den Krisen der letzten Jahre sind deshalb alle Augen auf den Europäischen Rat gerichtet. Wieder einmal ist die Krise wenigstens teilweise asymmetrisch und Südeuropa (wenigstens für den Moment) stärker betroffen als der Norden. Und wieder einmal geht es vor allem darum, ob die nationalen Regierungen bereit sind, einander beizustehen, oder ob in der Krise jedes Land sich selbst am nächsten ist. Die bisherige Bilanz in diesem Ringen ist, im besten Fall, durchwachsen [...] Doch was in Wirklichkeit geschah, war genau das Gegenteil: Statt Italien zu helfen, verhängten mehrere europäische Länder, die von der Krankheit selbst zwar noch kaum betroffen waren, sich aber Sorgen wegen der Panikkäufe machten, Exportverbote für medizinische Schutzkleidung. Die französische Regierung etwa beschlagnahmte die vorhandenen Bestände an Atemschutzmasken und stellte sie nur noch medizinischem Personal und Kranken in Frankreich zur Verfügung. In Deutschland blieben, noch etwas absurder, Atemschutzmasken im freien Handel verfügbar und damit auch ihre medizinisch weitgehend sinnlose Nutzung durch private Gesunde möglich - aber eben nur innerhalb der Landesgrenzen. [...] Dass auch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nötig sind, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen, war frühzeitig Konsens. Dabei setzte die italienische Regierung (ähnlich wie zuvor China) zunächst vor allem auf eine Abriegelung der am stärksten betroffenen Gebiete. Als sich die Pandemie jedoch weiter ausbreitete, verlegten sich Mitte März einige weniger betroffene Staaten vor allem im Norden und Osten Europas auf eine umgekehrte Strategie: Sie schlossen einseitig die nationalen Grenzen, um Virus draußen zu halten. Der Grenzverkehr für Personen wurde drastisch reduziert, in vielen Fällen durften nur eigene Staatsbürger und Menschen mit besonderen Genehmigungen noch einreisen. Offiziell begründet wurden diese Grenzschließungen oft mit der Notwendigkeit, Personenbewegungen allgemein zu reduzieren, und mit der Behauptung, dass unterschiedlich strenge nationale Regelungen (etwa bei Veranstaltungsverboten) dazu führen würden, dass Menschen auf die andere Seite der Grenze auswichen. Unter Beobachtern stießen die Grenzschließungen jedoch von Anfang an auf Kritik: Da das Virus Mitte März bereits in allen EU-Staaten vorhanden war, spielte der zwischenstaatliche Grenzverkehr für seine Ausbreitung keine so wichtige Rolle mehr, dass solch drastische Maßnahmen gerechtfertigt wären. (Manuel Müller, Der Europäische Föderalist)
Fast noch mehr als der deutsche Förderalismus versagt in diesen Zeiten der Krise die Europäische Union. Wie bereits bei der Griechenlandkrise 2010/11 nehmen hypermoralisierende Zeigefinger-Erheber mit political correctness überhand und verkünden ihre Sprechverbote zu Eurobonds. Ok, genug der ironischen Seitenhiebe. Ich will auf einen Aspekt des obigen Artikels im Besonderen eingehen, nämlich den der völlig sinnlosen Grenzschließungen. So bescheuert die Maßnahmen auch sind, sie machen politisch Sinn. Genauso wie in der Flüchtlingskrise demonstrieren sie die Handlungsfähigkeit des Staates in einer Situation, in der dieser mit traditionellen Instrumenten ohnmächtig ist (die eigentlich viel sinnvollere Abschottung betroffener Gebiete im Inland war zu diesem Zeitpunkt innenpolitisch ja noch nicht zu vermitteln). Grenzschließungen aber sind beinahe mythisch aufgeladen, ironischerweise gerade durch die völlig abgedrehte Flüchtlingsdebatte der letzten Jahre mit ihrer beinahe erotischen Fixierung auf Grenzschutz (kernige Beamte in harten Uniformen und noch härteren Schlagstöcken). Dadurch ist allein die Ankündigung des "Wir schließen die Grenzen!" nach der jahrelangen Diskussion der Impotenz dieser Maßnahme zur Lösung des Flüchtlingsproblems ein Aphrodisiakum der Politik. Und sorgt für fallende Umfragewerte der AfD und steigende Umfragewerte der CDU und der Person ANGELA MERKELS. Wäre es nicht so traurig, man müsste hysterisch lachen.
11) Den Menschen die Wirklichkeit zumuten
Denn politische Kommunikation und politisches Handeln bewegen ganz offensichtlich etwas. Das zeigen die vergangenen Wochen. Der Regierung gelang, was selbst die Warnung aus der Zukunft nicht vermochte. [...] Obwohl die Zumutungen enorm waren, konfrontierte die Politik die Wähler in dieser Woche mit der realen Größe des Problems. Durch klare Sprache und entschiedene Handlungen, die auch immer ein kommunikativer Akt sind. [...] Politik, so ließe sich folgern, kann etwas bewirken. Aber nur, wenn sie die Größe des zu bearbeitenden Problems erkennt, angemessen reagiert und die Notwendigkeit dafür den Menschen vermittelt. In der Klimakrise tut die Regierung das bis heute nicht. Greta Thunberg sagt: Ich will, dass ihr Panik bekommt! Die Bundesregierung vermittelt: Nur keine Panik! In der Coronakrise macht die Regierung Politik als Kunst des Nötigen, und erklärt sie. In der Klimakrise macht sie Politik als Kunst des Möglichen, auch wenn das Mögliche nicht das Nötige ist. Sie redet die Aufgabe klein aus Angst, dass die wahre Größe nicht zumutbar sei, mit dem Ergebnis, dass sie sogar an der zu kleinen Aufgabe scheitert. [...] Aus dem Pariser Abkommen folgt nicht, welcher Staat wie viel CO2 einsparen muss. Aber geht man davon aus, dass jedem Menschen dasselbe CO2-Kontingent zusteht, dann sind die deutschen Klimaziele nicht Paris-kompatibel, wie es Klimaforscher formulieren. Anders gesagt: Die Ziele reichen bei weitem nicht aus. Das sagt die Regierung nur nicht. Und sie handelt auch nicht. [...] Für diese Zurückhaltung gibt es einige Gründe, ein wichtiger ist die Angst, dass die Menschen sich nur mit Änderungen an ihrem Leben anfreunden werden, wenn sie das Gefühl haben, dass das zu erreichende Ziel nicht in allzu großer Ferne liegt. Sie könnten, so die Befürchtung, sonst mit den Achseln zucken und beschließen, es dann gleich ganz zu lassen. Was natürlich niemand weiß, weil die Regierung es nicht einmal versucht hat. [...] Die Coronakrise zeigt gerade, dass womöglich eine gegenteilige Kommunikationsstrategie erfolgreicher sein könnte: Solange man Menschen im Glauben lässt, alles sei nicht so schlimm, so lange machen sie ganz sicher so weiter, als sei alles nicht so schlimm. Und warum sollten sie auch nicht? Erst, wenn ihre gewählten Volksvertreter ihnen eindringlich vermitteln, wie ernst man die Lage nimmt, besteht die Chance, dass die Botschaft durchdringt, erst dann reagieren die Menschen womöglich - und dann sind sie vielleicht sogar bereit, mehr hinzunehmen, als vorher möglich schien. (Jonas Schaible, SpiegelOnline)
Ich möchte Jonas' Essay unbedingt zur ganzen Lektüre empfehlen. Er fasst im Endeffekt alle relevanten Argumente zum Thema zusammen; ich unterstütze seine Argumentation zu 100%. Ob es möglich sein wird, die Corona-Rhetorik danach auf den Klimawandel zu übertragen halte ich allerdings für unwahrscheinlich. Denn meine Arbeitshypothese bleibt, dass der überwältigende Sehnsuchtspunkt der Bevölkerung die Rückkehr zur Normalität ist. Und die Auswirkungen des Klimwandels sind einfach nicht spürbar genug, um analog zu Corona die große Umstellung als Erhalt des Status Quo und konservatives Projekt zu framen - wichtig in einer so strukturkonservativen Gesellschaft wie der deutschen. Aber vielleicht werden wir ja positiv überrascht, wer weiß?