Kirschenpflücken oder Die Perspektiven eines Obstbaumes

Kirschenpflücken oder Die Perspektiven eines Obstbaumes

„Die Sauerkirschen müssen noch gepflückt werden“, sagte die beste Ehefrau von allen, und Ihr Wunsch ist mir wie immer Befehl.

Inzwischen brauchen wir für unseren Kirschbaum eine Leiter, die Zeiten, als er hüfthoch vom Gärtner gekauft und von mir gepflanzt wurde, sind lange vorbei, jetzt ist er schon der Adoleszenz entwachsen und trägt er bereits von Jahr zu Jahr. Also Leiter. Aufstellen, ausrichten, wackeln tuts sowieso, ich bin entspannt und verdränge die Vision vom Absturz und vom Zappeln auf dem Rücken liegend vor dem Baum, der sich derweil scheckig lacht.

Ich überlege, wo beginnen. Erst die tiefen, die unteren, die leicht erreichbaren, das wäre zu einfach, da können die Kinder nachher pflücken. Andererseits: Oben beginnen, da fallen ständig welche runter, auf denen ich nachher beim Untenpflücken drauflatsche. Kirschreste an den Schuhen, Krise bei der Ehefrau angesichts des Küchenbodens. Keine guten Aussichten. Also gut, doch zuerst oben.

Ich platziere die Leiter möglichst stammnah, in der billigen Vorstellung, mich hie und da an einem Ast festhalten zu können, vor allem da die Vision des Absturzes wieder präsenter wird. Aber stelle mal eine Leiter stammnah in einem Kirschbaum – zuviele Äste. Also sammele ich vielleicht außen ganz viel weg, dann kann ich nachher die Äste zur Seite schieben oder binden, ich komme dann höher und näher ran. Guter Gedanke, nur nicht umgesetzt.

Trotz ausgefahrener Körpergröße und langem Arm erreiche ich nicht die Spitzenkirschen, also die im oberen Kronendrittel. Was soll´s, bekommen die Vögel und Insekten auch noch was ab. „Du musst alle absammeln, die schimmeln sonst und machen den Baum kaputt“, höre ich wieder die Ehefrauenstimme dem schlechten Gewissen zureden. Also strecke ich mich ein wenig mehr, die Leiter wackelt ein wenig mehr, aber sie bleibt stehen.

Das Problem Körbchen. Wir haben nur diese Erdbeersammeldinger, die ich entweder mit einer Hand halten muss (aber welche Hand hält dann mich an der Leiter?) oder die ich auf die schmale Plattform der Leiter stelle (was mich 30 Zentimeter Höhenreichweite kostet). Mit einem Schweinehaken in den Baum gehängt? Schöne Idee, aber der Korb wird schnell zu schwer und bekommt Schlagseite, da muß ich ihn doch wieder abstellen.

Ich mag ja gar keine Kirschen. Sie fallen bei mir in die Kategorie nervig, weil mit Kern, und unappetitlich, sobald matschig. Marmelade ist ok, der Geschmack ist brauchbar, das ist auch Ziel dieser Pflückübung heute: Wenigstens zwanzig Gläser für die kommende Frühstückwintersaison. Der Ehefrau gelingen dann auch stets interessante Kombinationen mit Erd-, Stachel- oder Himbeeren, über die man nie äußern darf, sie schmeckten alle ähnlich. Großer Fehler.

Die Kirschen selbst sind noch gut, auch wenn an manchen die Wespen waren, sie stehen im Saft, auch meine Hände inzwischen, ganz wenige haben Schimmel, den ich für mich liebevoll die Pockenpest nenne. Ich plocke die letzteren trotzdem ab und werfe sie zum Nachbarn rüber. lasse sie zu Boden fallen. Sie sollen ja alle runter vom Baum. Ob wohl eine verirrte Pockenpestkirsche die anvisierten Marmeladen für immer verseucht? Ich vertraue auf die Entkernerin im Haus, die bereits fleissige Kirschmatsche produziert.

Langsam arbeite ich mich den Baum herunter, auch da gibt es verschiedene Techniken: Ich könnte den Baum in imaginäre Streifen einteilen, die ich von oben nach unten abarbeite. Dann muss ich nicht so oft die Leiter verrücken. Oder ich mache das in Querschichten, also zunächst alle oben, dann die in der Mitte, dann alle unten. Stichwort: Herunterfallende Kirschen bzw. unten können die Kinder pflücken.

Ich entscheide mich für die Längseinteilung, dann bleibe ich mehr in Bewegung, die Arbeit wird abwechslungsreicher, weil ich an der Leiter schieben kann, und ich behalte vermeintlich besser den Überblick, wo ich schon gepflückt habe. Aber, ein neues Problem zeichnet sich ab: Der Kirschbaum hat verschiedene Perspektiven.

Sobald ich nämlich weiter unten stehe und den Blick wieder nach oben richte, sind da mit einem Mal auf wundersame Weise neue Kirschen nachgewachsen. Ja, noch schlimmer: Diese da ganz oben sind besonders dick und fett, sträflich, sie hängen zu lassen. Dabei war ich vor zwei Minuten noch genau auf dieser Höhe, sie müssen direkt vor meiner Nase gewesen sein, aber verdeckt durch die Blätter, die ich nun von unten nicht mehr sehe. Ich beende also die Schicht im unteren Drittel und klettere wieder ganz hoch.

Ich erwische die dicken fetten Kirschen, ich bin sehr zufrieden, sehe bei der Gelegenheit noch mehrere andere, die ich ebenfalls in dieser Höhe übersehen. Verflixt: Beim Blick von der Leiter nach unten schimmern dunkelrot zig gerade neu entstandene Kirschen im unteren Sektor. Dabei war ich doch da schon fertg! Also wieder zwei Etagen tiefer, auf dem Abstieg schnell noch fünfzig in der Mittelhöhe mitnehmen, die waren eben nicht da, hundertprozentig.

Und so geht es weiter. Meine schöne Systematik ist dahin, das Chaosprinzip überwiegt. Ich pflücke hier, ich pflücke da, ich steige hoch, ich steige ab, ich sehe hie und da neue Kirschen, sie variieren in der Größe, in der Farbe, und – verdammt – in der Position. Hebe ich einen Ast, verwandelt sich diese Stelle in ein Nest von roten Früchten, eine schöne als die andere. Ich kann sie nicht hängenlassen, darf ich auch gar nicht. Sagt die beste Ehefrau von allen.

Jetzt, da ich diesen Blogpost schreibe, eine Woche später, ich schwöre: Beim Blick auf den Kirschbaum im Garten, da, gleich hinter unserer Terrasse, es hängt alles voll mit Kirschen. Kirschen, Kirschen, so weit ich blicken kann. Meine Ehrfurcht vor der Natur weicht meinem praktischen Ich, meinem Destruktivismus. Kirschen, die nicht wachsen können, muss ich im nächsten Frühjahr nicht abernten. Ich muss gleich mal nach der Motorsäge schauen. Wenigstens für das obere Drittel.

Natürlich nicht. Blicke ändern das Erkennen, von der Leiter steigen die Aufsicht, die Durchsicht, die Einsicht. Ich kann mir Sachen konzipieren und planen, richten und vorstellen, im Prozess des Tuns ändert sich alles. Vielfalt und Veränderung, der grosse Kosmos im Kleinen, das pars pro toto. Rote Hände, schmerzender Rücken, Tapsen auf dem Küchenboden. Und im Winter jeden Morgen die Ernte geniessen und den feinen Hauch von Vanille aus der Marmelade herausschmecken.


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