Auch 100 Jahre nach der Erstbegehung stellt den Klassiker am Werfener Hochthron nichts in den Schatten.
Mit klammen Fingern taste ich nach einem Schraubkarabiner, der auf der hinteren Materialschlaufe meines Klettergurts hängt. Ich habe gerade die erste Seillänge beendet und schon sind meine Fingerkuppen taub vor Kälte. Heilfroh, endlich den Standplatz erreicht zu haben, baue ich eine Reihenschaltung auf und schlüpfe in die Handschuhe. Ein sonniger Vormittag hätte es laut Wetterbericht werden sollen. Stattdessen klappern in der Südrampe auf den Werfener Hochthron meine Zähne aufeinander.
Werfener Hochthron Südrampe: Alte Klassiker dürfen nicht vergessen werden
Die Südrampe (IV+) auf den Werfener Hochthron ist ein alpiner Klassiker aus dem Jahr 1896. Precht, Brachmayer und Kollegen haben die Route 2010 saniert und teilweise in etwas besseren Fels verlegt. Seither klettert man zwar immer noch durch brüchige Schluchten und über Grasbänder, dazwischen warten aber traumhafte Verschneidungen und schöne Platten.
Die Absicherung ist weit davon entfernt, was wir Plaisirrouten nennen. Aber die schwierigeren Stellen sind zumindest so mit Bohrhaken abgesichert, dass man sich nicht zu Tode fürchten muss. Klar, die Abstände sind trotzdem weit – aber immerhin klettern wir hier eine Alpintour.
In den vergangenen Jahren stellten die gut abgesicherten Neutouren rund um die Werfener Hütte die Südrampe auf den Hochthron immer mehr in den Schatten. Zu Unrecht, wie ich meine! Denn allein ihre Exposition stellt sicher, dass die Südrampe im rechten Licht leuchtet. Nur eben heute nicht. „Nachkommen“, rufe ich Tom zu und hoffe, dass er zügig klettert und ich mich bald wieder bewegen kann.
Den Einstieg in die Kletterroute haben wir heute schneller gefunden, als bei unserer ersten Begehung vor zwei Jahren. Fünfzehn Gehminuten von der Werfener Hütte entfernt markiert eine Gedenktafel am Wandfuß den Start des 11 Seillängen langen Klassikers im Tennengebirge. Auf den ersten Metern steigt man gleich in eine schöne Platte (III+) ein und kann nach einem kurzen Quergang nach links an der Wand den Standplatz einrichten.
Durch die Südrampe auf den Werfener Hochthron
Jetzt ist man mitten drin in der Südrampe auf den Werfener Hochthron. Tom ist nach wenigen Minuten bei mir und ich reiche ihm die Expressschlingen, die an meinem Gurt verblieben sind. Viele habe ich auf der ersten Seillänge nicht angebaut. Ein wenig neidisch blicke ich die zweite Seillänge hinauf. Tom darf jetzt eine 30 m lange Verschneidung (IV+) vorsteigen.
Zur Rechten plattig – ein guter Tritt geht aber immer her – und zur Linken gestuft, aber teils brüchig. Man steigt also lieber auf die Platte, um dem Sichernden keinen Stein hinabzuschicken. Nach oben hin ist die Verschneidung weniger brüchig und man kann auch riskieren, ein Bein auszuspreizen.
Die Seillänge ist für einen alpinen Mehrseiler recht gut abgesichert. Fürchten muss man sich also nicht, zum Anhalten ist es aber allemal. Eine Genusskletterei eben. Wenn man seine Finger spüren würde zumindest.
Ich steige zügig nach und gehe dann sofort in die dritte Seillänge über. Ganz langsam werden meine Finger warm und das Klettern macht wieder Spaß. Sogar die Sonne kommt jetzt etwas durch.
Auch ich darf eine Verschneidung im vierten Schwierigkeitsgrad angehen, die oben in eine Platte übergeht. Man hält sich am besten gleich etwas rechts und steigt nach vier Zwischensicherungen über eine Kante in brüchiges Gelände hinaus. Diesem folge ich bis zum Fuße einer steilen Platte, wo sich der nächste Standplatz befindet. Stets darauf bedacht, mit dem Seil keine Steine aus der Wand zu fegen, schleiche ich dem Standplatz entgegen.
Auf Verschneidung folgt Platte, folgt Grasband
Sonnenstrahlen brechen durch ein kleines Wolkenfenster. Mein Standplatz liegt im Schatten. Zum Glück ist der große Vorteil des Mastwurfs seine Variabilität. Ich verlängere meine Sicherung, lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen und sichere Tom nach. Es ist seine Aufgabe, die nächste IV+ vorzusteigen. Ich bin stolz auf ihn. In den letzten Monaten hat er sich als Kletterneuling schnell weiterentwickelt. Als wir den Werfener Hochthron das letzte Mal über die Südrampe erstiegen haben, bin ich noch die schwierigeren Seillängen vorgestiegen.
Jetzt klettert er ganz selbstverständlich über den steilen Bauch. Es ist nicht das, was wir als festen Fels bezeichnen würden. Aber man findet mehrere stabile Bänkchen, die man ohne Bedenken belasten kann. Drei Zwischensicherungen sind in der vierten Seillänge anzubringen, bevor man auf ein Grasband trifft und scharf nach rechts abbiegt.
Keinesfalls darf man hier geradeaus weitergehen. Die Route beschreibt eine 90°-Kurve. Zwei weitere Zwischensicherungen entschärfen den Quergang über die noch rutschigen Grasmatten. Mir graut hier selbst im Nachstieg. Klettern sieht für mich anders aus: So wie der Beginn der nächsten und fünften Seillänge. Meine!
Wasserrille und Überlebenskünstler
Was jetzt folgt ist für mich das Schönste der gesamten Tour. Abseits des Gipfels versteht sich. Eine Platte, in deren Mitte eine Wasserrille verläuft. Weniger schön: Vier Bohrhaken und eine Sanduhr auf 40 Metern. Und die Wasserrille ist heute nass.
Weder die sporadische Absicherung, noch die Nässe der Rille sind hier ein Problem. Die Schwierigkeiten übersteigen nie den vierten Grad. Der Fels ist rau und griffig – auf Reibung kann man auch außerhalb der Wasserrille gut steigen. Und scheint die Wand auch noch so leer, kommt irgendwo ein Henkel daher. Aus dem streckt eine Alpen-Kuhschelle ihre weiße Blüte dem spärlichen Licht entgegen. Ja, auch sie weiß, wo man sich gut festhalten kann.
Nach der Platte nimmt man nicht den Standplatz rechts eines kleinen Grates (der gehört zu einer anderen Tour), sondern quert nach links oberhalb des Grasbandes zur Wand hinüber. Der kleine Grat führt dich direkt zum bequemen Standplatz mit Blick auf die Werfener Hütte und über das gesamte Salzachtal. Der Grat ist übrigens einer der schönsten Foto- und Aussichtspunkte der Tour.
Werfener Hochthron: In der Südrampe wird’s brüchig
Die nächsten drei Seillängen (6 bis 8) werden leichter (III+). Dafür nimmt die Gefahr von Steinschlag immer mehr zu und die Orientierung in der Wand fällt uns schwerer. Das Gelände ist unübersichtlich und Zwischensicherungen findet man eher selten. Dafür hebt man ab und zu einen Griff aus der Wand, platziert ihn vorsichtig dort, wo er nicht wegkullern kann und informiert den Kletterpartner, dass er jetzt einen scheinbar guten Henkel weniger zur Verfügung hat.
Zu Beginn der sechsten Seillänge verschwindet der Vorsteiger hinter einer Kante. Man sieht einander nicht mehr. Tom und ich kommunizieren also nur noch verbal miteinander. Ich bin froh darüber, hinter der Kante und nicht in der Steinschlagzone zu stehen. Sind mehrere Seilschaften in der Wand unterwegs, ist besonders im oberen Teil der Route auf Steinschlag zu achten.
Wir sind heute zum Glück allein und das einzige das klappert, sind immer noch meine Zähne. Die Sonne ist wieder verschwunden. Dafür beginnt es leicht zu nieseln und weiter oben sieht es so aus, als segelten vereinzelt Graupel vom Himmeln.
Tom hat den nächsten Standplatz erreicht und ich folge ihm durch einen steilen, brüchigen Kamin. Zuerst findet man auf der rechten Wandseite noch zwei Zwischensicherungen, danach hält man sich aber unbedingt links, überklettert ein paar Absätze und steht kurz darauf vor dem Standplatz.
Werfener Hochthron: Blackout in der Südrampe
Bisher sind wir gut durchgekommen. Haben wenig Zeit verschwendet und der Routenverlauf scheint vom letzten Mal noch fest in unseren Köpfen verankert. Der kurze Überhang (IV), vor dem ich jetzt stehe, kommt mir ebenfalls sehr bekannt vor. Die Griffe sind zur Abwechslung mal nicht locker, sondern stabil verankert. Einmal hoch steigen, ziehen und ich stehe über dem Absatz.
Das war’s schon mit der einzigen technischen Schwierigkeit der siebten Seillänge. Ich marschiere weiter. Eine Rampe stellt sich vor mir auf. Sie ist nicht steil, sondern teilweise mit Gras bewachsen. Zahlreiche lose Steine liegen in der Wand verteilt. Ich blicke nach oben und die Stelle kommt mir absolut unbekannt vor.
Ein Blick auf das Topo verleitet dazu, nach links in steilen Fels einzusteigen. Allerdings soll es vor dem nächsten Standplatz nicht mehr schwerer als II werden. Der Felsabsatz wäre aber deutlich anspruchsvoller. Es muss also geradeaus weitergehen. Zwei Zwischensicherungen sollten noch kommen. Mit Adleraugen suche ich die Wand ab – ohne Erfolg.
Ich will auf keinen Fall in dem brüchigen Gelände hoch und wieder hinabklettern und möglicherweise Steinschlag auslösen. Ich rufe Tom an und frage nach, ob er sich erinnern könne. Immerhin ist er damals hier vorgestiegen. „Eher geradeaus“, meint er. Eigentlich kann es gar nicht anders sein, denke ich dann. Nehme etwas Seil in die Hand, ziehe kräftig nach, komme noch an einem Bohrhaken vorbei und sehe in direkter Linie über mir den rettenden Standplatz.
Endlich wieder klettern
Die achte Seillänge überzeugt ebenso wenig: einfach, brüchig; aber zumindest ist die Wegfindung kein Problem. Wir winden uns durch eine schluchtartige Rinne (III-), immer darauf bedacht, unseren Freunden hinter uns keinen Stein hinabzuschicken.
Am Stand der neunten Seillänge haben wir das Schlimmste hinter uns. Was jetzt kommt ist wieder Klettergenuss. Und ich darf vorsteigen! 52 Meter steht im Topo, zu Beginn eine plattige Verschneidung im oberen vierten Schwierigkeitsgrad. Vom letzten Mal weiß ich, dass sich die Länge mit einem 50m-Seil haarscharf ausgeht.
Befreit von allen Zweifeln steige ich in die Verschneidung ein. Der Fels hält bombenfest dagegen. Ich habe endlich wieder das Gefühl zu Klettern und nicht auf Murmeln zu gehen. Etwa 20 Meter klettere ich in anhaltender Schwierigkeit (IV+) nach oben und freue mich über jeden Zug. Für einen Vierer ist die Platte gar nicht so einfach und die Südrampe auf den Werfener Hochthron hat die Bezeichnung Klettertour wieder verdient.
Neben vier Bohrhaken finde ich in der Platte zwei rostige Schlaghaken. In mir macht sich ein nostalgisches Gefühl breit und ich rufe mir in Erinnerung, warum ich so gerne alte Klassiker klettere. Nicht wegen der technischen Herausforderung, sondern weil solche Routen für mich einen enormen historischen Wert haben.
Noch tief in Gedanken steige ich aus der Platte aus. Bis zum Standplatz muss ich ein paar Meter nach links hinübergehen. „Seil aus“, schreit Tom, als ich gerade einen Schraubkarabiner in den Stand klippe und den Mastwurf einhänge. 50 Meter. Wer sagt’s denn.
Luft unterm Hintern
Himmel und Fels haben immer noch dieselbe Farbe. Grau in Grau. Wir sind mittlerweile ganz oben in der Wand angekommen. Zwei Seillängen fehlen uns noch bis zum Ausstieg. Von dort können wir dann einfach und über wegloses Gelände zum Gipfel klettern.
Die zehnte Seillänge hält noch eine exotische Passage bereit: einen Block, den man akrobatisch umklettern muss. Tom steigt vor. Bald verläuft das Seil zick-zack, aber die Reibung hält sich in Grenzen, weil er bis zum Stand nur vier Zwischensicherungen anbringt.
Als er Stand hat, trage ich uns noch ins Wandbuch ein. Wir sind die ersten, die die 2020-Saison in der Südrampe auf den Werfener Hochthron eröffnen. Ich verstaue das Wandbuch regensicher, baue meinen Standplatz ab und folge dem Seilverlauf nach oben.
Zunächst erweisen sich einige Felsblöcke als locker, der Block aber ist fest verankert und die Henkel an seiner Hinterseite wirken vertrauenswürdig. Ich kralle mir zwei gute, schwinge meinen Hintern um die Kante und presse mich dann durch eine Engstelle zum nächsten Standplatz.
Die Krux des Ausstiegs
Den Begriff Krux verwende ich hier nicht, um eine technische Schwierigkeit zu beschreiben. Das Gefinkelte am Ausstieg ist vielmehr die Wegfindung. Bei unserer ersten Bergfahrt durch die Südrampe auf den Werfener Hochthron vor zwei Jahren haben wir fast eine Stunde damit verbracht, den letzten Standplatz und den Weg zum Gipfel zu finden.
In der elften und letzten Seillänge darf man sich nicht dazu verleiten lassen, zu direkt geradeaus hochzuklettern. Man quert vom Standplatz über einen Bauch und eine keine Rampe nach rechts hinüber, geht dann kurz in gerader Linie nie nach oben, bevor man einer Schwachstelle einfach nach rechts folgt. In der Topo sind auf dem Weg zum letzten Standplatz drei Schlaghaken eingezeichnet. Ich habe dieses Mal auch wieder nur einen davon entdeckt.
Die letzten Meter geht man über flaches, Gras bedecktes Gelände und findet den Standplatz links an einem großen Steinblock. Hier kann man den Kletterpartner gemütlich nachsichern und dann das Seil und die Ausrüstung verstauen. Es fehlen zwar noch etwa 100 Höhenmeter zum Gipfel, diese kann man aber ohne Sicherung meistern.
Südrampe: Endstation Werfener Hochthron
Der Ausstieg bis zum Gipfel ist mit roten Punkten und Anfangs auch mit einem roten Pfeil markiert, der die Richtung angibt. Nach dem Standplatz klettert man durch einen breiten Kamin (darunter befindet sich der rote Pfeil), überwindet noch zwei Felsabsätze und kann dann einfach dem Grat bis zum Gipfel folgen.
Zeit, die wunderschöne Landschaft nach getaner Arbeit auf sich wirken zu lassen. Es ist immer wieder etwas besonders, einen Gipfel auf anderen Wegen als den üblichen zu erreichen.
Tief unter uns zieht die Salzach in weiten Mäandern durch das Salzachtal. Ab und an trübt der Nebel die Sicht, dann reißt wieder ein Fenster auf und wir staunen, wie eindrucksvoll die Natur bei wechselhaftem Wetter wirkt. Das Dunkelgrün der Nadelwälder verschwimmt im Horizont mit den schwarzen Wolken. Aus dem Nebel tritt bald die Silhouette des Gipfelkreuzes hervor.
Drei Stunden nach dem Einstieg in die Südrampe stehen wir ein bisschen müde und zufrieden auf dem Werfener Hochthron. Ganz zu Ende ist dieser Klettertag aber noch nicht. Der Abstieg über den Südgrat (Klettern bis II) erfordert nochmals volle Konzentration. Auch hier müssen wir auf lockere Steine und rutschige Grasbänder achten, bevor wir uns an der Hütte ein Bier bestellen und auf die gelungene Tour anstoßen können.
Tourdaten: Südrampe Werfener Hochthron
- Schwierigkeit: IV+
- Kletterzeit: 3 h
- Klettermeter: ca. 400
- Seillängen: 11
- Zustieg: 900 Höhenmeter (1,5 h)
- Abstieg: über den Südgrat (II) in 2 h