Ein ungewöhnliches Mitglied der chinesischen Mittelschicht ist er. Mit Anfang zwanzig kam er aus der nordöstlichen Provinz Heilongjiang 黑龙江 nach Peking. Was er genau machen wollte, wusste er damals noch nicht. Ein sonderlich guter Schüler war Xiao Bo nie, aber er hatte schon immer eine künstlerische Ader und er ist ein Kerl, wie ein Baum.
Die japanische Tättowierkunst hat ihn schon immer interessiert. So kam es, dass er als Lehrling in einem Tattoladen in Peking anheuerte. Von Mittags, bis in die frühen Morgenstunden, assistierte er seinem Meister im Geschäft, räumte auf, machte sauber, schaute beim Tättowieren zu, und erledigte allerhand Besorgungen und andere alltägliche Notwendigkeiten. In dieser Zeit entstanden auch die ersten Kunstwerke auf seinem eigenen Körper. Langsam erlernte er das Handwerk selbst.
Der nächste Karriereschritt kam für Xiao Bo, als er den Posten als hauseigener Tättowierer in einem Frisörladen annahm. In China findet man die Konstellation eines Frisörladens, der ein kleines Tattostudio angeschlossen hat, öfter. Der Traum vom eigenen Laden wurde für Xiao Bo mit Anfang dreißig wahr. Ein finanzkräftiger befreundeter Geschäftsmann, der auch ein Freund von Xiao Bos Kunst ist, ermöglichte Xiao Bo das eigene Studio. Es befindet sich in einem der pekinger Partyviertel, und ist in einem Gebäude mit einem Frisör und einem Kosmetik- und Massagestudio untergebracht. In Xiao Bos kleinem Studio stehen seine eigenen Gerätschaften, die Wände sind voll mit Photographien von Menschen, die seine Arbeit auf ihrer Haut tragen. Ebenfalls hängen an den Wänden gezeichnete Entwürfe von Xiao Bo, eine Staffelei, auf der er hin und wieder Gemälde anfertigt, steht im Raum. Die Wände sind neu gestrichen, Kakerlaken, die man an seiner früheren Arbeitsstätte manchmal sehen konnte, trifft man in Xiao Bos eigenem Studio keine.
Das gesellschaftliche Ansehen von Tättowierungen ist in China nicht das beste. Vergleichen könnte man es vielleicht mit dem Ansehen, das Tattoos vor wenigen Jahrzehnten auch noch in Deutschland hatten. Ihre Träger stigmatisieren sich selbst, durch das Tattoo; vor allem wenn es an einer offensichtlichen Stelle des Körpers platziert ist. Die Tradition des Tättowierens ist in China nicht so lange kultiviert, und als Kunstform gehegt, wie in Japan. Das Tragen eines Tattoos wird von einem Großteil der Chinesen als Anstößig empfunden, Xiao Bos Handwerk daher auch nur begrenzt als Kunst wahrgenommen. Dem Beispiel des deutschen Präsidenten zu folgen, und ein Tatto seiner Frau für „cool“ zu befinden, geschweigedenn überhaupt eine tättowierte Frau zu heiraten, ist heute für einen chinesischen Staatsmann undenkbar.
Trotz des problematischen Status’ von Tattoos in China geht es Xiao Bos Laden nicht schlecht. Seine Kunden sind chinesische Aussteiger, rebellische Jugendliche und die Künstler, die in den umliegenden Clubs zu den prägenden Figuren des Nachtlebens zählen. Natürlich sind auch einige Ausländer aus aller Welt unter Xiao Bos Kunden und Freunden. Zwei Auszubildende hat Xiao Bo. Sie sind jugendliche Aussteiger aus Südchina, denen das Leben in ihrer Heimat zu viel wurde. Mit leeren Händen sind sie nach Peking gekommen, als Schulversager. Auch ihren Lebensmittelpunkt bildet jetzt Xiao Bos Laden. Xiao Bo, der mit seinen bekannten einen sehr kumpelhaften, lockeren Umgang pflegt, reden sie respektvoll mit „Meister“ an. Für sie ist er, so schwer es auch für die meisten Menschen in China vorzustellen sein muss, ein Vorbild. Sie bleiben, auch wenn sie nichts mehr zu tun haben, oft noch bis in die frühen Morgenstunden, wenn der Meister noch einen Kunden zu stechen hat, und schauen zu, um daraufhin in ihre ärmlichen Wohnungen, im Südteil der Stadt, zurückzukehren. Xiao Bo lässt sich bei der Arbeit gerne auf die Finger schauen. So kann man auf seinem Sofa Platz nehmen und dem surrenden Geräusch von Xiao Bos Nadel lauschen, während dieser sich in der Haut seiner Kunden verewigt.
Mittlerweile ist Xiao Bo mitte dreißig und ein recht gut situierter Mann. Er fährt einen VW Jetta, und lebt mit seiner ebenfalls aus Heilongjiang stammenden Frau, seiner Jugendliebe, und seinen Eltern unter einem Dach. Einen Sohn im Grundschulalter haben Xiao Bo und seine Frau auch. Sie leben unweit des Tattoostudios in einer guten Gegend, und bewohnen eine für pekinger Verhältnisse sehr geräumige Dreizimmerwohnung. Xiao Bo ist der Ernährer der Familie. Die Wohnung ist gemütlich eingerichtet, auch wenn der große Fernseher im Wohnzimmer fast ununterbrochen läuft. Am Eingang grüßt ein daoistischer Schrein, des legendären Generals Guan Gong 关公 aus der Drei-Reiche-Zeit. Die goldfarbene Statue steht auf einem kleinen Tisch, und ist etwa einen guten halben Meter hoch. Xiao Bos Vater, der den Schrein nutzt, pflegt ihn gut, und hält ihn, zumidest wenn Gäste im Haus sind, immer mit Räucherstäbchen bestückt. Die Wohnung ist ansonsten sauber, doch es herrscht eine Art „kreatives Chaos“, und Xiao Bo tobt sich, wenn er die Zeit hat, auch gerne in der Küche kreativ aus. Er ist ein exzellenter Koch.
In seinem Handwerk hat Xiao Bo sein Glück gefunden. Seinen Sohn erzieht Xiao Bo traditionell konfuzianisch, was bedeutet, dass die schulischen Leistungen und der Arbeitswille über allem stehen. Auf gute Schulbildung legt beim Sohn auch seine Frau sehr viel Wert. Seine Eltern mögen es vielleicht nicht ganz verstehen, dass mittlerweile Tättowierungen von befreundeten Künstlern aus ganz China weite Teile von Xiao Bos Körper zieren. Auch sein Beruf an sich mag auf sie etwas befremdlich wirken, aber sie sind stolz auf ihn. Xiao Bo hat den chinesischen Traum vom kleinen Wohlstand in der Großstadt auf einem sehr unkonventionellen Weg erreicht.