Annäherung und Praxis
Wie nähert man sich nun durch Praxis diesem Zyklus an? Die Übertragung des Zyklus Khandro Thugthig beginnt mit der Einweihung (wang), gefolgt von der gelesenen Textübertragung (lung) und den Praxisanweisungen (tri). Diese drei Schritte sind an sich für eine segensreiche und erfolgreiche Praxis wichtig. In Ausnahmefällen, wenn kein Lama für eine Übertragung anwesend ist, kann man wie auch in anderen Linien praktiziert, die sogenannte “Dakini-Übertragung” (siehe Karma Chagme’s Richö, Vol. 2) heranziehen oder einfach in Vertrauen auf Khandro Thugthig mit den grundlegenden Praktiken der ersten Mahayoga-Stufe beginnen und die Ermächtigung zu gegebenem Zeitpunkt nachholen.
Nachdem man die mündlichen Anweisungen zu den grundlegenden Übungen erhalten hat, praktiziert man davon jeden Abschnitt 100.000 Mal, wobei aber zusätzlich je 10.000 Mal für etwaige Auslassungen, Mängel etc. angesammelt werden. Dafür braucht man jedoch nicht speziell zählen, da sich das aus der Gestaltung der Mala (Gebetsschnur) ergibt, die ja meist 108 Perlen plus drei Abschnittskugeln umfasst. Das Mantra für des Guru-Yoga wird allerdings zehnmal so oft angesammelt wie die anderen, also 1.000.000 (plus 10% wegen Auslassungen). Hat man allerdings schon ein Ngöndro vorher vollständig angesammelt, dann kann man bei gleicher Linie (Nyingma) auch nur 10% der erforderlichen Anzahl ansammeln oder bei anderer Linie 25% – 30%. Allerdings ist man aufgefordert, die grundlegenden Übungen weiterhin täglich in kleiner Anzahl zu praktizieren. Kann man keine Niederwerfungen machen, dann kann man sich auch durch Umkreisungen ersetzen, wobei hier allerdings nicht die Rezitationen sondern die Umkreisungen gezählt werden.
Nachdem man das Ngöndro abgeschlossen hat, praktiziert man es in kleiner Anzahl einfach weiter und konzentriert sich auf die Praxis des Yidam. Generell wird die Praxis des Yidam im geschlossenen Retreat durchgeführt, wobei auch hier spezielle Anweisungen von einem qualifizierten Lehrer zu erbeten sind. Als ergänzende Praktiken in diesem Retreat kann man neben dem Ngondro auch noch Chöd, Phowa und Torma-Opfer an die Schützer ausführen, zusätzlich zum Festopfer (Ganachakra), das entweder täglich oder zumindest zu den Festtagen (8., 10., 15., 25. Tag des Mondmonats) zelebriert wird. Das Retreat teilt man entweder zumindest in vier Sitzungen ein. Weitere detaillierte Instruktionen und ggf. zusätzliche Praktiken sind mit dem jeweiligen Lehrer zu erörtern. Die Anzahl der Ansammlungen liegt hier zwischen 400.000 bis 1.500.000 Mantra-Wiederholungen, wobei auch hier detaillierte Anweisungen des Lehrers notwendig sind. Allerdings kann muss man nicht unbedingt die Annäherung, Vollendung und Aktivität auf eine bestimmte Mantra-Anzahl praktizieren, allerdings sollte man dann eine Verpflichtung auf Zeit eingehen, wobei auch hier eine Zeit von zumindest zwei bis drei Monaten zu veranschlagen ist. Ist das aufgrund der Lebensumstände nicht möglich, kann man natürlich auch die gesamte Yidam-Praxis ohne Zurückziehung praktizieren und den täglichen Pflichten folgen. Jedoch muss dann hier eine viel größere Mantra-Ansammlung bzw. Praxiszeit berücksichtigt werden. Das Ende der Yidam-Praxis kennzeichnet eine Feuer-Puja, bei der der Vajra-Meister mit dem Schüler, der Schülerin die in der Praxis entstandenen Fehler bereinigt.
Nach erfolgreichem Abschluss der Yidam-Praxis wendet man sich der Praxis des Anuyoga zu und erbittet die Belehrungen und konkreten Anweisungen für die gymnastischen Übungen (trulkhor) und die Praxis des inneren Feuers. Nach den Tsalung-Übungen werden unter Anleitung des Lehrers die weiteren Yogas praktiziert, bis ausreichende Realisation und Verwirklichung entstanden ist.
Dem folgend erbittet man die Einführung in die Natur des Geistes und praktiziert Trekchö und Tögal.
Ansammlung und Vollendung
Wie schon die großen Meister der Vergangenheit, die Mahasiddhas, Yogis und Yoginis es vorgezeigt haben, kann durch Hingabe und Vertrauen, durch rechtes Streben und Fleiß durch diese Praktiken in einer einzigen Lebensspanne Befreiung erlangt werden. Sollte das jedoch nicht möglich sein, dann realisiert man zumindest zum Zeitpunkt des Todes den Zustand des Klar-Lichts – der Natur des Geistes. Ist auch das aufgrund von Mängeln in der Praxis nicht möglich, dann erkennt man zumindest im Zwischenzustand die auftauchenden Erscheinungen als Projektionen des eigenen Geistes. Hat man zwar praktiziert, aber doch nur gering angesammelt und fehlt es einem daher an der nötigen Fähigkeit, dann kann wenigstens eine günstige Wiedergeburt erlangen.
Für manche mag das Praktizieren eines solchen Zyklus eine schier unvorstellbare Praxis erscheinen, doch es erinnern wir uns an die Worte des Buddha: “Es ist nicht der erste Tropfen und es ist nicht der letzte Tropfen, der ein Fass anfüllt”. So manch ein Praktizierender wird vielleicht auch wirklich nicht die ausgezeichneten Umstände für das Durchführen eines Retreats vorfinden oder sogar mehrfach auf Hindernisse stoßen. Jedoch all das gehört in die Praxis gebracht. Gerade dadurch erwächst die Kraft der Praxis. Natürlich sind die oben genannten Zahlen und Zeiten gute Richtwerte und beruhen auf Erfahrungen der Tradition. Allerdings soll man sich davon nicht abschrecken lassen, sondern frohen Mutes diese Übertragung erbitten und sich nach Hören und Nachdenken an die Verinnerlichung der Lehren machen. Auch wenn vielleicht weder die genannte Anzahl, noch die erforderliche Zeit praktiziert wurde, dann ist zumindest der karmische Same gelegt. Ist jedoch aufgrund von Entmutigung nicht einmal der karmische Same gelegt, wie wird man jemals wieder auf solch kostbare Praktiken treffen?
Um diesen Überblick mit den Worten von Lama Tharchin Rinpoche zu vollenden: “In Übereinstimmung mit diesen Anweisungen bemühe dich in der Praxis jeder der grundlegenden Stufe der Ansammlung und Reinigung bis sie wirklich erfahren worden ist. Besonders wenn du Sicherheit hast, dass das Guru-Yoga die einzige außergewöhnliche tiefgründige Essenz des Vajrayana-Pfades ist, dann hast du die Lebenskraft aller Praktiken in den Hauptpraktiken eingefangen. Durch das Praktizieren mit großem Fleiß, durch die Macht des geschwind übertragenen Segens, gibt es keinen Zweifel, dass du einfach die zwei Arten der Verwirklichungen erlangen wirst.” In diesem Sinne möge diese Darstellung eine Inspiration für Praktizierende speziell für das Khandro Thugthig sein und allgemein für jegliche Praxis, die sie ausführen. Mögen alle dadurch im Leben einen wahren Lehrer erkennen, den Segen der Dakini empfangen und so unvergleichliche Befreiung jenseits von Worten und Vorstellungen realisieren.