Das aktuelle Buch des Autoren von »Drachenläufer« und »Tausend strahlende Sonnen« ist europäischer geworden als die beiden vorherigen Romane. Doch das muss nicht unbedingt zum Nachteil sein.
Ich gebe zu: anfangs war ich etwas irritiert darüber, dass das neue Buch nicht in der Tradition des »Magischen Realismus« steht. Der Erzähltradition, die das real Erlebte mit zauberhaften Elementen verwebt und so einen ganz eigenen Stil entwickelte. Diese - wenn immer auch geringen - Anteile waren in Husseini’s ersten beiden Büchern noch vorhanden; im Traumsammler fehlen sie - trotz des Buchtitels - hingegen völlig.
Aber der Roman spielt ja auch nicht nur in Afghanistan; sondern ebenso im französischen Paris und im Westen der USA. Vielleicht macht schon die (beschriebene) Umgebung den Zauber unmöglich, dem man häufiger begegnet in Romanen aus Indien, Pakistan und eben auch Afghanistan. Möglicherweise eint die Literatur dieser Weltgegend, dass häufig Farsi (Persisch) gesprochen und geschrieben wird - eine Sprache, deren lyrischer Zauber einfach dafür prädestiniert ist, »zauberhafte« Geschichten zu erzählen.
Khaled Hosseini erzählt auf 441 Seiten die Geschichte eines Geschwisterpaares, das als Kinder auseinander gerissen wurde. Über viele Nebenstränge, die sich anfangs dem Leser kaum erschließen, wird nicht nur die Geschichte dieses Paares erzählt, sondern auch die Geschichte des Landes Afghanistan. Und - anders und weitreichender als in seinen beiden ersten Büchern - auch die Geschichte des vielgeschundenen Landes aus einer westlichen Sicht. Das allein macht dieses Buch schon äußerst lesenswert. So wie uns die Bücher von Arundhati Roy etwas darüber erzählen, wie sich der »Westen« im Leben Indiens widerspiegelt, zeigt der Traumsammler, welche Auswirkungen die ewigen Kriege in Afghanistan spielen. Es beginnt mit den Mudschahidin, die - noch als Freiheitskämpfer - gegen die sowjetische Armee kämpften, führt zu den Taliban, die das Land terroriesier(t)en mit ihrem fundamentalistischen Islam… und lässt die Warlords nicht aus, die mit Drogenhandel Millionen verdienen. Um diese geschichtlichen Vorgänge (von denen man beim lesen des Buches zumindest eine Ahnung haben sollte) herum gruppieren sich die Figuren des Buches. Und ihre Leben stehen für das Tausender.
Der Roman berichtet vorrangig von den einfachen Menschen, die - wie immer - die Leidtragenden dieser wohl nie zur Ruhe kommenden Konflikte sind. Doch auch denen, die helfen wollen, das Leid zu mindern, wird mit dem Buch ein Denkmal gesetzt. Ohne sie zu erwähnen wird den »Ärzten ohne Grenzen« mit diesem Buch gedankt.
Im Klappentexte heißt es:
Vor dem Hintergrund der afghanischen Tragödie schildert Khaled Hosseini [die] Geschichte [der Geschwister]. Mit tiefem menschlichen Empfinden erzählt er, welche ungeahnten Geschehnisse die Trennung der beiden Geschwister in Gang setzt - und wie sie in die Leben anderer auf der ganzen Welt nachhallt.
Das klingt leider ziemlich nichts sagend und man ahnt nicht, welche Verquickungen sich im Laufe des Romans ergeben. Und wie viele davon zum Ende hin (das ich hier ganz sicher nicht verraten werde) sich auflösen.
Wir alle wirken auf das Leben anderer Menschen ein - durch jedes Gespräch, durch eine Mail; sogar durch jedes Buch, das wir lesen. Ob jedoch dieses Wirken auf andere auch je als Echo zu uns zurückkehrt - das ist nie gewiss. Und so ist der englische Originaltitel des Buches »And the Mountains Echoed« besser als es der deutsche ist (und nur wer weiß, was ein Traumfänger ist, kann den »Traumsammler« assoziieren). Denn die Leben der Beteiligten sind immer auch Echo der jeweils anderen; selbst über Kontinente verteilt.
Nic
Khaled Hosseini: Traumsammler, S. Fischer 2013, ISNB 3100329104, 19,99 EuroDas Buch bei Amazon
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