Kindesraub per Gesetz

Erstellt am 22. Dezember 2010 von Vincent Deeg
WAS NÜTZT ES, DEM UNGEHEUER DEN KOPF ABZUSCHLAGEN, WENN DESSEN GIFTZAHN NOCH IMMER TIEF IN DEINEM FLEISCHE STECKT?
(Vincent Deeg)

Vierzehn unendlich lange Jahre waren seit diesem Tag nun schon vergangen. Doch noch immer erinnerte sich Martin, als er aufgeregt und mit zitternden Knien die Treppe des ihm fremden Hausflures hinauf ging, als wäre es erst gestern gewesen. Als wären seitdem gerade erst ein paar Stunden vergangen, als seine Mutter und er ausgelassen durch die, von der warmen Sommersonne in helles Licht getauchte Innenstadt Dresdens spazierten, sich die Auslagen der Schaufenster ansahen und sich das Eis schmecken ließen, das sie zuvor am Hauptbahnhof gekauft hatten. Ein Tag, wie er schöner nicht hätte sein können. Wenn es nicht diesen einen schrecklichen Moment gegeben hätte. Der Moment, in dem plötzlich diese fremden Männer kamen, die sie von allen Seiten umringten. Männer, die den damals erst acht Jahre alten, nicht verstehenden und völlig verängstigten Martin mit brutaler Gewalt von seiner Mutter rissen, bevor sie diese, vor den Augen ihres Kindes mit Handschellen fesselten und bevor sie den kleinen Jungen in eines der am Straßenrand bereitstehenden Fahrzeuge zerrten und ohne eine Erklärung abzugeben mit ihm davon fuhren.
Es war das letzte Mal, das er seine Mutter sehen, das letzte Bild, das ihm von dieser Frau, die er über alles geliebt hatte zur Erinnerung bleiben sollte. Denn Martin wurde nicht nur seiner Mutter entrissen. Er wurde im Namen des Volkes zur Zwangsadoption frei gegeben.
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Eine von der Regierung der DDR verordnete Maßnahme, die für den kleinen Martin nicht nur zu einer wahren Odyssee, sondern auch zu einem, über viele Jahre andauernden Spießrutenlauf werden sollte. Denn nicht nur, dass es sehr schwierig war, einen Jungen seines Alters in eine Pflegefamilie zu vermitteln. Nein. Es handelte sich bei diesem Kind auch noch um eines dieser unbeliebten und wie manche sagten, wertlosen Verräterkinder.
So kam es also, dass Martin, den keiner wollte, für eine sehr lange Zeit in einem der DDR Kinderheime landete. Dort, wo man ihn seiner Herkunft wegen wie einen Aussätzigen, wie ein Kind zweiter Klasse behandelte. Wo man ihn immer wieder schlug, wenn er vor lauter Tränen des Nachts nicht einschlafen, wenn er die Erinnerung, die Sehnsucht nach seiner Mutter nicht verbergen konnte.
Misshandlungen, die Martin aber nicht allein in diesem Kinderheim erfuhr. Sondern auch, wenn man wieder mal eine Pflegefamilie gefunden hatte, in die man ihn, ohne etwas über diese zu wissen abschieben konnte. Menschen, die sich für den Seelenschmerz dieses Kindes nicht interessierten. Leute, die Martin stattdessen beinahe täglich schlugen und erniedrigten, für diverse Diebstähle missbrauchten oder wie einen Arbeitssklaven hielten und wieder zurück schickten, wenn sie mit der billigen Arbeitskraft dieses Verräterbalges nicht zufrieden waren.
Ein Martyrium, das erst 1989, nach neun leidvollen Jahren sein Ende finden sollte. Als die SED ihre Macht verlor, endlich die Mauer fiel und der inzwischen fast erwachsene Martin ein neues, von Verachtung und Diskriminierung freies Leben beginnen konnte. Der Beginn einer besseren Zeit aber auch der Beginn einer jahrelangen Suche nach seiner Mutter.
Eine Suche, die noch weitere fünf lange Jahre dauern sollte und an deren Ende ein Zufall nur dafür sorgte, dass sich Martin und seine Mutter wieder fanden.
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War es Bestimmung, ein Fingerzeig vielleicht oder tatsächlich nur ein Zufall, dass Hedwig Schmidt, eine weit über siebzig Jahre alte Dame ausgerechnet an diesem Vormittag, an dem Martin wieder einmal in der Straße, in der er bis zu seinem achten Lebensjahr gewohnt hatte, die Leute nach dem Verbleib seiner Mutter befragte beschloss, nicht länger auf ihre wieder einmal verspätete Enkelin zu warten und stattdessen allein einkaufen zu gehen?
War es das Schicksal, das es endlich gut mit Martin meinte und das dafür sorgte, dass ihm Hedwig Schmidt auf der Straße begegnete? Die alte Dame, die in dem jungen Mann nicht nur das Nachbarskind von damals erkannte, sondern die ihm auch sagen konnte, wohin seine Mutter, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen wurde gezogen war.
Dort, wo sie noch immer wohnte und wo sich noch am selben Tag, als Martin mit zitternder Hand auf den Klingelknopf drückte die Wohnungstür langsam öffnete und ihm, nach einem kurzen Augenblick des Schweigens eine kleine, von der Vergangenheit gezeichnete Frau, die ihren damals entführten Sohn erkannte mit Freudentränen und einem lauten Aufschrei um den Hals fiel.
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Martin und seine Mutter verbrachten den ganzen Tag miteinander. Stunden, in denen sie sich aus unbändiger Freude, sich endlich wieder gefunden zu haben immer wieder innig umarmten, miteinander weinten und lachten. Aber auch Stunden, in denen Martin, als er seine eigene Geschichte erzählt hatte, von seiner Mutter erfuhr, was damals geschehen war.
Unter Tränen erzählte sie ihrem Sohn von ihrer damals heimlichen Liebe. Von dem Mann aus Wien, den sie, nachdem Martins Vater einige Jahre zuvor an Krebs gestorben war, während einer Führung durch den Dresdner Zwinger kennen gelernt hatte. Eine Liebe, die aus wenigen heimlichen Treffen und einer großen Menge an Briefen bestand. Briefe, die der damals jungen Frau, die ihrem Liebsten immer wieder schrieb, wie gern sie sofort zu ihm kommen würde und dass es nichts gäbe, das ihre Liebe zu ihm aufhalten könne zum Verhängnis wurden. Denn die Staatssicherheit, die jeden Brief kontrollierte, der die DDR ins kapitalistische Ausland verließ oder aus diesem kam, sah in diesen, von Herzschmerz gezeichneten Worten nur eines. Und das war die Ankündigung einer geplanten Flucht in den Westen. Der Grund, warum man die junge Frau von der Straße weg verhaftete, ihr den Sohn entriss und zur Zwangsadoption frei gab und sie wegen der Vorbereitung eines ungesetzlichen Grenzübertritts zu einer Haftstrafe von 15 Monaten verurteilte.
Eine Haftzeit allerdings, zu der sich noch eine weitere gesellen sollte. Als die junge Frau,  nach ihre Entlassung aus dem Gefängnis damit begann, ihren Sohn zu suchen. Als sie von dessen Zwangsadoption erfuhr und als sie, nachdem auf all ihre Briefe an die dafür zuständigen Behörden, auf all ihre Briefe, die sie an den Staatsrat schrieb keine Antwort kam, anfing, diesen Staat, der ihr das Kind genommen hatte, öffentlich anzuklagen. Eine Anklage, die die junge Mutter wegen des Tatbestandes der Staatsverleumdung und des Widerstandes gegen staatliche Maßnahme, denn sie wehrte sich gegen ihre erneute Verhaftung, für weitere drei Jahre ins Gefängnis brachte.
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Martin und seine Mutter hatten nicht nur das seltenen Glück, diese schreckliche Zeit zu überstehen, sondern auch das Glück, sich wieder zu finden. Doch wie viele andere Kinder suchen noch heute nach Ihren wahren Eltern? Wie viele andere Mütter und Väter nach ihren Kindern? Wie viele Menschen werden, nachdem dieser unmenschliche Staat sie zerriss, ihre wahren Familien nie wieder sehen?
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von Martin erzählt.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.